Ein Denkmal für unbekannte Helden

Von Johannes Kaiser · 25.04.2006
Vor zwanzig Jahren explodierte in Tschernobyl einer der vier Kernreaktoren. Igor Kostin war nach der Katastrophe der erste Fotograph vor Ort. Sein Buch "Tschernobyl Nahaufnahme" zeigt erschütternde Bilder von ungeahntem Heldentum, die einem den Atem stocken lassen.
"Unsere Kernkraftwerke stellen keinerlei Risiko dar. Man könnte sie sogar auf dem Roten Platz bauen. Sie sind sicherer als unsere Samoware" - so Anatoli Alexandrow von der sowjetischen Akademie der Wissenschaften. Der 26. April 1986 widerlegte ihn auf die schlimmstmögliche Art und Weise. In Tschernobyl explodierte eines der vier Atomkraftwerke, brannte der Reaktorkern tagelang, setzte Wolken tödlicher Radioaktivität frei, die über halb Europa zogen, ganze Landstriche verseuchten.

Der ukrainische Fotograph Viktor Kostin war der erste, der am Tag der Reaktorkatastrophe aus einem Hubschrauber heraus Bilder von der strahlenden Ruine machte und in den nächsten Wochen die Aufräumarbeiten und die Kapselung des glühenden Kerns in einem Betonsarkophag dokumentierte. "Der Gedanke, zu Hause zu bleiben oder, schlimmer noch, ins erste Flugzeug zu steigen, um der Strahlung zu entfliehen, kommt mir nicht einmal in den Sinn", schreibt er in einem der Texte. "Die Arbeiter vor Ort ... sind meine Landsleute, meine Brüder. Ich gehöre hierher. Ich bleibe."

Es sind erschütternde Bilder von ungeahntem Heldentum, die einem den Atem stocken lassen. Soldaten, Feuerwehrmänner, Techniker, Ingenieure, Hubschrauberpiloten – eine ganze Heerschar schlecht ausgerüsteter Helfer, Liquidatoren genannt, räumte rund um den Reaktor auf, schüttete ihn mit Blei und Beton zu. Da die Roboter versagten – die extrem hohe Radioaktivität zer-störte alle elektronischen Steuerungen -, blieb nur der Mensch übrig. Bioroboter nannten sich mit Galgenhumor die Liquidatoren. Viele von ihnen sind schwer erkrankt, gestorben. Doch keiner fühlt sich mehr für sie verantwortlich. Der Staat hat sie allein gelassen.

So hat der Fotograf den unbekannten Helden von Tschernobyl mit seinem Buch ein Denkmal gesetzt, das in bewegenden Texten und Bildern an ihr uneigennütziges Opfer erinnert. Igor Kostin hat die verbotene Zone seitdem mehrfach besucht. Obwohl nach dem GAU alle Menschen evakuiert wurden, sind Hunderte, vor allem alte Bürger in ihre Häuser zurückgekehrt, bauen Gemüse an, halten Haustiere. Alles ist hoch verstrahlt, dennoch wollen sie lieber hier sterben als im Plattenbau in Kiew. Diebe haben die Tausende abgestellten Baufahrzeuge ausgeschlachtet, die hochverstrahlten Teile verkauft.

Das Fatale an Radioaktivität ist, dass man die tödliche Gefahr nicht sehen kann. Nur der Dosimeter zeigt, dass die grünen Naturidyllen, die der Fotograph Jahre später vorfand, lebensbedrohlich sind. Das Buch kommt zur rechten Zeit. Allzu viele scheinen Tschernobyl vergessen zu haben. Schon wieder sind Atomkraftwerke sicherer als Samoware.


Igor Kostin: Tschernobyl Nahaufnahme
Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer.
Verlag Antje Kunstmann, München 2006, 240 Seiten