Ein bisschen Achtsamkeit

Von Gunnar Lammert-Türk · 10.08.2013
Achtsamkeit ist ein schillerndes Grundprinzip des Buddhismus. Doch in den vergangenen Jahren ist daraus ein Modewort geworden. In bestimmten Kreisen hübscht die Achtsamkeit praktisch jede Tätigkeit auf - sei es das Kochen oder Zeltaufbauen. Wie konnte es dazu kommen?
"Der Begriff Achtsamkeit droht heutzutage ein bisschen zu verkommen, weil er für alle möglichen Angebote, Lifestyle-Angebote, Wellness-Angebote, gebraucht wird","

sagt Wilfried Reuter, Gynäkologe und buddhistischer Meditationslehrer in Berlin.

In der Tat, Achtsamkeit, ein grundlegender buddhistischer Begriff, ist beinahe allgegenwärtig. Amazon vermerkt unter dem Stichwort allein in der Rubrik Bücher über 1400 Einträge. Neben Managerschulungen stehen Feelgood-Bücher en masse und unzählige Lebens- und Psycho-Ratgeber. Aber es kommt auch vor, dass ...

""...eine Gesundheitsministerin die Verbraucher zu erhöhter Achtsamkeit auffordert. Sie haben die Kriminalpolizei, die bei der Warnung vor Taschendieben eben dieses, nämlich Achtsamkeit, rät. Wenn es um Wellnessurlaub geht, heißt es zum Beispiel: Interessenten könnten einen Fastenurlaub in Deutschland buchen, Tai-Chi-Ferien in China oder meditative Radtouren im Nepal, bei denen die Teilnehmer nach Art der örtlichen Zen-Tradition lernen, simple Dinge wie den Aufbau eines Zeltes oder auch Kochen in Achtsamkeit zu verrichten."

Eine folgenreiche Übersetzung
Der Germanist Marco Scheider hat sich damit befasst, seit wann es das allseits umher schwirrende Wort Achtsamkeit im deutschen Sprachraum gibt und mit welcher Bedeutung es gebraucht wurde.

"Wir haben im 16. Jahrhundert zunächst einmal die Bedeutung Ehrerbietung oder Anerkennung. Für die Bedeutung Aufmerksamkeit oder Augenmerk, Sorgfalt setzt es verstärkt erst im 18. Jahrhundert ein. Zum Ende des 19. Jahrhunderts haben Sie dann in der Übersetzung buddhistischer Texte das, was in diesen spirituellen Kontext gehört."

1892 und 1893 übertrug der Indologe Karl Eugen Neumann Auszüge aus den Lehrreden Buddhas ins Deutsche. Er gehörte zu einer frühen Welle Intellektueller, die, durch Schopenhauer angeregt, sich für indische Weisheitslehren begeisterten. Das von Buddha gebrauchte Wort "sati" aus dem Pali gab er mit "Achtsamkeit" wieder.

Wilfried Reuter erklärt es: "Achtsamkeit definiere ich als eine nicht wertende bewusste Geisteshaltung, die als Basis eine Qualität von Güte hat, Freundlichkeit im besten Sinne und dann zwei Elemente, nämlich ein beobachtendes und ein einfühlendes.""

Die Regungen des Körpers und des Geistes werden nach dieser Lehre präzise wahrgenommen. Achtsamkeit zeigt sich dabei als angestrebte Wissensklarheit, die die Wahrnehmungen einschätzt hinsichtlich ihrer Auswirkung auf sich und andere. Und als Gedächtnis, als Fähigkeit, die Wahrnehmungen oder ein heilsames Vorhaben aufzubewahren oder wieder wach zu rufen. Dieser Aspekt entspricht der Grundbedeutung des Pali-Wortes "sati". Deshalb ist es auch mit "Gedächtnis" übersetzt worden.

Durchgesetzt hat sich Achtsamkeit. So lernten es Intellektuelle wie Hermann Hesse 1921 nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs in der Neuauflage der Buddha-Reden kennen. Sie waren der westlichen Zivilisation überdrüssig. Auch für den Psychotherapeuten Burkhard Moisich ist die buddhistische Achtsamkeit ein Gegenentwurf…

"... zu dem Existenzentwurf, den unsere Gesellschaft normalerweise anbietet und auch fordert, Leistung zu bringen, sich zu etwas zu zwingen, voranzukommen, ständig nach irgendwelchen Konsumreizen sich auszurichten, Erregung, Aufregung, Spannung in Kinos oder sonstigen Zerstreuungen zu suchen. Da ist es wirklich ein ziemlich radikaler Gegenentwurf und bringt die Leute mehr zu sich selber."

Vom therapeutischen Einsatz zur Wellnessmode
Als Wahrnehmung von Körper- und Geistregungen werden Achtsamkeitstechniken in der Trauma-Therapie, bei der Behandlung von Depressionen und Angststörungen, Schmerzen und Stress-Symptomen eingesetzt. Das Interesse der Psychotherapeuten für buddhistische Techniken setzte in den 1960er Jahren ein. Ende der 1970er entwickelte der amerikanische Molekularbiologe Jon Kabat-Zinn sein Verfahren der achtsamkeitsbasierten Stressreduktion und setzte es erfolgreich bei Schmerz- und Stressgeplagten ein.

Vom psychotherapeutischen Einsatz zur Lifestyle- und Wellnessmode war es dann nur ein kurzer Weg. Die Attraktivität der Achtsamkeit liegt vor allem darin, dass sie über eine verfeinerte Selbstwahrnehmung hilft, die äußeren Zwänge und den Druck im Leben zu bewältigen. Dabei soll ein waches und vertieftes Erleben des aktuellen Moments zu mehr Ruhe, Gelassenheit und Erfüllung führen. Hinzu kommt, wie Moisich meint, dass Achtsamkeit recht unkompliziert zum Einsatz kommen kann.

"Das Konzept ist einfach und absolut logisch nachvollziehbar für jeden und sehr eingängig. Je mehr Sie das üben, umso mehr wird es von bloß mal einem Zustand zu einer inneren Haltung und Sie haben dann die Möglichkeit, Ihr Leben bewusster zu leben und auch bewusster Entscheidungen zu treffen."

Das ist ein Anliegen des Buddhismus. Achtsamkeit gilt hier als Türöffner zum Verständnis der eigenen Regungen mit dem Ziel, heilsam für sich und andere zu sein, geistige Freiheit zu erlangen - und eine Art kosmische Verbindung zu allen Wesen. Das erfordert tieferes Eindringen. Mode reicht da nicht aus. Wilfried Reuter sieht sie mit buddhistischer Gelassenheit.

"Ich habe nichts dagegen, wenn wir diesen Achtsamkeit-light-Begriff im Zusammenhang mit bestimmten Wellness-Angeboten benutzen. Dennoch sollten wir nicht vergessen, dass Achtsamkeit sehr viel tiefgründiger zu verstehen ist und uns auch einen sehr viel weiteren Weg öffnet."
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