Ein Fragment von glühender Energie

15.11.2010
In Wilhelm Raabes Romanfragment zieht es Protagonist Friedrich Feyerabend nach Altershausen, seinen Geburts- und Kindheitsort. Die unvollendete Geschichte strahlt in ihrem literarischen Gehalt höchste Vollendung aus.
"Was wird aus dem Menschen, der endlich Zeit hat und dem nun nichts rasch genug kommen und geschehen kann?" So formuliert die Erzählerstimme den Ausgangspunkt in Wilhelm Raabes Romanfragment "Altershausen". Der Titel des Textes ist dabei ebenso sprechend wie der Name seines Protagonisten: Friedrich Feyerabend. Der Professor Dr. med. und Wirkliche und Geheime Obermedizinalrat Feyerabend ist eben "siebenzig" und als beachtete Koryphäe mit vielen ehrenden Grußworten in die Rente verabschiedet worden. Der rüstige Pensionär kommt angesichts dieser Frage ganz folgerichtig aufs Reisen. Aber nicht in die großen Orte dieser Welt, die er kennt von zahlreichen Kongressen und Vorträgen, zieht es ihn, sondern nach Altershausen, seinen Geburts- und Kindheitsort, den er früh verlassen und nie wieder aufgesucht hat.

Gleich am Bahnhof der Kleinstadt begegnet er seinem alten Freund Ludwig "Ludchen" Bock, der als alter und offensichtlich schwachsinniger Gepäckträger seinen Koffer ins Hotel der Stadt bringt, ohne ihn zu erkennen. Inkognito und in nostalgischen Erinnerungen an die Kindheit schwelgend schweifend, begegnet Feyerabend seiner alten Heimat, trifft erneut auf Ludchen Bock, später auch auf dessen Lebensgefährtin Minchen – auch sie eine gute Bekannte aus Kindheitstagen –, die ihm Ludchens unglückliche Geschichte vom Baumsturz und dem daraus resultierenden Schwachsinn erzählt. Und wie sie fortstricken will an ihrer Erzählung, bricht der Text einfach ab.

Diese (welche?) absolut unvollendete Geschichte strahlt in ihrem literarischen Gehalt höchste Vollendung aus! Sprachlich von einer geradezu funkelnden Eleganz, ist Raabes letzte Text-Unternehmung ein frühes Aufleuchten der Avantgarde. Zitaten- und anspielungsreich – von antiken Texten über Shakespeare bis zu Daten der deutschen Geschichte – verwebt sich die banale Rückkehr eines alten Professors in seine Kindheit mit der Menschheits- und Kulturgeschichte. Aber nichts davon strahlt eine professorale Lust am Dozieren aus, bei Raabe trieft der Text von Ironie und schalkhaftem Sarkasmus, Distanzierungs- und Gestaltungsverfahren, die später richtig "modern" werden sollten. Ein selbstironischer, manchmal böser Witz durchzieht dieses Fragment – hier ist nichts auf Gefühligkeit und alles auf eine scharfe Beobachtung gestellt.

Was wohl aus diesem Text hätte werden können? Womöglich ein epochales Werk, das man in einem Atemzug mit den Romanen von Thomas Mann, Alfred Döblin oder Hermann Broch genannt hätte. Raabe hat das nicht vollenden wollen oder können. Aber er hat ein Fragment von glühender Energie hinterlassen.

Besprochen von Gregor Ziolkowski

Wilhelm Raabe: Altershausen
Insel Verlag, Berlin 2010
143 Seiten, 13,90 Euro