Dževad Karahasan

    Von Tobias Wenzel · 30.08.2013
    Warum fährt Dževad Karahasan nie mit dem Auto zum Friedhof? Und was sagt der bosnische Schriftsteller, wenn er mal wieder mit den Toten spricht?
    "Da sieht der Friedhof wie ein Garten aus, eine Wiese mit schönen weißen Steinen wie die Blumen. Das finde ich schön, gut."

    Dževad Karahasan ist genervt. Eigentlich möchte er mir in Ruhe vom muslimischen Bergfriedhof Ravne Bakije erzählen, während wir die Innenstadt Sarajevos verlassen und unseren Aufstieg zu ebendiesem Friedhof beginnen. Aber die Autos fallen dem bosnischen Autor immer wieder ins Wort:

    "Diese arme Stadt stirbt buchstäblich unter dem Terror der Autos."

    Meinen Vorschlag, mit einem Taxi zum 200 Meter über der Stadt gelegenen Friedhof zu fahren, hatte Karahasan abgelehnt. Nun erklärt er warum: Er empfinde es als "unanständig", mit dem Auto die Toten zu besuchen. Trotz der Autos möchte Dževad Karahasan in dieser Stadt bleiben. Mit Sarajevo habe er seinen Schicksalsort gefunden.

    "In Sarajevo lebe ich sehr gut mit der Gewissheit, dass ich sterben werde. Ich freue mich schon darauf."

    Manchmal stellt sich Dževad Karahasan zufrieden vor, wie die Sonne über dem Friedhof Ravne Bakije scheint und er als ein Toter im Erdreich liegt.

    "Wenn ich in Sarajevo wirklich unter Freunden sein will, muss ich zum Friedhof gehen. Denn inzwischen sind beinahe alle meine Jugendfreunde im Krieg umgekommen oder nach dem Krieg gestorben."

    Dževad Karahasan auf dem Friedhof Ravne Bakije
    Dževad Karahasan auf dem Friedhof Ravne Bakije© Tobias Wenzel/ Knesebeck Verlag

    Wir haben den Aufstieg hinter uns. Wir betreten den alten Teil des Friedhofs, auf dem Dževad Karahasan einmal beerdigt werden möchte. Hier sind die meisten Gräber anonym und fast nie eingefriedet. Wo kein Grabstein ist, wächst Gras.

    "Der Tote löst sich in die Welt auf, verschwindet im Fluss des Lebens. Das finde ich sehr schön. Das passt gut zu meinem Erleben des Todes."

    Bis in die 70er-Jahre wurde der Friedhof Ravne Bakije genutzt und dann, zwanzig Jahre später, im Krieg wieder verwendet. Es fehlte andernorts der Platz für die geschätzten 11 000 neuen Toten.

    "Dreieinhalb Jahre wuchsen in Sarajevo nur die Friedhöfe. Die Stadt war mit dem Rest der Welt durch einen unterirdischen Tunnel verbunden. Wie eine Nabelschnur war dieser Tunnel die einzige Verbindung der Stadt Sarajevo mit der Welt. Aber aus diesem Anwachsen der Friedhöfe, aus dem Tod heraus, wurde diese Stadt neu geboren."

    Der Tod ist für Karahasan ein Übergang zu einem Neuanfang. Wir würden alle in irgendeiner Form weiter existieren.

    "Ich glaube, dass die Welt voller Geister ist. Wir sind nur nicht mehr imstande, mit ihnen zu kommunizieren. Wir hören die Sprache der Geister, der Pflanzen nicht mehr."

    Dževad Karahasan schaut hinab auf die Dächer Sarajevos und genießt den spektakulären Sonnenuntergang.

    "Ich muss gestehen: Sehr oft sind mir meine lieben Toten viel näher als die lebendigen Menschen, die ununterbrochen telefonieren und sich freudevoll per Satellit anschreien. Immer öfter sage ich zu meinen lieben Toten: ‚Ich komme. Ich komme zu euch.‘"

    "Dževad Karahasan, Bosnien und die Herzegowina, Sarajevo, der Friedhof ist Ravne Bakije"