Ein hartnäckiger Warner

Von Kathrin Hondl · 19.06.2012
Wie Bernard-Henri Lévy oder Alain Finkielkraut zählt der französische Essayist André Glucksmann zu den sogenannten "nouveaux philosophes", den "Neuen Philosophen", die in den 70er-Jahren in Frankreich medienwirksam von sich reden machten. Jetzt ist Glucksmann 75 Jahre alt geworden.
André Glucksmann wird man - im Gegensatz zu anderen französischen "Neuphilosophen" - kaum Eitelkeit vorwerfen können. Mit einer erstaunlichen Ausdauer bietet er seit gut 40 Jahren den Despoten und totalitären Regimes die Denkerstirn. Uneitel und ziemlich konsequent.

"Mein Geburtstag ist unwichtig, die Situation in Russland nicht", schreibt André Glucksmann in einer kurzen E-Mail als Antwort auf die Frage nach einem Interview - und bittet zum Gespräch in seine Pariser Wohnung.

"Seit mehr als 20 Jahren unterstütze ich die Dissidenten in Russland, sagt Glucksmann, und es liegt mir wie ein Stein auf dem Herzen, dass Europa zugelassen hat, dass vor seiner Haustür ein kleines Volk massakriert wurde.

In Tschetschenien gab es ungefähr 200.000 Tote, 200.000 bei einer Bevölkerung von einer Million Menschen! Jeder fünfte Tschetschene wurde getötet, darunter vermutlich 40.000 Kinder. Dass die europäischen Staaten darauf nicht reagiert haben, das verdirbt mir den Lebensabend."

Einen "Kniefall vor den Paten der Despotie" nennt Glucksmann nicht nur das europäische Desinteresse an der Situation in Tschetschenien, sondern auch die Tatenlosigkeit, mit der Europa dulde, dass Russland und China in der UNO jegliche Resolution zur Gewalt in Syrien blockieren. Es sei an der Zeit, dass sich Europa wieder auf seine antitotalitären Fundamente besinne, fordert Glucksmann und beruft sich dabei auf Worte des Schriftstellers Hermann Broch am Ende des Zweiten Weltkriegs.

"Die Sünde der Europäer bestand für Broch nicht darin, dass alle Nazis waren, sondern dass sie gleichgültig waren. Ihre Sünde ist die Gleichgültigkeit, mit der sie die Brutalität auf den Straßen zuließen, den Antisemitismus und auch den Antichristianismus. Diese Sünde der Gleichgültigkeit, scheint mir, wiederholt sich gerade gegenüber der Situation in Russland und dem absolut desaströsen Verhalten von Putin."

Erst Anfang des Monats hat André Glucksmann gemeinsam mit anderen Intellektuellen in der Zeitung Le Monde einen Brief an den russischen Präsidenten Putin veröffentlicht. Die Unterzeichner fordern Respekt vor den Menschenrechten und die Freilassung von illegal inhaftierten Putin-Kritikern aus russischen Gefängnissen.

Glucksmann, der 1937 als Sohn osteuropäisch-jüdischer Eltern in Frankreich zur Welt gekommen ist, hat den Kampf gegen die Gleichgültigkeit zum Leitmotiv seines Lebens erklärt. Und auch wenn er unter seiner seit Jahrzehnten immer gleichen, ergrauten Topfhaarschnittfrisur manchmal ein bisschen müde schaut: Er wird nicht müde, sich über Europas - wie er es nennt - "Augen-zu-und-durch"-Strategie zu empören.

Aber Glucksmann ist immer wieder auch für Überraschungen gut - wie zum Beispiel 2007, als er, der Ex-Maoist und traditionell Linke, sich als Anhänger von Nicolas Sarkozy outete.

"Weil er über die Tschetschenen redete und die Menschenrechte. Dann habe ich mich aber mit ihm zerstritten, als er anfing, Kriegsschiffe an Russland zu liefern. Aber Sarkozy war da weder der Einzige noch der Schlimmste. Ich finde es zum Beispiel absolut skandalös, dass Deutschland als Führungsmacht in Europa sich so desaströs verhält, wenn es um die Menschenrechte jenseits seiner Grenzen geht."

Besonders, dass Deutschland sich nicht am Libyeneinsatz der NATO gegen das Gaddafi-Regime beteiligte, hat Glucksmann scharf kritisiert. Aber er spart auch nicht mit Kritik an der Politik im eigenen Land - etwa mit Blick auf die Parlamentswahlen vom vergangenen Wochenende:

"Wir wählen in Frankreich, als ob die Außenwelt nicht existierte. Das ist total verrückt. Statt dessen aber kümmert man sich um völlig lächerliche interne Themen wie das Verhältnis zwischen Monsieur Hollandes neuer Frau und seiner Ex. Dabei geht es nicht nur um die Menschenrechte und die Freiheit in der Welt - es geht um den Fortbestand der Europäischen Union."

Statt mit der Sammelbüchse um Spenden bei den Oligarchen in Peking und Moskau zu betteln, so fordert Glucksmann, müsse sich die EU aus eigener Kraft den Herausforderungen der Globalisierung stellen und sich eines anderen Europas besinnen. Sein 75. Geburtstag aber, der sei wirklich nicht der Rede wert.

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