Ein goldener Bau für die Musik

Von Matthias Nöther · 15.10.2013
Sie gilt als eines der wichtigsten architektonischen Werke der Nachkriegszeit: die Berliner Philharmonie. Vor einem halben Jahrhundert revolutionierte das extravagante Gebäude von Hans Scharoun die Konzertsaal-Architektur.
Zur Grundsteinlegung der neuen Berliner Philharmonie im Jahr 1960 spricht Herbert von Karajan und schlägt mit dem Hammer auf den Stein.

"Der Geist der Harmonie, dem dieser Bau geweiht ist, möge von hier ausstrahlen zu einem wahrhaft friedlichen Wiederaufbau von Berlin."

Nach dem Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker sollte später der Spitzname für den neuen Konzertsaal lauten: Zirkus Karajani. In der Tat ähnelte die neuartige Dachform der Philharmonie, die streng nach akustischen Gesichtspunkten konstruiert war, einem Zirkuszelt. Dem Architekten Hans Scharoun schwebte eine Art Stadtkrone vor. Wie früher die Kathedrale das Zentrum einer Stadt markierte, so sollte künftig das goldene Dach des Kunsttempels diese Rolle übernehmen. Doch ein Jahr nach der Grundsteinlegung wurde die Berliner Mauer gebaut. Ab August 1961 befand sich die Baustelle der Philharmonie am Berliner Tiergarten, damit nicht mehr im Zentrum der Stadt, sondern am äußersten Rand des eingemauerten Westteils. Beim philharmonischen Richtfest kurz danach sprach der Regierende Bürgermeister Willy Brandt:

"Niemand konnte allerdings voraussehen, dass die neue Philharmonie in dieser schrecklichen Weise abgeschnitten sein würde von den Mitbürgern im anderen Teil der Stadt. Wir bauen hier trotz allem ein Haus, das weltoffen jeden freundlich einladen wird, näherzutreten."‘"

Am 15. Oktober 1963 dann konnte man auch eintreten. Die Berliner Philharmoniker unter Karajan eröffneten das neue Gebäude mit einem Festkonzert. Das erste Werk, das im Saal erklang, war Beethovens Leonoren-Ouvertüre Nummer Drei.

Einen solchen Konzertsaal hatte noch niemand gesehen. Bis dahin kannte man vor allem die sogenannten Schuhschachteln: rechteckige Räume mit parallelen Wänden, in denen auf der einen schmalen Seite das Orchester saß, auf der anderen das Publikum. Auch die alte, im Krieg zerstörte Philharmonie am Anhalter Bahnhof hatte so ausgesehen. Nun wollte die Architekten-Jury einen radikal anderen Konzertsaal. Er sollte der Gesellschaftsform der Demokratie entsprechen. Der Architekturhistoriker Wilfried Wang erläutert, weshalb die Bauherren sich bei ihrer Entscheidung für Hans Scharouns Entwurf so einig waren.

""Es waren alles Überlebende des Zweiten Weltkriegs, die überzeugt waren, dass das, was da angeboten wurde, exzeptionell war, sich so unterschied von den anderen Wettbewerbsbeiträgen – was man auch heute nachvollziehen kann. Wenn Sie sich diese Entwürfe angucken: Da gab‘s einen 50er-Jahre-Stil-Hörsaal, der eigentlich eine Art klassisches Barock-Theater darstellt, also rein oberflächlich mit stilistischen Mitteln modernisiert wurde. Und da haben die Juroren genau durchschaut, dass das nicht das ist, was sie sich eigentlich von einer neuen Architektur erhoffen."

In den alten Konzertsälen wurde das Publikum gezwungen, in die gleiche Richtung zu schauen. Anders bei Hans Scharoun. Die Wände konstruierte er als zwei ineinandergreifende Fünfecke, in die die Sitzblöcke unregelmäßig eingelassen sind. Das Publikum gruppiert sich locker, scheinbar fast zufällig, um die Musiker herum. Für Scharoun, so Wilfried Wang, war es entscheidend,

"...dass diese Nicht-Gerichtetheit der unterschiedlichen Sitzblöcke einen ganz klaren Zweck erfüllte, nämlich dass es eine Auflösung der Zentralperspektive gibt, weil es die einzelnen Gruppen, sowohl das Orchester als auch die Zuhörer, in eigenständigere Elemente deutet. Und dadurch gibt es eben auch eine Art Balance zwischen Akteuren und Passiven."

In den Jahrzehnten nach dem Bau der Philharmonie haben Architekten in aller Welt kühne, schwungvolle und vielgestaltige Konzertsäle entworfen. Doch ob es sich um die Suntory Hall in Tokyo, um die Disney Hall in Los Angeles oder um die Hamburger Elbphilharmonie handelt: Sie alle haben das Konzept von Hans Scharoun aufgenommen, die Musiker und das Publikum als gleichberechtigte Partner erscheinen zu lassen – mit den Mitteln der Baukunst.