"Ein Fenster auf die Nation"

Moration: Katrin Heise · 23.05.2008
Selbst an schlechten Folgen des "Tatorts" könne man viel über die gesellschaftlichen Belange in Deutschland ablesen, meint Christian Buß. Er vermisse dabei zunehmend das Lokalkolorit regionaler Bezüge, betonte der Fernsehkritiker. Am Sonntag läuft die 700. Folge des "Tatorts" mit Martin Wuttke und Simone Thomalla als neuem Leipziger Team.
Katrin Heise: Ich gehöre ja auch zu den Menschen, die Sonntagabend ab 20.15 Uhr nicht mehr an das Telefon gehen, weil sie den "Tatort" schauen. Manchmal fange ich allerdings schon kurze Zeit danach an, Wäsche zusammenzufalten oder nebenbei in die Zeitung zu schauen. Aber ausschalten würde ich den "Tatort" dann doch nicht. Oft komme ich auch gar nicht erst auf den Gedanken. Zum Beispiel habe ich mich sehr gut am vergangenen Sonntag beim Team aus Münster amüsiert, und richtig begeistert hat mich neulich der "Tatort" an Pfingstmontag, und zwar ein "Tatort" über eine vermeintliche Kindsmörderin. Also wieder ein "Tatort" über ein leider ja ständig aktuelles Thema. Wie viel Wirklichkeit kommt im "Tatort" vor? Darüber macht sich immer wieder der Fernsehkritiker Christian Buß Gedanken bei "Spiegel online" oder auch in der Tageszeitung "taz". Ich grüße Sie, Herr Buß!

Christian Buß: Guten Tag!

Heise: Gesellschaftliche Phänomene, Geschehnisse, die die Menschen über die Nachrichten hinaus beschäftigen, eben wie zum Beispiel Kindstötung, Arbeitslosigkeit, wie wichtig sind solche Themen für die "Tatorte"?

Buß: Sie sind sehr wichtig. Sie dürfen natürlich nicht nur ausschließlich filtriert werden sozusagen in das Krimi-, in das Täterrätsel. Es gibt oft einfach nur gut gemeinte "Tatorte", die greifen das als Thema auf, weil jeder damit bestimmte Sachen verbindet gefühlsmäßig, aber führen es dann eigentlich gar nicht weiter. Da sind dann, finde ich, "Tatorte", die sich nicht gesellschaftspolitisch geben, oft noch besser. Aber der "Tatort" bietet auf jeden Fall einen sehr guten Rahmen, um gesellschaftspolitische Themen zu verarbeiten.

Heise: Und zwar Woche für Woche auf verschiedenen Blickwinkeln. Wie tief kann denn eine Diskussion eigentlich gehen? Wenn ich mal ein Beispiel gebe, Zusammenleben Deutscher und Ausländer oder Islam, da hat man, finde ich, sehr leicht den Eindruck, der "Tatort" arbeitet sich so ein bisschen an den Klischees ab und kann eigentlich in der Zeit gar nicht differenzieren.

Buß: Also es kommt auf die Macher drauf an. Sehr oft ist es tatsächlich so, oft ist es aber auch nicht so. Und das Erstaunliche ist, wenn es denn nicht so ist, gibt es meistens auch den meisten Ärger am Montag in den Zeitungen.

Heise: Geben Sie mal ein paar Beispiele, wo Sie sagen, was gelungen, was nicht gelungen ist!

Buß: Der gelungene "Tatort" für mich, wo eben der Islamismus vorkommt, den Sie ansprechen, beziehungsweise Migrationsprobleme, ist der skandalisierte Aleviten-"Tatort" gewesen aus Hannover mit Maria Furtwängler. Danach sind ja verschiedene Aleviten-Verbände Sturm gelaufen, weil sie sich verunglimpft gefühlt haben. Als ich das gesehen habe, den Film, fand ich wiederum, dass eben gerade da sich bemüht wurde, nicht die üblichen Klischees aufzuzeigen, sondern ganz verschiedene Facetten von Türken in Deutschland und auch alevitischen Türken in Deutschland. Und das Erstaunliche ist, wie gesagt, dass sich dann auf einmal, wo man selber empfindet, das ist differenziert, das ist komplex, da sind gut und böse sehr dicht beieinander, der Zuschauer muss sehr genau hingucken, kriegt sehr unterschiedliche Informationen, dass ausgerechnet danach, wie gesagt, dann oft einen Aufruhr gibt, weil sich bestimmte Gruppen falsch dargestellt sehen.

Heise: Wobei das ja zum Beispiel vielleicht auch dann gerade eine Aufgabe vom "Tatort" ist, dass er nämlich ja sogar bestenfalls eine Diskussion auslöst. Jetzt sind ja alle ARD-Sender am "Tatort" beteiligt. Welche Anstalten sind denn besonders risikobereit, was solche Themen angeht?

Buß: Ich finde, sehr risikobereit ist einerseits der kleine Sender Radio Bremen. Der macht gelegentlich wirklich tolle, aufregende Krimis. Und gleichzeitig auch manchmal ...

Heise: Das ist die Kommissarin Inga Lürsen?

Buß: Genau. Und gleichzeitig sind die auch bereit zu scheitern. Einige finde ich auch wirklich schlecht. Aber ich finde es ganz toll bei diesem kleinen Sender, dass er sich das traut und das Wagnis eingeht, bestimmte Geschichten sehr radikal zu erzählen, auch wenn sie am Ende vielleicht dann nicht aufgehen oder funktionieren. Dafür, wie gesagt, funktionieren dann einige ganz besonders gut. Ich erinnere mich da zum Beispiel an die Episode "Schatten", ich glaube aus dem Jahr 2002. Damals ging ja durch die Presse die Vergangenheit von Joschka Fischer. Und daraus wurde, ohne jetzt auf Fischer einzugehen, aber es ging um die Gewaltvergangenheit von jetzt arrivierten Politikern. Und daraus wurde ein ganz tolles Psychogramm gebaut. Das fand ich ganz stark damals. Eigentlich der beste fiktive Film zu dem Thema.

Heise: Kann ein Zuschauer aus dem Ausland beispielsweise am "Tatort" etwas über Deutschland lernen? Der Schriftsteller Maxim Biller hat mal gesagt: Kollektive Psychotherapie eines ganzen Volkes.

Buß: Ja, ich glaube auf jeden Fall, dass man, wenn man in den "Tatort" reinguckt, quasi ein Fenster auf die Nation hat und selbst in den schlechten "Tatorten" eine Menge über das Land lernen kann, zum Beispiel, wie weit so das Land in bestimmten gesellschaftlichen Belangen ist. Das war ja immerhin eine große Sache, als dann eine lesbische Kommissarin zum Beispiel eingeführt wurde, oder jetzt dann demnächst eben ein Kommissar mit türkischem Hintergrund. Auch wenn das die Darsteller gar nicht immer oft so hören, aber natürlich ist das wichtig, was da mitschwingt und was sozusagen eine gewisse Natürlichkeit dann inzwischen besitzt. Ich finde, da kann man sehr gut den gesellschaftlichen Stand eigentlich auch sehen.

Heise: Am Sonntag läuft der 700. "Tatort". Ich spreche mit dem Fernsehkritiker Christian Buß. Sonntag werden Martin Wuttke und Simone Thomalla als neues Team in Leipzig eingeführt. Wie viel speziell ostdeutsche Befindlichkeit erwarten Sie da noch?

Buß: Sehr wenig erwarte ich da, beziehungsweise sehr wenig habe ich gesehen, als ich jetzt vorab die Folge gucken konnte.

Heise: Finden Sie das richtig oder eher einen Fehler?

Buß: Man sieht das jetzt in der ersten Folge nicht, man muss immer vorsichtig sein bei der ersten Folge, da müssen Figuren eingeführt werden und so weiter. Die müssen erst lernen zu laufen. Das ist klar. Aber ich finde, dass da in dieser ersten Folge sehr wenig von Leipzig zu sehen ist, außer der schön renovierte Hauptbahnhof. Das ist aber genau das, was ich teilweise eben problematisch auch finde, dass eigentlich so regionale Bezüge immer mehr, also echte regionale Bezüge und nicht nur Touristenimpressionen, dass die immer mehr aus bestimmten und jetzt gerade neu bearbeiteten "Tatorten" verdrängt werden.

Heise: Ist Lokalkolorit einfach nicht mehr gewollt, warum?

Buß: Ich glaube, das ist natürlich jetzt nur eine Unterstellung von mir, dass man versucht, da ein junges Publikum auch zu erreichen, das natürlich vor allem mit amerikanischen Serien, also Gerichtsmediziner-Serien oder Profiler-Serien inzwischen auch sozialisiert ist, und dass man da versucht, so ein globales Idiom einzuführen, das heißt, eine bestimmte Profiler-Sprechweise. Ich finde, das ist sehr auffällig, wenn man sich jetzt die zuletzt erneuerten TV-Reviere anguckt im "Tatort". Also vor etwa knapp zwei Jahren wurde in Saarbrücken ja ein neues Ermittlerteam eingeführt, vor ein paar Monaten in Stuttgart und jetzt eben in Leipzig. Und da vermisse ich so bestimmte, vielleicht auch für andere Regionen oder für Zuschauer aus anderen Regionen, schwer verdaulichere Motive oder Sprache.

Heise: Oder auch nur ein bisschen schwer verdaulichere Typen vielleicht. Welches Team gefällt Ihnen denn am besten? Welches ist am aussagekräftigsten für Sie?

Buß: Das ist jetzt sehr schwer zu sagen. Unterschiedliche Ermittler liefern sozusagen Unterschiedliches, was ich vom "Tatort" erwarte. Ich persönlich bin begeistert über die Kontinuität von den Münchner Ermittlern, die ja seit 1991 jetzt inzwischen ermitteln.

Heise: Leitmayr und Batic.

Buß: Leitmayr und Batic genau, und die wirklich in Würde ergraut sind und es schaffen, so ganz nebenbei ein bisschen an ihren Typen zu feilen, aber nie dabei sich vor die Geschichte zu stellen. Und ich finde, die nehmen einen immer sehr schön mit an die Hand durch ganz unterschiedliche Ecken von München, die eben manchmal eben, und das finde ich eben toll an so einem Großstadtkrimi, ganz urban, ganz modern sind, manchmal aber auch einfach nur knarzig, folkloristisch. Und wie gesagt, die Macher treffen aber immer einen ganz bestimmten Tonfall. Die Figuren funktionieren als Reiseführer sozusagen durch die unterschiedlichen Quartiere von München.

Heise: Ich habe den Eindruck, dass die Teams immer großstädtischer werden, immer großstädtischer agieren, auch immer hektischer. Ist Landleben zu betulich für den "Tatort"?

Buß: Eigentlich nicht! Es wird in vielen Redaktionen wohl angenommen. Aber ich finde, wenn man sich eine Ermittlerin wie Maria Furtwängler anguckt, die ja für ihre Fälle immer in die niedersächsische Provinz gehen muss, merkt man, dass das natürlich einen ganz besonderen Reiz hat, wenn man aufs Land geht und dort natürlich ganz genauso morbide und kaputte Sachen, wenn es denn darum geht, das zu zeigen, erleben kann.

Heise: Gedanken des Fernsehkritikers Christian Buß. Ich danke Ihnen für dieses Gespräch. Am Sonntag also der 700ste "Tatort" in der ARD, diesmal mit neuem Team aus Leipzig.