Ein Haufen Literatur

Von Jantje Hannover · 05.11.2007
Romane, Sach- und Schulbücher - nach der Wende landete viel DDR-Literatur einfach auf dem Müll. Sie galt als unverkäuflich. Als der evangelische Pfarrer Martin Weskott davon erfuhr, beschloss er, die Bücher zu retten. In seiner Gemeinde im niedersächsischen Katlenburg am Rande des Harzes werden die Werke gegen eine Spende an "Brot für die Welt" abgegeben.
"Morgen, Herr Lüer!"

"Morgen, Herr Weskott! Richtig frostig heute morgen, als wenn es schon Frost gegeben hat, wunderschöner Sternenhimmel."

Es ist sechs Uhr morgens. Rolf Lüer, ehemaliger Speditions- und Versicherungskaufmann, heute verrentet, begleitet Martin Weskott auf seiner Fahrt nach Leipzig und Dresden. Dort wollen sie die aussortierten Bücher von zwei Antiquariaten abholen, außerdem die Rezensionsexemplare einer Lokalzeitung. Zum Schluss geht es noch zu einem Privatmann aus Dresden, der 20 Bananenkisten voller Bücher im Bekanntenkreis eingesammelt hat.

Weskott und Lüer sind ein eingeschworenes Team. An die 100 Bücherfahrten haben sie schon gemeinsam unternommen. Heute führt die Reise ganz in die Nähe der Stelle, wo vor 16 Jahre alles anfing. Damals, im Mai 1991, entdeckte Martin Weskott ein Foto in der "Süddeutschen Zeitung". Es zeigte ein Müllhalde in Plottendorf bei Leipzig, auf der Tausende frisch gedruckter Bücher vor sich hinschimmelten:

"Wir sind hingefahren und die Bücher lagen da wie vom Miststreuer ausgespuckt unter freiem Himmel, ein Band von Heinrich Mann lag im Gebüsch, der war nicht mehr zu benutzen: ’Im Schlaraffenland’. Wir haben dann bemerkt, dass unter dem Schimmel noch Bände waren, die noch gut weitergegeben werden konnten, die also nicht vom Zahn der Zeit angenagt waren."

Eine Kulturschande, befand der Pfarrer aus Katlenburg, und schritt zur Tat. Seine Gemeinde liegt im ehemaligen Zonenrandgebiet in Niedersachsen, etwa 25 Kilometer vor der thüringischen Grenze.
"Hier rechts ist jetzt der kleine Bach, da war dann der Grenzverlauf, und dort, wo wir die Laterne sehen, 50 Meter dahinter war der Grenzzaun und die Mauer."

Der gute alte Kirchenbus von damals tut heute immer noch seine Dienste. Zwinge heißt der erste Ort in Thüringen, eng stehen die Häuser an der schmalen Landstraße. Ein bisschen sieht es noch aus wie kurz nach der Wende. Nur das Scheinwerferlicht des Kirchenbuses erhellt die dunklen Gemäuer.

"Nach 1989 stand dann hier so ein Container, da war so eine Art Feldweg präpariert, da war die Möglichkeit, das hier provisorisch als Grenzübergang zu nutzen."

Anfang der Neunziger waren die Fahrten beschwerlicher, die Straßen in schlechtem Zustand. Die Neu-Bundesbürger nutzten ihre Bewegungsfreiheit weidlich aus, die Straßen waren voll, für die 220 Kilometer nach Leipzig brauchten Weskott und Lüer manchmal sechs Stunden.

"Da sind wir teilweise um vier Uhr losgefahren, in aller Herrgottsfrühe, weil ich mir gesagt habe: Was dort in der DDR passiert kann ja nicht sein, 1933 wurden die Bücher verbrannt, und 50 bis 60 Jahre später wurden sie auf eine Weise entsorgt, dass man sie auf Müllhalden gebracht hat, da lieg ich mit Herrn Weskott auf einer Welle, dass man das nicht geschehen lassen konnte. Wir sind anfangs mit dem Kirchenbus losgefahren, und dann haben wir gesehen, wieviele Bücher dort lagen, dann haben wir einen Anhänger mitgenommen, so wie wir heute den Anhänger hinter uns gehängt haben, aber das hat irgendwann nicht mehr gereicht, es wurden immer mehr Bücher, so dass wir teilweise mit zwei Lkws losgefahren sind."

Die Volksbank und der Getränkehändler im Ort stellten ihre Lkw zur Verfügung. Weitere Gemeindemitglieder begaben sich mit Weskott auf die Tour.

Auch heute führt die Strecke am Rande des Harz entlang, durch Rhumspringe, Hilkerode, Weissenborn-Lüderode, rechterhand liegt das Eichsfeld, ebenfalls ein deutsches Mittelgebirge. Langsam setzt die Morgendämmerung ein, Nebel steigt aus den Tälern auf, am Horizont zeichnen sich regelmäßige dreieckige Berge ab.

"Jetzt kommen wir nach Bleicherode, Bleicherode, hatte auch einen Kalischacht, überall sehen wir die Zipfel, das sind Halden, wo Schächte gewesen sind. Der Kalischacht ist, wie in Bischeroferode, trotz Protest der Bevölkerung und derjenigen, die dort gearbeitet haben, stillgelegt worden."

Bischofferode liegt ebenfalls an der Strecke von Katlenburg nach Leipzig. Martin Weskott schenkt sich eine Tasse Tee aus der mitgebrachten Thermoskanne ein, während er den Kirchenbus über ein paar Bodenwellen steuert. Der 55-Jährige trägt eine flache Baskenmütze und einen graumelierten Rauschebart. Auf der Hinterbank stapeln sich Decken und Bücher, zwischen den Vordersitzen türmen sich Plastikflaschen mit Wasser, seine alte Aktentasche steht halb geöffnet davor: Ein Wust aus fotokopierten Texten und in Alu eingepacktem Pausenbrot ist zu sehen.

Weskotts Kampf gegen die Wegwerfgesellschaft funktioniert nicht ohne Handy. Stets griffbereit liegt es im offenen Aschenbecher. Ab acht Uhr klingelt es regelmäßig

"Weskott, ja, da müssen Sie jetzt die Handynummer wählen."

Zwischen Steuerrad und Teetasse dirigiert Weskott die Angelegenheiten der Gemeinde. Schon seit dreißig Jahren arbeitet er in Katlenburg-Lindau als Pfarrer. Er war fasziniert von dem Jahrhunderte alten Gebäudekomplexe mit Scheune und Magazinhaus, der sich Burg nennt, aber die längste Zeit ein Kloster war. Dominiert wird das kleine Hochplateau von der Kirche, an der sich verschiedene Bauepochen ablesen lassen.
Gleich gegenüber der Kirche liegt das Magazinhaus. Jahrhunderte lang hat es als Lager gedient: Die längste Zeit für Getreide, seit kurzem lagert hier geistige Nahrung. Jeden Sonntag nach dem Gottesdienst öffnet es seine Pforten. Hier stapeln sich die viele tausend Bücher, die Weskott mit seinen Helfern eingesammelt hat. Auch die neuen aus Leipzig und Dresden werden hier ihren Platz und später vielleicht auch ihre Abnehmer finden. Zwei Räume liegen zu ebener Erde unter einem Gewölbedach, ein Raum ist über eine hölzerne Treppe im ersten Stock erreichbar. Rolf Lüer schließt um halbelf die Türen auf:

"”Im Moment ist es ruhig. Es ist Sonntag, die Leute schlafen etwas länger, gegen zwölf könnte sein, dass mehr Leute kommen, so ist es erfahrungsgemäß. Wo wir jetzt gerade reingehen das ist der erste Raum. Wir haben versucht, das einigermaßen nach Gebieten aufzuteilen: Geschichte, Politik, Reise, Romane. Aber sie sehen ja selbst, wie voll es hier ist.""

Wie groß diese Räume sind, lässt sich schwer sagen. Sie wirken sehr eng, denn sie sind über und über mit Büchern gefüllt. Wände sind nirgendwo zu sehen. Wenn ein Regal voll ist, werden die Bücher davor aufgestapelt. Und nicht jedes liegt so, dass man auf dem Rücken Autor und Titel lesen kann. Nicht wirklich ein Problem, findet Weskott:

"Da muss man ein bisschen Geduld haben, muss das dann eben nicht von unten nach oben sondern von oben nach unten abpacken und sichten, was dort zu finden ist. Es gibt Leute, die ganze Tage hier verbringen, eine Art Büchertage, und dann mit großen Stapeln nach Hause fahren."

Wie in einem Labyrinth bewegt sich der Besucher durch die schmalen Gänge und muss aufpassen, dass er nichts umreißt. Wie findet man etwas in solch einer Bibliothek, einen Thomas Mann zum Beispiel, Herr Lüer?

"In etwa dort in der Ecke liegt das, aber genauestens könnte ihnen das Herr Weskott sagen."

Der hat ein Gedächtnis wie ein Buch und kennt seine Bibliothek wie seine Westentasche.

"Hier sind jetzt Taschenbücher, das sind Exemplare, die alle nur einmal vorhanden sind, sowohl aus den Anfangsbeständen als auch Sachen, die dazugekommen sind, also Ost, West gemischt. Dann haben wir hier Bücher aus dem Reclam Verlag Leipzig und Aufbau Verlag, die nach der Wende erschienen sind. Dann geht es hier weiter mit Belletristik, Mehrfachexemplare, zum Beispiel ein Roman über die Sprengungen der Leipziger Universitätskirche, ’Keine Zeit für Beifall’ von Gabriele Herzog, Bücher von Stefan Heym, Franz Fühmann, Juri Bresser: ’Mein Stück Zeit’. Das haben wir auf dem Müll gefunden, das ist dann später wieder aufgelegt worden."

Die größten Renner unter den Werken vom Müll waren nicht die Schriftsteller der DDR, sondern die wissenschaftlichen Fachbücher. In der Bücherburg findet man sie auf dem Boden. Nicht nötig zu erwähnen, dass auf der Holztreppe neben den Bücherstapeln kaum Platz zum Hochsteigen bleibt. Oben ist es ein bisschen übersichtlicher. Physik, Chemie, Theologie steht mit Filzstift auf ein paar DinA4-Blätter geschrieben, die an der Wand kleben. Und, dass für ein Fachbuch mindestens vier Euro zu entrichten seien. Als Spende, erklärt Herr Lüer:

"Viele Akademiker haben uns hier besucht, eine Unmenge Studenten, die sich hier Bücher weggeholt haben, und die im großen und ganzen der Meinung waren, dass die Fachbücher aus der ehemaligen DDR zum Teil besser waren, als die aus den alten Ländern, die sind einfach klasse geschrieben, übersichtlicher und verständlicher."

Heute machen die Müllbücher nur noch den kleineren Teil des Bestands aus. Der Bücherpfarrer ist so bekannt geworden, dass er von Verlagen und Antiquariaten direkt angesprochen wird, wenn sie unverkäufliche Werke loswerden wollen. Dazu kommen die aussortierten Bestände von Privatpersonen.

"Da sieht man, wie sich das Spektrum erweitert hat, jetzt hier Reinhold Messner, ’Berg heil’, ’Heil dem Berg’, ’Rettet die Alpen’, das ist im Zeitraum Ende der Neunziger erschienen."

Weskott war schon immer ein begeisterter Leser. Denn Literatur beschäftigt sich oft mit dem Seelenleben des Menschen. Bei Martin Weskott findet Literarisches daher Platz in seinen Predigten:

"Die zunehmende Unfähigkeit, sich zu öffnen, das wachsende Unvermögen, über die eigenen Ruinen hinauszuschauen, ist nicht an die Zeit Jesu gebunden. Der Dichter Friedrich Hölderlin beschreibt mit verblüffend ähnlichen Worten die Seelenlage seiner Epoche: Handwerker, siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester aber keine Menschen, Herren und Knechte aber keine Menschen."

Der Architekt Jost Knöpfel kommt regelmäßig in Weskotts Gottesdienst. Er arbeitet im Kirchenvorstand mit und ist auch ein großer Freund der Bücherburg im Magazinhaus:

"Hier findet keine Selektion statt, jedes Buch hat das Recht zu liegen, vielleicht auch zu warten auf jemand, den es interessiert. Was eben auch interessant ist, es liegt auch immer was Falsches dazwischen, die Leute nehmen etwas in die Hand und legen es irgendwo ab. Da kann es passieren, dass während man sucht, Dinge findet, nach denen man gar nicht gesucht hat. Das macht das Stöbern interessant, man kann da Unmengen Zeit verbringen. Was ich neulich durch Zufall gesehen habe, ein Besuch von Fidel Castro in der DDR, wurde genauestens beschrieben. So etwas hat man woanders nicht."

Nicht jeder freut sich über Fidel Castro, wenn er eigentlich Christa Wolf oder Günthr Grass finden wollte. Erika Rebscher ist heute von Seesen hier hergefahren:

"Wenn Sie hier reingehen, dann merken sie, dass es wirklich unmöglich ist, was zu suchen. Hier unten ist es wirklich unmöglich. Wenn Sie unten was rausnehmen, da fällt alles zusammen."

Ob diese Dame wohl recht hat? Wir machen die Probe auf das Exempel. Auf einer Tafel vor dem Eingangstor wird behauptet, auch manches abseitige Themengebiet sei im Bestand:


"Können Sie mir nicht einmal eine königliche Romanze raussuchen?"
"Mal sehen, ob ich die jetzt noch finde, Science Fiction, die kann ich ihnen gerne zeigen."

"Aber Science Fiction ist nicht wirklich eine königliche Romanze."

"Ja, ja, jetzt muss ich mal gerade..."

Der Pfarrer stellt sich auf die Zehenspitzen und wühlt hinter diversen Bücherstapeln. Dann hält er triumphierend zwei Zeitschriften in die Höhe.

"So, hier haben wir die königliche Romanze, Prinz Andrew, Sarah Ferguson, können wir alles bieten."

Wer Ordnung hält, ist eben nur zu faul zum Suchen, oder hat einfach ein schlechtes Gedächtnis.

"Wie kommt denn hier so ein Stapel zustande? der ist ja nicht nur dreidimensional, sondern da sind ja noch ganz viele Stapel dahinter, die man gar nicht mehr sehen kann das sind alles Kriminalromane und Science Fiktion, die sich mit der Zeit angesammelt haben. Wenn jetzt ein Interessent kommt, dann wälzt der den um."

Martin Weskott nimmt ein paar Werke in die Hand, liest die Titel vor. Als er sie wieder ablegen will, kommt plötzlich Bewegung in das Stapelungetüm.

"Huch, Pech gehabt. Halten sie mal hier."

Im November ist ein Umzug innerhalb des Geländes geplant. In der Scheune soll es dann mehr Platz geben.

"Das werde ich nachher dann wieder aufschichten."

80 Euro beträgt die Tageskasse am Ende der Öffnungszeit, kurz vor ein Uhr. Über 120.000 Euro wurden so im Laufe der Jahre an Brot für die Welt überwiesen. Das, was die Reichen wegwerfen, soll denen helfen, die nichts haben, erklärt Martin Weskott das finanzielle Konzept. Ein Teil der Bücher wird unentgeltlich an Kindergärten und Schulen abgegeben, außerdem an Universitätsbibliotheken, darunter Tirana, Belgrad und Schang-hai. Alle Beteiligten arbeiten ehrenamtlich.

Zurück zur Büchertour nach Sachsen. Inzwischen ist der Wagen auf dem Hof des Leipzi-ger Zentralantiquariats angekommen. In zwei mannshohen Gitterkasten liegen die ausgemusterten Bücher. Weskott und Lüer stapeln sie in die mitgebrachten Bananenkartons um.

"So, ein Karton ist fast voll. Den ziehe ich gleich nach hinten, ja, bitte gleich nach hinten. Soll ich mithelfen? Nein, das schaffe ich schon, ich muss nur erst einmal hier hochkommen."

Rolf Lüer klettert auf den Anhänger und schiebt die Kartons an die hintere Wand. Keine leichte Arbeit für einen Rentner. Fast hundert Kartons müssen heute bepackt und eingeladen werden. Ausgewählte Werke von Marx und Engels, "Rohkost", "Guten Appetit", das erste Telekochbuch der MDR-Fernsehküche. Lüer kann jetzt schon seinen Rücken spüren. Er freut sich auf die Fahrt nach Dresden und die Mittagspause in der Kantine der Sächsi-schen Zeitung.

"Moment, geben Sie mir die Bücher so ran, sonst wird mir das zu schwer. Waren sie schon in Dresden? Nein, fahren wir noch."

Bernd Nahke ist der Prokurist des Leipziger Zentralantiquariats:

"Deswegen komm ich nämlich jetzt runter, wir machen in der Talstraße jetzt einen Ausverkauf. Da wird dann sicher auch noch mal eine Menge anfallen. Für November könnten sie auch noch mal eine Tour einplanen."
"Gut, alles klar, Tschüß!"
"Grüßen sie den Meister!"
""Mach ich."
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