Ein Hoch auf die Gemeinschaft

Rezensiert von Julia Friedrichs · 13.01.2013
Desillusionierend beginnt das Buch des Soziologen Richard Sennet. Der Gemeinschaftssinn sei in unserer Arbeitswelt verloren gegangen, dabei seien Hilfsbereitschaft und gegenseitige Unterstützung doch viel erstrebenswerter als Profit und Leistungsdenken. Die Hoffnung auf einen Wandel hat der Autor aber noch nicht aufgegeben.
Ein Schulhof in London. "Fickt Euch – Wir hassen, was Ihr macht": Der Titel von Lilly Allen dröhnt aus der Lautsprecheranlage, die ein Schüler gekapert hat. Die Schule liegt in einer Gegend, in der verschiedene Religionen, Reiche und Arme, Einwanderer und Alt-Engländer zusammenleben. Häufig kommt es hier zu Gewalt.

Sein Enkel besucht diese Schule. Und der Star-Soziologe Richard Sennett wählt diesen Song, der über den Schulhof hallt, als Auftakt des zweiten Bandes seiner – wie er es nennt – "Homo Faber"-Trilogie.

In "Zusammenhalt" will er ausloten, wie der Mensch sein Leben und sich selbst durch praktisches Handeln erschafft. Nach einem Buch über die Kunst des Handwerkes schreibt er nun über das Auseinanderdriften der Menschen, die eigentlich als Gemeinschaft, als Gesellschaft zusammenstehen müssten.

Das "Fuck you" aus der Lautsprecheranlage ist in seinen Augen mehr als ein Schülerstreich. Es ist ihm Indiz für eine "Wir-gegen-sie"-Haltung. Für ihn eines der zentralen Probleme der Gesellschaft in den meisten westlichen Staaten. Er nennt diese Haltung: Tribalismus.

"Tribalismus verbindet Solidarität gegenüber solchen, die einem ähnlich sind, mit Aggressionen gegen solche, die anders sind. Die moderne Gesellschaft hat einen neuartigen Charaktertyp hervorgebracht – einen Menschen, der darauf bedacht ist, die Ängste zu verringern, die durch Unterschiede ausgelöst werden können, ob sie nun politischer, rassischer, religiöser, ethnischer oder erotischer Natur sind."

Kurz: Der moderne Mensch rottet sich mit Gleichen zusammen. Und schaufelt tiefe Gräben, die ihn von allen, die er ablehnt, trennen sollen. Ein Grund für diesen Tribalismus sei, so schreibt Sennett, die steigende Ungleichheit von Besitz und Einkommen. Aus ihr werde im Alltag schnell soziale Distanz. Zudem seien wir mehr und mehr zum flexiblen Menschen erzogen worden. Auch das schwäche den Zusammenhalt.

"In der modernen Familie und mehr noch im modernen Geschäftsleben hat die Idee der Selbstbeherrschung eine Erweiterung erfahren. Abhängigkeit gilt dort als Zeichen von Schwäche. Doch aus der Sicht anderer Kulturen erscheint ein Mensch, der stolz darauf ist, andere nicht um Hilfe zu bitten, als eine zutiefst geschädigte Person, weil die Angst vor sozialer Einbindung sein Leben beherrscht. Der moderne Kapitalismus hat Konkurrenz und Kooperation aus dem Gleichgewicht gebracht."

Das ist, zumindest in seinen Augen, dumm und schade. Richard Sennett, der lange Profi-Cellist war, beschreibt wie beglückend es ist, wenn man beim Proben erspürt, dass die anderen helfen, den Sinn der Musik besser und besser zu verstehen. Der Mensch, der nur konkurriere, bleibe unter seinen Möglichkeiten.

Ausschweifend durch Jahrhunderte und Kulturen flanierend, beeindruckt der Autor immer dann, wenn er konkret von seinen Feldforschungen berichtet, die er seit vierzig Jahren durchführt und die ihm helfen, genau zu belegen, wie der gesellschaftliche Zusammenhalt schwindet.

In den 1970er Jahren hat er Bostoner Arbeiterfamilien befragt. Damals stieß er auf etwas, dass er "soziales Dreieck" taufte.

"Auf einer Seite zollten Arbeiter anständigen Vorgesetzten widerwilligen Respekt, die ihrerseits zuverlässigen Beschäftigten widerwilligen Respekt bezeugten. Auf einer zweiten Seite redeten Arbeiter untereinander offen über ihre Probleme und schirmten Kollegen, die in Schwierigkeiten waren, am Arbeitsplatz ab, ob es sich beim Problem nun um einen Kater oder eine Scheidung handelte. Auf der dritten Seite sprangen Beschäftigte ein und leisteten Überstunden oder übernahmen die Arbeit von Kollegen, wenn etwas in der Werkstatt vollkommen schief lief."

Fast vierzig Jahre später interviewte Richard Sennett wieder Arbeitnehmer. Diesmal hoch gebildete, die während der Finanzkrise 2008 ihre Jobs verloren hatten. Sie hatten viel in ihren Beruf investiert, erst eine aufwendige Ausbildung, dann extrem lange Arbeitszeiten auf sich genommen.

"Im Rückblick empfinden sie einige Bitterkeit, weil sie sich darauf eingelassen haben, das Spiel der Finanzbranche nach deren Bedingungen zu spielen. Sie haben inzwischen erkannt, wie wenig Achtung sie für ihre früheren Chefs empfanden, welchen oberflächlichen Charakter ihr Vertrauen zu den Arbeitskollegen hatte und vor allem wie schwach die Kooperation innerhalb der Branche vor dem Ausbruch der Krise ausgeprägt war. So kann es denn nicht überraschen, dass im Bereich der Finanzdienstleistungen das soziale Dreieck zerbrochen ist, und zwar in dramatischer Weise."

Er führte die Interviews mit den Ex-Bankern in einem Arbeitslosenzentrum in Lower Manhattan, hörte genau zu und begründet mit dem, was sie ihm erzählen, die These seines Buches. Und den Leser lässt er so an seinem sorgfältigen, genauen Arbeiten teilhaben.

Kurzfristiges Denken sei das Ideal der Finanzbranche, einer Branche, die ihren Takt der gesamten Wirtschaft vorgibt. Kontinuität gelte hier als Stigma, behauptet er und zitiert einen Personalleiter:
"Wenn ich sehe, dass jemand schon fünf oder sechs Jahre auf demselben Arbeitsplatz ist, stelle ich Fragen."

Diese Kurzatmigkeit, argumentiert Richard Sennett, wirke wie eine Säure, die Autorität, Vertrauen und Kooperation auflöse.
Wenn er seine Sehnsucht nach Stabilität und Sicherheit beschreibt, wirkt er nostalgisch. Aber angenehm nostalgisch, da er nie den neugierigen, suchenden Blick verliert, den er sich auch nach Jahrzehnten soziologischer Feldforschung bewahrt zu haben scheint.

Es gelingt Richard Sennett auf 400 Seiten aus der Traurigkeit über das, was verloren gegangen ist, eine überraschende Zuversicht zu entwickeln. Zusammenarbeit, gesellschaftlicher Zusammenhalt seien derart erstrebenswert, dass der Mensch sich mit ganzer Kraft darum mühen sollte. Und so schließt der Soziologe mit einer schlichten Hoffnung.

"Wir möchten gemeinsam etwas zustande bringen. Das ist der einfache Schluss, zu dem der Leser, wie ich hoffe, nach dieser komplexen Studie gelangen wird."

Richard Sennett: "Zusammenarbeit, Was unsere Gesellschaft zusammenhält"
Übersetzt aus dem Englischen von Michael Bischoff
Verlag Hanser Berlin 2012

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Kooperation ist mehr als Arbeitsteilung - Der Soziologe Richard Sennett über moderne Formen der Zusammenarbeit
Cover: "Zusammenarbeit: Was unsere Gesellschaft zusammenhält" von Richard Sennett und Michael Bischoff
Cover: "Zusammenarbeit, Was unsere Gesellschaft zusammenhält" von Richard Sennett© Verlag: Hanser Berlin
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