Egon Bahr zum Tod von Günter Grass

"Er hat unter seiner Vergangenheit gelitten"

Der Schriftsteller Günter Grass verfolgt am 26.11.2014 in Hamburg die Benefizgala für verfolgte Autoren von der Autorenvereinigung PEN.
SPD-Politiker Egon Bahr © dpa / picture-alliance / Daniel Bockwoldt
Moderation: Hans-Joachim Wiese und Liane von Billerbeck · 13.04.2015
Mit dem Schriftsteller Günter Grass ist ein Mensch gestorben, den er seit Kriegsende als einen Freund empfunden habe, sagt der SPD-Politiker Egon Bahr. Die späte Enthüllung seiner Mitgliedschaft in der Waffen-SS finde er mutig, so Bahr.
Der SPD-Politiker Egon Bahr hat den verstorbenen Schriftsteller Günter Grass gemeinsam mit Bundeskanzler Willy Brandt in Berlin kennengelernt und ihn seither als verlässlichen und kritischen Freund geschätzt. "Seine Freundschaft oder seine Verbindung zu Brandt war immer eine kritische", sagt Bahr über Grass. Als Brandt 1992 starb, herrschte zwar gerade Funkstille zwischen Grass und der Partei. Dennoch habe der Schriftsteller Bahrs Idee unterstützt, einen Willy-Brandt-Kreis zu gründen und zwar mit dem Ziel zu untersuchen, ob und was von Brandts Gedanken für die Gegenwart und die Zukunft übrig bleibt.
Im Willy-Brandt-Kreis wurden Brandts Ideen diskutiert und auf ihre Gegenwartstauglichkeit untersucht. "Der Kern der Brandschen Erkenntnisse war: Friede ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts."
"Ein selbstbewusster Mensch"
Dass Günter Grass, der gerne mit dem moralischen Zeigefinger auf andere gezeigt habe, in seiner Autobiografie enthüllte, in der Waffen-SS gewesen zu sein, findet Bahr mutig, zumal Grass nicht dazu gezwungen worden sei. "Er war ein selbstbewusster Mensch, der unter seiner Vergangenheit - sogar unter der Annährung - gelitten hat", sagt Bahr. "Ich empfand seine Werke – von der Blechtrommel an bis zu seinen danach veröffentlichten Büchern – als eine Auseinandersetzung mit sich selbst."
Der Vorwurf des Antisemitismus gegenüber Grass nach der Veröffentlichung seines Gedichts "Was gesagt werden muss" hält Bahr für absurd: "Die Vorstellung, dass ein Mensche der mit Brandt so befreundet war, antisemitische Anwandlungen haben könnte oder Neigungen haben könnte, war so grotesk, dass es sich nicht lohnte, sich damit zu beschäftigen."
Wie Egon Bahr seinen Freund Günter Grass in Erinnerung behalten wird? "Ein kritischer Freund, viel zu früh gestorben", sagt Bahr.

Programmhinweis:

Aus aktuellem Anlass ändern wir unser Programm. In unserer Sendung "Fazit" erinnern wir ab 23:05 Uhr ausführlich an den Literaturnobelpreisträger, unter anderem im Gespräch mit dem Schriftsteller Ingo Schulze. In "Studio 9" sprechen wir morgen um 07:40 Uhr mit dem deutsch-französischen Publizisten Alfred Grosser über die Frage, ob Grass' Tod das Ende der einflussreichen Intellektuellen markiert. Und in der Sendung "Lesart" erinnert sich ab 10:07 Uhr der Autor F.C. Delius an Günter Grass.

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