Eilige Abstimmung zu Hilfspaket "ist eine Verhöhnung des Bundestags"

Marco Bülow im Gespräch mit Christopher Ricke · 30.11.2012
Vor der Entscheidung über neue Hilfen für Griechenland hat der SPD-Abgeordnete Marco Bülow die Informationspolitik der Bundesregierung und zunehmende Machtlosigkeit der Parlamentarier kritisiert.
Christopher Ricke: Heute tritt der Bundestag zusammen, um mit großer Mehrheit dem jüngsten Griechenland-Rettungspaket zuzustimmen. Das wird auch klappen, weil die relevanten Parteien auf Kurs sind. Auch wenn es einzelne Abweichler gibt – die Grünen und die SPD tragen das Paket mit, da muss man sich keine großen Sorgen machen. Die Sorgen sind vielleicht eher an einer anderen Stelle angebracht, nämlich bei der Frage: Verstehen unsere Volksvertreter, was sie da entscheiden und sind sie wirklich frei in ihrer Abstimmung? Ist das Parlament vielleicht zu einer Art Zustimmungsmaschine verkommen, die abnickt, was Fachleute und Fraktionsvorsitzende vorgeben?

Ich habe mit dem SPD-Abgeordneten Marco Bülow gesprochen, der ist Experte für Energiepolitik, aber er hat vor zwei Jahren ein Buch geschrieben: "Wir Abnicker – Über Macht und Ohnmacht der Volksvertreter". Herr Bülow, ist das denn jetzt heute ein Tag der Macht oder ein Tag der Ohnmacht für die Parlamentarier?

Marco Bülow: Ja, leider ein absoluter Tag der Ohnmacht, und ich habe das Gefühl, dass es leider immer schlimmer wird, dass in immer kürzeren Verfahren Abstimmungen erfolgen zu wirklich relevanten Positionen, relevanten Geldbeträgen, fast keine Diskussionen dazu stattfinden, sehr viel Papiere erst kurz vor der Abstimmung bereitgestellt werden und damit keine Diskussion mehr möglich ist – und damit auch kein vernünftiges Abstimmungsverfahren mehr möglich ist. Und dafür brauchen wir keine gewählten Volksvertreter, das könnten auch Beamte dann exekutieren.

Ricke: Aber es gab doch in den vergangenen Tagen, ja Wochen, ja Monaten, intensive Beratungen, ausführliche Briefings. Man weiß doch, worum es geht.

Bülow: Ja, das weiß man vielleicht im Groben, aber das weiß man natürlich dann nicht mehr speziell, weil die Beratungen haben ja jetzt erst in Europa an diesem Wochenende und am Montag stattgefunden. Und wir haben in der SPD-Bundestagsfraktion zum ersten Mal am Dienstag dann ein bisschen mehr darüber gehört und das bisschen mehr war dann ein zweiseitiges englisches Papier, was wir bekommen haben, wo im Prinzip nichts drinstand, und die ersten Papiere, wo dann ein bisschen dezidierter Auskunft gegeben wurde, haben wir erst im Laufe des Mittwochs bekommen.

Es kann nicht verlangt werden von einem Abgeordneten, dass er 200, 300 Seiten in ein, zwei Tagen durchliest, keine Fragen mehr stellen kann, höchstens noch in der eigenen Fraktion, aber dazu eigentlich keine Debatte mehr stattfindet, sondern gleich das alles beschließen soll. Das ist eine Verhöhnung des Parlaments und jedes freien gewählten Abgeordneten. Und ich wette damit, dass 95 Prozent, die da abstimmen, keine Ahnung haben, über was sie wirklich abstimmen.

Ricke: Na ja, aber so pessimistisch ist man ja bei Ihrer Fraktionsleitung eigentlich nicht. Da hieß es gestern, trotz vieler Vorbehalte stellen sich die SPD-Abgeordneten beim neuen Griechenland-Paket weitgehend geschlossen hinter die Führung – da vertraut man doch auch auf Expertise.

Bülow: Ja, man vertraut vielleicht auf Expertise, aber ich glaube schon, dass die Mehrheit meiner Fraktion mit mir darin einig ist, dass das Vorgehen, wie das Parlament hier vorgeführt ist, nicht zu ertragen ist und auch nicht zu akzeptieren ist. Man fühlt sich dann aber als europäische Partei verpflichtet, diesen Weg insgesamt mitzugehen, weil man inhaltlich da hauptsächlich der gleichen Meinung ist, aber von der Vorgehensweise finden das viele unangebracht. Ich glaube nur, dass dieses "unangebracht" irgendwann mal dazu führen muss, dass man auch Nein sagt, weil ansonsten diese Regierung das immer wieder so machen wird. Und dieser Vorgang ist ja auch nicht zum ersten Mal so passiert, und deswegen muss man irgendwann mal sagen: Wir wollen so eine Vorgehensweise nicht noch dadurch unterstützen, dass wir mit Ja stimmen, auch wenn wir es vielleicht inhaltlich richtig finden.

Ricke: Also Sie finden es inhaltlich vielleicht richtig, aber Sie stimmen heute mit "nein"?

Bülow: Ich habe auch inhaltlich noch einige Probleme, also bei mir mischt sich es auch ein bisschen, weil ich auf der anderen Seite immer nur sehe, dass wir viele Geldbeträge zur Verfügung stellen, auf der anderen Seite aber es immer noch kein Wirtschaftsaufbauprogramm für Griechenland gibt, immer noch keine Grundlagen gesetzt werden in Europa wie Finanztransaktionssteuer und so weiter, um überhaupt mal anders wieder ein Finanzsystem und auch ein Wirtschaftssystem aufzubauen, gerade in den Ländern in Südeuropa, sondern immer wieder neue Geldbeträge zur Verfügung gestellt werden. Also ich habe auch inhaltliche Probleme damit. Aber heute ist mein Hauptpunkt die Vorgehensweise der Regierung, weil dann braucht man wirklich kein Parlament mehr. Wir sind eigentlich das Zentrum der Demokratie, dort, wo die Entscheidungen getroffen werden, aber diese Position gibt man auf, wenn man immer nur dem folgt, was die Regierung vorgibt, ohne die Chance zu haben, wirklich darüber zu debattieren.

Ricke: Es gibt noch einen weiteren Grund, der dazu führen soll, dass die SPD-Fraktion – mit einigen Ausnahmen, zu denen man Sie zählen darf – doch geschlossen antritt, und zwar ist das der Kanzlerkandidat: Man will Peer Steinbrück nicht blamieren. Er hat sich vor der Fraktion geäußert, und dann waren auch alle brav auf Kurs. Beschädigen Sie jetzt Ihren eigenen Mann an der Spitze?

Bülow: Ja, ich glaube, darum geht es nicht in erster Linie, und auch Peer Steinbrück hat in der Fraktion deutlich gemacht, dass er die Vorgehensweise nicht in Ordnung findet und dass eine Debatte normalerweise angebracht gewesen wäre. Und auch er hat erhebliche Kritikpunkte an der Politik der Regierung, und die kann ich alle unterschreiben und alle auch tragen – ich komme nur dann bei der letztendlichen Entscheidung, wie man abstimmt, zu einem anderen Urteil als der Kanzlerkandidat. Deswegen kann ich nicht sehen, dass ich ihn da beschädige, weil da bin ich nicht einem Kanzlerkandidat verpflichtet, sondern vor allen Dingen meinem Gewissen, und ich kann es nicht mehr mittragen, dass Entscheidungen getroffen werden, die ich nicht nachvollziehen kann, die unsere Experten zum großen Teil nicht nachvollziehen können und die nicht ausreichend debattiert werden. Und darüber habe ich vor allen Dingen heute zu entscheiden.

Ricke: Diese Missstimmung gibt es durchaus auch in anderen Fraktionen. Tun Sie sich da mit Kollegen zusammen, bilden Sie, ja, ich nenne es mal eine Art Renitenzzentrum?

Bülow: Nein, auf gar keinen Fall, das ist meine ganz persönliche Entscheidung, und die muss jeder für sich treffen, in jeder Fraktion einzeln. Ich kann aber nur jeden Abgeordneten aufrufen, der möchte, dass er in Zukunft noch ernst genommen wird, der möchte, dass das Parlament in Zukunft noch ernst genommen wird, dass man das irgendwann auch mit einem Nein deutlich machen muss – ansonsten lernt diese Regierung nicht dazu, dass es ein Parlament gibt, das eigene Rechte besitzt und dass es auch die Pflicht besitzt, diese Rechte geltend zu machen. Und das erhoffe ich mir in jeder Fraktion, und je mehr es werden, desto mehr wird dann auch irgendwann drauf gehört werden.

Wenn wir das immer alle mitmachen, dann wird es auch so weitergehen, dann wird man immer wieder diese Entscheidungen in letzter Sekunde treffen, egal, ob es eine Zeitnot gibt oder nicht, weil man damit alle Diskussionen verhindert. Ich habe das Gefühl, dass man Angst hat, dass wirklich diskutiert wird und dass dabei dann rauskommt, dass diese Entscheidung vielleicht doch nicht so gut ist und dass es vielleicht doch andere Möglichkeiten gegeben hätte, dass es Alternativen gibt. Aber wenn man es nicht zulässt, die Diskussion, dann ist es natürlich einfach, alle mitzunehmen, weil einfach die meisten keine Ahnung haben, über was sie denn wirklich abstimmen.

Ricke: Marco Bülow von der SPD, vielen Dank, Herr Bülow.

Bülow: Ja, ich danke auch.

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