Ein atemberaubender Bildungsroman

Novelist Jeanette Winterson
Novelist Jeanette Winterson © picture alliance / dpa / Fiona Hanson
08.02.2013
Es fällt schwer als Leser, mit der Erzählerin Jeanette Winterson in ihrer Selbstgerechtigkeit, Indiskretion und Ich-Bezogenheit zu sympatisieren. Und doch ist ihr nun vorgelegter Bildungsroman atemberaubend: Die Geschichte eines benachteiligten Mädchens, das es nach Oxford schafft und eine glanzvolle Karriere macht.
Das literarische Debüt von Jeanette Winterson im Jahr 1985 war eine Sensation. In dem unverkennbar autobiografischen Roman "Orangen sind nicht die einzige Frucht" erzählt eine 26-jährige Frau aus der Arbeiterklasse von ihrem bizarren Aufwachsen in einer nordenglischen Industriestadt. Ihre Adoptiveltern gehören einer radikalen religiösen Sekte, einer Pfingstgemeinde, an und wollen aus der Tochter eine Missionarin machen. Stattdessen verliebt sie sich mit sechzehn in ein Mädchen, wird von der Gemeinde einem dreitägigen Exorzismus unterzogen, was aber nichts hilft. Schließlich wirft ihre Mutter sie aus dem Haus. Jeanette ist frei, ein neues Leben zu beginnen.

Doch das Hinter-sich-Lassen scheint nicht recht geklappt zu haben. Sonst hätte Jeanette Winterson sich wohl kaum veranlasst gesehen, sich ein Vierteljahrhundert später abermals mit ihrer (inzwischen verstorbenen) Adoptivmutter und deren Erziehungsmethoden auseinanderzusetzen. Die Autorin nennt ihr erstes Buch eingangs eine "Verhüllungsgeschichte" und fügt hinzu:

"Am traurigsten stimmt mich, dass ich eine Geschichte geschrieben habe, mit der ich leben konnte. Die andere war zu schmerzhaft. Die andere hätte ich nicht überlebt."

Sollte hier angedeutet werden, dass den Leser nun eine Enthüllungsgeschichte erwarte, so sieht er sich bald getäuscht: "Warum glücklich statt einfach nur normal?" wartet nicht mit neuen Offenbarungen auf, sondern rekapituliert in vielen Details die emotional aufgeladene Jugend- und Entwicklungsgeschichte, die man schon kennt.

Mrs. Winterson ist eine apokalyptische, zwanghafte Person, gefangen in ihrem übermächtigen Endzeit-Bewusstsein, die jede Lebensregung von Daseinsfreude außerhalb des Gottesdienstes als sündig verdammt und mit stundenlangem Einsperren im Kohlenkeller bestraft. Sie duldet keine Bücher im Haus außer der King-James-Bibel und den König-Artus-Sagen; sie verbrennt die Bücher, die Jeanette unter ihrer Matratze versteckt hat; sie bewahrt in der Schublade einen Revolver auf; und immer, wenn sie auf ihre Adoptivtochter böse ist (also sehr oft), sagt sie, der Teufel habe sie ans falsche Bettchen geführt.

Das Buch ist einerseits die Abrechnung eines ungeliebten Kindes mit einer lieblosen Mutter und ein Kampf mit den eigenen ungeklärten und widersprüchlichen Gefühlen. Zum anderen wird die Suche nach der leiblichen Mutter erzählt, denn das Gefühl, schon als Baby abgelehnt und verstoßen worden zu sein, lässt die Ich-Erzählerin nicht ruhen.

Der erste Teil des Buches ist monströs, der zweite spannend, ohne dass einem die Erzählerin Jeanette Winterson in ihrer Selbstgerechtigkeit, Indiskretion und Ich-Bezogenheit sonderlich sympathisch würde. Dahinter steht freilich ein atemberaubender Bildungsroman, in dem es ein benachteiligtes, aber begabtes Mädchen aus der Arbeiterklasse aus eigener Kraft nach Oxford schafft und eine zwar umstrittene, aber glanzvolle literarische Karriere macht. Und als ungewöhnlicher Entwicklungsroman ist "Warum glücklich statt einfach nur normal?" dann doch eine lohnende Lektüre.

Besprochen von Sigrid Löffler

Jeanette Winterson: "Warum glücklich statt einfach nur normal?"
Aus dem Englischen von Melanie Schmalz
Hanser Berlin Verlag, Berlin 2013. 252 Seiten, Euro 18,90

Links auf dradio.de:

Zweite Chance für die Menschheit- Jeanette Winterson: "Die steinernen Götter"