Ein Holländer in New York

27.02.2013
Ein ganz besonderer Kinderroman: Nicht nur Zeit und Ort der Handlung - New York 1943 - fallen aus dem Rahmen des Gewohnten, auch die Begegnung des 13-jährigen Linus mit dem alten Maler Piet Mondrian ist faszinierend erzählt. "Apfelsinen für Mister Orange" öffnet Augen, Ohren und Herz.
New York, September 1943. Es herrscht Aufbruchsstimmung. Soldaten marschieren auf der 5th Avenue, kleine Jungen schwenken begeistert Fähnchen.

Mitten durch dieses turbulente Treiben schiebt der 13-jährige Linus seinen Obst- und Gemüsekarren. Jeden Nachmittag beliefert er Restaurants und Privatleute mit Waren aus dem Laden seiner Eltern. Die Einwandererfamilie hat sechs Kinder, sie lebt auf engstem Raum an der Upper East Side. Man ist nicht arm, muss aber kämpfen. Der Vater redet wenig, die Mutter führt ein strenges Regiment und Albert, der Älteste, zieht mit 18 Jahren in den Krieg gegen Hitler.

Seit Albert weg ist, gehört Linus zu den "Großen" in der Familie. Es kommen ganz neue Herausforderungen auf ihn zu. Nicht nur die anstrengende Arbeit, sondern auch die Angst um den großen Bruder. Linus erfindet sich einen Fantasie-Freund, einen Superman, der ihm in schwierigen Situationen zur Seite steht. Doch auch der kann den Jungen nicht wirklich beschützen.

In dieser Zeit des Umbruchs lernt Linus einen Künstler kennen und damit eine ganz neue Welt. Da er sich dessen Namen nicht merken kann, nennt er ihn "Mister Orange". Der Maler – es ist Piet Mondrian – zeigt Linus nicht nur sein helles Atelier und seine geometrischen, bunten Bilder. Er redet auch mit ihm über die Fantasie und die Realität, über Krieg und Frieden, über Kunst und Kampf.

Truus Matti zeichnet ein sehr sympathisches und sensibles Portrait des großen abstrakten Künstlers. Für ihn ist seine Malerei ein ernsthaftes Spiel, seine Bilder tragen die "Farben der Zukunft". Robust und zerbrechlich zugleich entwirft Mr. Orange für Linus seine Vision einer besseren Welt. Bei der Entstehung des berühmten, unvollendeten "Victory Boogie Woogie" ist Linus quasi Zuschauer – und mit ihm der Leser.

Linus’ Geschichte ist ähnlich strukturiert wie Piet Mondrians Bilder: Klar aufgebaut, knapp und lakonisch erzählt, in lebhaften, leuchtenden Farben, durch die sich schwarze Linien ziehen. Jedoch nicht abstrakt, sondern menschlich warm und sehr sinnlich: Der Duft der Orangen, die fröhlichen Farben und Formen von Mr. Oranges Kunst und der Rhythmus der Boogie-Woogie-Musik, die Linus bei dem Künstler kennen lernt – sie machen neugierig und öffnen Augen, Ohren und Herz.

"Apfelsinen für Mister Orange" ist ein ganz besonderer Kinderroman. Nicht nur Zeit und Ort der Handlung fallen aus dem Rahmen des Gewohnten, auch die Begegnung des Jungen mit dem alten Künstler ist faszinierend. Für Linus, dem sich der Horizont mit einem Schlag weitet, für den kranken Maler, der seine Ideen weiter geben darf und auch für die jungen Leser und Leserinnen. Selbst dann, wenn sie nicht jedes Gespräch und jeden Gedanken verstehen, werden sie spüren, was wirklich wichtig ist, in der Kunst, im Leben und auch in der Literatur: Glaubwürdigkeit, Klarheit und Authentizität. Piet Mondrians Bilder, Truus Mattis Roman und Verena Kiefers Übersetzung belegen das aufs Schönste.

Besprochen von Sylvia Schwab

Truus Matti: Apfelsinen für Mister Orange
Aus dem Niederländischen von Verena Kiefer
Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2013
174 Seiten, 12,95 Euro
Ab 10 Jahren