Ein Ereignis des Kollektivgedächtnisses

Von Jan Kuhlmann · 21.08.2011
Der Einsturz des World Trade Centers war ohne Frage ein Schock für die Vereinigten Staaten. Aber wie das Land sich nach diesem Ereignis unter der Bush-Regierung gewandelt hat, beleuchten zwei Bücher.
Die Bilder dieses Schreckenstages haben sich in das Gedächtnis der Welt eingebrannt: Flugzeuge, die in das World Trade Center rasen; zwei Türme aus Stahl, die einstürzen wie Kartenhäuser; Rauchsäulen über Manhattan. Niemand, der den Tag miterlebt hat, wird diese Ikonografie des Terrors je vergessen. Die Anschläge vom 11. September 2001 haben das junge Jahrtausend geprägt wie kein anderes Ereignis.

Doch hat dieser Tag auch die Welt mit einem Schlag verändert? Haben sich die Vereinigten Staaten unter dem Schock des Terrors in ein anderes Land verwandelt? Eine Gruppe junger Wissenschaftler aus Deutschland beantwortet diese Fragen mit einem klaren Nein. "9/11. Kein Tag, der die Welt veränderte" lautet der Titel ihres Sammelbandes. Darin heißt es:

Am 11. September begann keine neue Epoche in der Weltgeschichte - insbesondere nicht für Europa und die USA. Für die USA wirkten die Anschläge 'lediglich' als Katalysator: Sie haben längerfristige Entwicklungen verstärkt und ihnen zu größerer Sichtbarkeit verholfen. Dies gilt für politische Entwicklungen wie für wirtschaftliche und soziale ebenso wie für kulturelle.

Die Wissenschaftler fragen in zehn Artikeln unter anderem, wie die Anschläge die amerikanische Wirtschaft beeinflussten, wie die Umwelt, das Rechtssystem, die Religiosität und den Patriotismus der Amerikaner.

Besonders interessant ist das Kapitel über die Weltmacht USA: der Einmarsch in Afghanistan, der Sturz Saddams Husseins, das tiefe Zerwürfnis mit den Bündnispartnern in Europa. Die Folgen in der Außenpolitik Washingtons waren die Weitreichendsten. Kritiker hielten der Regierung von Georg W. Bush vor allem vor, dass sie im Alleingang handelte - im Gegensatz zu ihren Vorgängern. Doch der Autor Patrick Keller widerspricht:

Blickt man weiter in die amerikanische Geschichte zurück als nur bis zum Ende des Kalten Krieges, wird deutlich, dass die vielgescholtene Dreifaltigkeit der Außenpolitik Bushs - Präventivkrieg, Unilateralismus, Imperialismus - schon immer Teil des amerikanischen Portfolios war. Wann immer es machtpolitisch möglich und sicherheitspolitisch nötig erschien, haben amerikanische Regierungen die Interessen auch unilateral durchgesetzt.

So hätten schon Präsidenten wie Theodore Roosevelt oder Woodrow Wilson Präventivkriege geführt, schreibt Keller. Allerdings führt er dieses Argument nicht weiter aus, sodass der Vergleich allzu pauschal bleibt und deshalb kaum überzeugt. Das gilt ebenfalls für den Artikel über die Entwicklung des Rechts. Wie das gesamte Buch ist auch er geprägt von einem sehr amerikafreundlichen Ton.

In Erinnerung bleiben die Bilder der Insassen von Guantánamo in ihren orangefarbenen Anzügen - Verdächtige, die ohne rechtsstaatliches Verfahren seit Jahren gefangen gehalten werden. Die Bush-Regierung habe zwar versucht, auf diese Weise neue juristische Standards zu etablieren, schreibt Autor Michael Teichmann. Allerdings habe sich Washington damit letztlich nicht dauerhaft durchgesetzt.

Warum ist dann Guantánamo bis heute nicht geschlossen? Allzu kritikwürdig scheint Teichmann das Verhalten der Bush-Regierung trotz des eklatanten Bruchs mit dem internationalen Recht nicht zu finden. Vielmehr lobt er die in vielen Ländern verschärften Sicherheitsgesetze:

Diese Entwicklung muss aber prinzipiell nicht als bedenklich eingeschätzt werden, denn es gab gute Gründe zur Reform der Sicherheitsgesetze. Der internationale Terrorismus, religiös motivierte Extremisten und andere Kriminelle stellen eine Gefahr für zentrale Gemeinschaftsgüter dar. In der Diskussion ist vielfach verkannt worden, dass die gesetzliche Ausgestaltung von Freiheitsbeschränkungen ein rechtsstaatliches und demokratisches Gebot ist, das die Grundlagen der Freiheitsrechte der Bürger sichert.

Kurz gesagt: Teichmann will die Freiheit durch weniger Rechte für die Bürger schützen - ein zweifelhaftes Unterfangen. Die Terrorgefahr wird eines Tages verschwinden, der Staat aber wird sich seine Eingriffs- und Kontrollrechte wie die Datenvorratsspeicherung kaum nehmen lassen. Hier hat sich das Verhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit unumkehrbar gewandelt.

Das meint auch Bernd Greiner, Historiker aus Hamburg. In seinem Buch "9/11. Der Tag, die Angst, die Folgen" kommt er zu einem wesentlich kritischeren Urteil über die Bush-Regierung. Der so genannte Krieg gegen den Terror habe demokratische Werte, Verfahren und Institutionen nachhaltig beschädigt, so Greiner. Detailliert legt er dar, wie die US-Regierung etwa Folter sanktionierte - insbesondere Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, aber auch Bush selbst:

Somit beginnt die Geschichte der Folter im 'Krieg gegen den Terror' ganz oben. Sie geht weder auf das eigenmächtige Handeln einzelner zurück, noch ist sie der Unbotmäßigkeit bestimmter militärischer Einheiten geschuldet. Gewiss trugen die Akteure auf unterster Ebene das Ihre zur Eskalation bei. Aber ohne das Zutun des Verteidigungsministeriums und des Weißen Hauses sind Art, Umfang und Dauer der Menschenschinderei nicht vorstellbar.

Greiner hält Bush und seinen Mitstreitern vor, sie hätten eine neue Architektur der Macht geschaffen - eine "imperiale Präsidentschaft", die den Einfluss der Exekutive unverhältnismäßig ausgedehnt habe. Der Kongress ließ die Administration gewähren. Er habe Bush zwar drei Tage nach den Anschlägen eine "Carte Blanche" für weltweite Militäraktionen verweigert, jedoch:

Nichtsdestotrotz konnte das Weiße Haus einen historischen Erfolg verbuchen. Niemals zuvor waren einem Präsidenten derart weitreichende und vor allem dermaßen unspezifische Kriegsvollmachten eingeräumt worden, niemals zuvor hatte man ihm das Recht zugestanden, einzig und allein nach eigenem Ermessen über Ort, Zeitpunkt und Ziel eines Militäreinsatzes zu befinden.

Ideologisch geblendet und getrieben von der Angst vor noch schlimmeren Anschlägen habe Bush sein Land in den Irak-Krieg geführt, schreibt Greiner. Insgesamt fasst der Historiker den 11. September und seine Folgen prägnant zusammen - das meiste jedoch war schon in früheren Publikationen zu lesen. Dennoch: Greiners Buch legt deutlich dar, dass der 11. September sicherlich keinen totalen Bruch mit dem Lauf der Geschichte bedeutete - dass die Anschläge die Welt und auch die USA aber trotzdem nachhaltig veränderten.

Michael Butter, Birte Christ, Patrich Keller: 9/11 Kein Tag, der die Welt veränderte; Ferdinand Schöningh Verlag Paderborn, 2011
Bernd Greiner. 9/11 - Der Tag, die Angst, die Folgen; C.H.Beck Verlag München, 2011
Cover "9/11 Kein Tag, der die Welt veränderte" von Michael Butter, Birte Christ, Patrich Keller (Herausgeber)
Cover "9/11 Kein Tag, der die Welt veränderte" von Michael Butter, Birte Christ, Patrich Keller (Herausgeber)© Ferdinand Schöningh Verlag Paderborn
Cover "9/11 – Der Tag, die Angst, die Folgen" von Bernd Greiner
Cover "9/11 – Der Tag, die Angst, die Folgen" von Bernd Greiner© C.H.Beck Verlag München