Ein cholerischer Stoiker

21.10.2011
Der römische Dramatiker Seneca galt als einer der wichtigsten Vertreter der Stoa, jener philosophischen Lehre, die für Gelassenheit und Seelenruhe steht. Der Autor Thorsten Becker liefert ein ganz anderes Bild: Er beschreibt Seneca als einen Mann, der von innerer Raserei und Lust getrieben ist.
In der abendländischen Geschichte gilt die Stoa als eine wichtige philosophische Lehre, die um 300 v. Chr. begründet wurde. Unter den Philosophen war der römische Dramatiker und Staatsmann Lucius Annaeus Seneca (Jahr 1 bis 65 n. Chr.), genannt Seneca d. J., als großer Stoiker bekannt. In seiner Abhandlung "De Vita Beata" ("Vom glücklichen Leben") ruft er zu Gelassenheit und Seelenruhe auf, indem er schreibt: "Das höchste Gut ist die Harmonie der Seele mit sich selbst".

Nun schwört ein Spezialist im Erkunden erkalteter historischer Stoffe, der 1958 geborene Thorsten Becker, ein paradoxes Revival herauf. Er führt Seneca beim Verfassen einer "Trostschrift" - und zwar "für den Muttermörder Nero" - nicht nur die Feder, sondern erkundet aus dessen Erzählperspektive heraus, wie es denn um seine stoische Begabung tatsächlich bestellt ist. Beckers Erzählen setzt in einem toten Winkel an, wo das nackte Leben auf dem Spiel steht. Denn Seneca erwartet den Centurio, der ihn den durch Kaiser Nero veranlassten Befehl zur Selbsttötung überbringen soll. Als Stoiker wird er ihn zwar bedingungslos ausführen. Doch da er sich unschuldig fühlt, akzeptiert er Neros Urteil nicht und zieht ihn zur Rechenschaft. Das allerdings bedeutet eine emotionale wie philosophische Entgleisung Senecas. Überhaupt kitzelt Becker mit dem Verfassen der Trostschrift aus der historischen Figur eine verborgene "innere Raserei" und damit viel Menschliches heraus. Nicht nur Agrippinas - Neros Mutter - machtgeiles Gebaren kommt dabei zur Sprache, sondern auch Senecas Begierde nach ihrem Fleisch. Ein, dem stoischen Gesetz nach, unzulässiges Laster.

In 15 Kapiteln und einem Appendix, in dem von Senecas letzten Stunden berichtet wird, rekonstruiert der einstige Lehrer Neros und Berater der Agrippina die römische Herrschaft unter Julius Cäsar, Claudius und Nero als unheilvolles und inzestuöses Sündenbabel. Den Höhepunkt bildet dabei die körperliche Vereinigung zwischen Mutter und Sohn. Wo "Staat ist und wo Familie ist", so lautet Senecas/Beckers lakonischer Kommentar, "da ist auch Tragödie".

Wer Beckers sprachliche Eleganz und seinen tiefsinnigen Humor kennt, sowie seine sinnreiche Taktik des Wiederbelebens längst tot geschriebener beziehungsweise verlernter Geschichte zu schätzen weiß, dem wird diese Trostschrift zum literarischen Genuss. Mit ketzerischem Hintersinn entlockt er Seneca und seinem historischem Gefolge Gefühlsregungen und Gedanken, welche die gepriesene Selbstbeherrschung und Gelassenheit fragwürdig erscheinen lassen.

Durch eine raffinierte Erzähltaktik wird Senecas Sterben immer wieder hinausgezögert. Der Text wird dadurch mit retardierenden Momenten aufgeladen, die eine bizarre Spannung erzeugen und an die stoische Fähigkeit des Lesers appellieren. Als der Centurios endlich erscheint und das Sterben beginnen kann, sind wir am Tod Senecas und am Untergang einer Epoche beteiligt.

Besprochen von Carola Wiemers

Thorsten Becker: Agrippina. Senecas Trostschrift für den Muttermörder Nero.
Arche Literatur Verlag, Zürich 2011
237 Seiten, 18 Euro