documenta 14 - Der Parthenon der Bücher

Eine Installation erzählt von der Zensur

Die Installation der argentinischen Künstlerin Marta Minujin "The Parthenon of Books" (Parthenon der Bücher) auf der documenta 14 in Kassel.
Die Installation der argentinischen Künstlerin Marta Minujín "The Parthenon of Books" (Parthenon der Bücher) auf der documenta 14 in Kassel. © Deutschlandradio / Manfred Hilling
Von Astrid Mayerle · 09.06.2017
Der Parthenon der Bücher von der argentinischen Konzeptkünstlerin Marta Minujin ist ein Highlight der documenta 14. Es besteht aus Büchern, die weltweit auf den Zensurlisten von Regimen standen. Warum wurden diese Bücher verboten?
Aus der Ferne wirken die bunten Cover wie die zahllosen Steinchen eines Mosaiks. 50.000 Bücher winden sich um die Säulen des "Parthenon of Books". Bis zu 14 Meter hoch hängen sie an einem Metallgerüst, dem maßstabgetreuen Nachbau des Parthenons von Athen, dem größten Tempel auf der Akropolis.
"Ziel ist es ja, die Bücher danach wieder weiterzuverwenden und zurückzugeben an die Besucher. Daher haben wir geschaut, welche Plastiktüte kann ich verwenden, welche UV-Strahlung kommt in den 100 Tagen auf ein Buch? Ich will das Buch ja nicht verblichen haben. Wie bleibt das wasserdicht?"
Martin Fokken, Mitarbeiter des technischen Teams recherchierte zusammen mit seinen Kollegen über ein halbes Jahr lang und befragte Konservatoren, wie die Bücher den documenta-Sommer am besten heil überstehen. Das werden sie jetzt sicher, denn jedes Buch haben Martin Fokken und seine Kollegen einzeln in transparente Folie eingeschweißt, die die bunten Cover zum Teil großzügig rahmt. Daher spiegelt sich die Sonne auf der Oberfläche und in den Räumen zwischen den Büchern.

Viele tausend Bücherspenden

Zweifellos ist der "Parthenon of Books" – so nennt die Argentinierin Marta Minujin ihre Installation – eines der logistisch aufwendigsten Werke der Weltkunstschau in Kassel. Bereits im Oktober 2016 startete das documenta-Team einen Spenden-Aufruf auf der Frankfurter Buchmesse: Privatleute und Verlage wurden aufgefordert, Bücher mit einer besonderen Geschichte zu spenden, nämlich solche, die ehemals verboten waren oder es noch immer sind. Henriette Gallus, Pressesprecherin der documenta:
"Obwohl wir auf den Spendenformularen nach so genannten 'hard facts' gefragt haben, haben trotzdem viele private Spender Notizen hinterlassen, was dieses Buch für sie persönlich bedeutet hat. In den meisten Fällen sind es Kommentare, wie erstaunt sie davon waren, wie viel Prozent ihres Bücherregals zu diesen ehemals oder immer noch verbotenen Büchern zählt."

Verbotene Bücher 1: von Marx bis Roth

(Collage verbotene Bücher 1:)
Philip Roth: Portnoys Beschwerden
Karl Marx/Friedrich Engels: Ausgewählte Schriften
Bret Easton Ellis: American Psycho
Bertolt Brecht: Der gute Mensch von Sezuan
Anna Seghers: Das siebte Kreuz
Thomas Mann: Der Tod in Venedig
Heinrich Mann: Der Untertan
Joseph Conrad: Herz der Finsternis
Vladimir Nabokov: Lolita

Auch die Bibel war verboten

Henriette Gallus: "Manche haben auch gesagt, das ist das Lieblingsbuch meiner Kindheit – Erich Kästner, die Grimmschen Märchen, die Bibel. Von der Bibel haben wir wahnsinnig viele Einsendungen bekommen, in ganz vielen Schmuckausgaben. Das größte eingesandte Buch war eine Bibel, die ungefähr 80 Zentimeter hoch und 60 Zentimeter breit war. Und da war die Notiz, dass es kein Bewusstsein darüber gab, dass auch die Bibel zu den Texten gezählt hat, die mal verboten waren oder das noch immer sind auf der Welt."
Die argentinische Künstlerin Marta Minujin steht am 20.10.2016 auf der Buchmesse in Frankfurt am Main (Hessen) an einem Modell ihrer Installation «The Parthenon of Books (Der Parthenon der Bücher)».
Die argentinische Künstlerin Marta Minujin steht am 20.10.2016 auf der Buchmesse in Frankfurt am Main (Hessen) an einem Modell ihrer Installation «The Parthenon of Books (Der Parthenon der Bücher)».© picture alliance / dpa / Arne Dedert
60 Prozent der Bücher stammen von Verlagen. Viele deutsche Unternehmen beteiligten sich mit umfangreichen Spenden – C. H. Beck, S. Fischer, Hanser, Klett-Cotta, Suhrkamp –, auch einige internationale, vor allem britische und US-amerikanische Häuser wie Penguin und Random House.
"Das sind große Boxen, die auf dem Schiff aus Amerika angekommen sind."
Die Standorte jener Verlage, die sich gar nicht oder nur mit wenigen Büchern beteiligt haben, erzählen einiges über aktuelle Zensur in ihrer Heimat, etwa in der Türkei:
"Leider musste man feststellen, dass die angespannte politische Lage vor Ort immer noch so massiv ist, dass viele Verlagskollegen Bedenken hatten, Bücher zu spenden oder die Verlagskollegen, die das gerne gemacht hätten, meinten, dass wir den Zoll mit dieser Buchsendung nie passiert hätten. In China wiederum war's interessant, weil die Verlage, die wir angesprochen hatten, da waren einige darunter, die nicht geantwortet haben, aber von denen, die geantwortet haben, kam: 'Es gibt keine verbotenen Bücher in China.'"
Frei nach dem Motto, wo kein zensiertes Buch, da keine Zensur.
Hier zeigt das in jeder Hinsicht ambitionierte Projekt seine Grenzen, denn es kann sich nur auf Bücher beschränken, die nach ihrer Drucklegung verboten wurden. Doch unzählige Mechanismen greifen bereits vorher: Denkverbote, Bespitzelungen, Drohungen, Prozesse, Haftstrafen, Morde, dazu Zensurbehörden.

Staatskonforme Begriffe gewünscht

In der DDR achteten Lektoren auf staatskonforme Formulierungen, entfernten bestimmte Begriffe oder tauschten sie. Kurioses Beispiel: in einem Angelratgeber wurden die in der Bundesrepublik üblichen Namen von Fischarten ersetzt.
Einzelne Bücher von chinesischen, algerischen und südafrikanischen Autoren stammen daher von privaten Spendern aus Deutschland wie Ulla Böttcher. Die pensionierte Kunsthistorikerin und Grafikerin las in der regionalen Tageszeitung von dem Projekt Marta Minujins und begeisterte sich sofort dafür. Denn seit Jahrzehnten sammelt Ulla Böttcher in der Nazizeit verbotene Literatur.
Sie hat sich vor allem auf den jüdischen Kunsthistoriker Paul Westheim spezialisiert:
"Ich habe gespendet von Paul Westheim 'Helden und Abenteurer', erschienen 1925. Das war ein ganz populäres Buch, um in Kunst einzuführen. Und dann zwei Bände 'Orbis pictus'. Das war schon eher für die Bibliothek von Künstlern oder Kunstwissenschaftlern geschrieben, und davon habe ich mich getrennt, weil ich diese Bücher doppelt habe. Sonst hätte ich Sachen, die ich so mühsam gesucht habe vor Jahrzehnten, nicht gespendet."

Paul Westheim - von den Nazis verjagt und beraubt

Paul Westheim förderte als Kulturjournalist und Sammler Otto Dix, George Grosz und Oskar Kokoschka – Maler, die Hitler als so genannte entartete Künstler diffamierte. Westheim gab auch die Zeitschrift "Kunstblatt" heraus. Da sich die Niederlassung des Verlags in unmittelbarer Nähe der Berliner Gauleitung befand, erlebte Westheim den Aufstieg des Regimes und dessen antijüdische Hetzkampagnen aus nächster Nähe. 1933 floh er nach Paris und ließ seine Kunstsammlung bei seiner Freundin Charlotte Weidler in Berlin zurück.
In der Exilzeitung "Pariser Tagblatt" veröffentlichte Westheim den Roman "Heil Kadlatz", die Geschichte eines Mitläufers, der in manchem an Heinrich Manns Roman "Der Untertan" erinnert. 1935 wurde ihm die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt. Ulla Böttcher wohnt in der Nähe von Paul Westheims Geburtsort Eschwege, eine Autostunde östlich von Kassel. Bereits in den 80er-Jahren interessierte sich für den Emigranten.
"Für mich ist er erstens ein ins Ausland gejagter, beraubter Jude, der alles verloren hat, zweimal knapp der Internierung in Frankreich entgangen ist, und den man nach dem Krieg nicht entschädigt hat und auch nicht wiedergeholt hat. Das ist jetzt die traurige Seite. Die positive Seite ist, dass er diese glanzvolle Berliner Zeit so mitgeprägt hat, eine der Zeitschriften geleitet hat, Ausstellungen gemacht hat.
Dann kam so ein Lokalpatriotismus hinzu, dass aus dem kleinen Eschwege ein ganz bekannter, nicht nur in Europa bekannter Mann stammt. Im Exil in Mexiko hat er noch einmal ganz neu angefangen. Das waren die pure Bewunderung und der pure Lesegenuss."

70.000 Bücher auf der "List of Banned Books"

Parallel zu Marta Minujins "Parthenon of Books" erstellte eine Studentengruppe der Uni Kassel eine so genannte "List of Banned Books". 70.000 Titel umfasst die Liste. Es ist die längste, die bislang zu verbotenen Büchern erstellt wurde. Florian Gassner, Literaturwissenschaftler, hat mit seinen Studenten unterschiedlichste Quellen benutzt:
"Zum einen haben wir einer Gruppe von mehreren Leuten gesagt, es gibt von der Uni Wien ein Projekt, in dem die Zensur vom 18. bis zum 19. Jahrhundert erfasst wurde, alle Titel insgesamt. Das war ein Riesenaufwand, den die betrieben haben.
Aber wir hatten auch eine Studentin, die gesagt hat, mich persönlich interessiert die Zensur in der Türkei und nicht nur in der Gegenwart, sondern historisch. Die hat dann auf Eigeninitiative eine Mitstudentin gefunden, die türkisch spricht und die haben zusammen Datenbanken durchforscht zur Zensur in der Türkei und kamen so auf 1.000 Titel, die sie eingespeist haben."

Auch in Afrika und Asien wird zensiert

Wer sich näher mit der Zensur beschäftigt, bemerkt bald, dass sie für bestimmte Epochen, Räume oder Institutionen vor allem in Westeuropa sehr gut erforscht ist – für den Nationalsozialismus etwa oder die katholische Kirche. In diesen Fällen legten die Zensoren selbst Listen an. Damit ist die Grundlagenarbeit für Forscher schon geleistet. Denn sie können auf diese Listen zurückgreifen. Wie sieht es in anderen Regionen aus, in osteuropäischen, afrikanischen oder asiatischen Ländern, in Russland, Simbabwe, Nordkorea oder Syrien?
"Wir haben uns mit diesen Ländern nicht auseinandergesetzt. Was man sagen kann, dass es in diesen Ländern noch eine ganz andere Form von Zensur gibt, die bei uns in Deutschland nicht mehr greift, dass sie Gruppen dermaßen marginalisieren – und wir sprechen jetzt von Armen, Schwulen, Lesben, von sexuell anders Orientierten, von religiösen Minderheiten, dass denen im öffentlichen Raum das Wort entzogen ist, dass die keine Chance haben, sich zu äußern, nicht im Journalismus, der Belletristik und Sachbüchern. Hier wäre ein Riesenfeld abzuarbeiten, aber das ist nicht nur von außerhalb völlig undurchsichtig.
Unsere Hoffnung wäre, dass es für die Forschung bedeutet, dass man sich dessen annimmt. Denn was wir gemacht haben – wenn man das als Pyramide betrachtet, ist es der kleinste linke Stein, der da steht. Dieses Projekt 'Zensur in Österreich' hat Jahrzehnte daran gearbeitet, Daten zu sammeln und einzuspeisen und grafisch aufzubereiten mit einer Suchmaske für Nutzer.
Das ist ein unglaublicher Aufwand, das so zu machen, dass es wissenschaftlich vertretbar ist. Wir haben noch keine durchsuchbare Datenbank gemacht, es ist noch nicht als roher Datensatz öffentlich. Wenn etwas herauskommen soll, dann wäre es, dass dies nur der Startschuss ist und das hier ein Forschungsfeld brachliegt, das man noch sehr schön abarbeiten könnte."

Verbotene Bücher 2: von Zuckmayer bis Seghers

(Collage: Liste verbotener Bücher 2)
Carl Zuckmayer: Der Hauptmann von Köpenick
Erich Kästner: Was nicht in euren Lesebüchern steht
Thomas Mann: Die Buddenbrooks
Bertolt Brecht: Das Leben des Galilei
Bertolt Brecht: Der gute Mensch von Sezuan
Anna Seghers: Das siebte Kreuz
Erich Mühsam: War einmal ein Revoluzzer

Am Ausstellungsort verbrannten die Nazis Bücher

Marta Minujins "Parthenon of Books" erhebt sich auf dem Friedrichsplatz in Kassel. Hier fand am 19. Mai 1933 eine der zahllosen Bücherverbrennungen im Reich statt. 30.000 Schaulustige hatten sich versammelt, als die SA- und SS-Truppen um den Scheiterhaufen aufmarschierten, der mehrere tausend Bücher in Flammen aufgehen ließ. Florian Gassner:
"Die große Leistung von Kunst ist, dass sie uns anleitet, assoziativ zu denken, dass wir uns in einer Kette von Assoziationen verlieren, die sich nicht unbedingt auflösen lässt. Man kann daher nicht unbedingt sagen, dass die Tatsache, dass das auf einem Platz stattfindet, auf dem Bücherverbrennungen organisiert wurden, die Bedeutung des Kunstwerks ändert oder wie diese Veränderung sein wird.
Das lässt sich nicht eindeutig aufschlüsseln. Aber es ist ein zusätzliches Angebot an Bedeutung, dass wenn dort jemand steht und sich dessen vergegenwärtigt, dass diese Person vielleicht in einer Spirale zusätzlich über Zensur denkt, dass vielleicht eine neue historische Perspektive eröffnet wird oder eine neue emotionale Perspektive, die dem Kunstwerk dann womöglich eine nachdrücklichere Wirkung verleiht."
Die Kopfplastik des römischen Kaisers Augustus wurde 1961 bei Ausgrabungsarbeiten in Mainz gefunden. Undatierte Aufnahme.
Ließ Cäsars Schriften verbieten: der römische Kaiser Augustes. Die abgebildete Kopfplastik wurde 1961 bei Ausgrabungsarbeiten in Mainz gefunden. © picture-alliance / dpa / Göttert
Der Akt der Bücherverbrennung ist unter allen Zensurmaßnahmen sicher der barbarischste. Er ist keine Erfindung des Nationalsozialismus. Die ersten Bücherverbrennungen sind aus dem alten China 213 vor Christus überliefert: Damals verbot der regierende Kaiser den Pluralismus der philosophischen Schulen, fortan galt nurmehr die Staatsdoktrin. In Europa brannten die ersten Bücher um die Zeitenwende: Kaiser Augustus ließ die Schriften Cäsars verbieten und kontrollierte dadurch das Bild seines Vorgängers. Auch in Fragen des Glaubens griff Augustus durch, weiß der Literaturwissenschaftler Werner Fuld:
"Als er die Entscheidungsgewalt über alle Religionsfragen übernommen hatte, ließ er im Jahr 12 vor Christus mehr als 2.000 Orakelbücher und Weissagungsschriften beschlagnahmen und verbrennen. Eine vergleichbare Aktion hatte es im römischen Reich noch nicht gegeben. Beim Volk waren diese Schriften außerordentlich beliebt, jeder Bürger konnte selbst nachlesen, was die Zukunft angeblich so bringt. Das war nun per Dekret verboten. Da ging es also um die private Meinungsfreiheit."
Damit nicht genug: Augustus brachte auch die heiligen sibyllinischen Bücher aus dem Kapitol in seine Gewalt und hielt sie unter Verschluss. Wenn er aus diesen Texten zitierte oder sie interpretierte, vermochte ihn niemand zu kontrollieren.
Die umfangreichsten Buchexekutionen hat sicher die katholische Kirche zu verantworten: Im 13. Jahrhundert erreichten die Talmud-Verbrennungen in Paris unvorstellbare Ausmaße. Ganze Wagenladungen gingen in Flammen auf. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts entdeckte der Papst einen neuen Feind: Leo X. rief dazu auf, alle Schriften Martin Luthers dem Scheiterhaufen zu überlassen. Luther revanchierte sich und verbrannte die päpstliche Bannandrohungsbulle in Wittenberg.

Bücherverbrennungen gibt es auch im 21. Jahrhundert

Aus der Überzeugung, im Besitz der richtigen Lehre oder des richtigen Glaubens zu sein, wurde in der Französischen Revolution die Gewissheit, so und nicht anders für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit einzutreten. Die Maßnahmen blieben aber dieselben, schreibt Werner Fuld in "Das Buch der verbotenen Bücher": "Die Ehre des Peuple français gebot, dass nichts mehr an die Leidenszeit des Absolutismus erinnern sollte. Unter dem Banner der 'Gleichheit' wurden überall im Land die Schlösser gestürmt und verwüstet; die Bibliotheken gingen als Symbole feudalistischer Privilegien in Flammen auf."
Bücherverbrennungen sind keinesfalls ein historisches Phänomen: 2001 ließ der ägyptische Kulturminister die Lyrik des homosexuellen Dichters Abu Nawas in Flammen aufgehen, und in der südtürkischen Provinz Isparta rief ein Lokalpolitiker dazu auf, sämtliche Werke des Nobelpreisträgers Orhan Pamuk zu vernichten. Dessen Darstellung der grausamen Unterdrückung von Armeniern und Kurden durch die Türken verleumde die Türkei.
Wer in Kassel um den "Parthenon" herumgeht und so nah herantritt, dass er die einzelnen Titel erkennen kann, wird auch mehrere Bücher Orhan Pamuks entdecken.

Nach acht Jahren Tyrannei die Demokratie fördern

Marta Minujin: "Angesichts der kommenden Wahlen will ich – nach acht Jahren Zensur, Unterdrückung und Tyrannei – die Demokratie fördern. Ich dachte, das Beste, was wir tun können, ist die erste Demokratie zu erneuern, die sich in Griechenland vor etwa 2.400 Jahren etablierte. Dafür ist der Parthenon das offensichtlichste Zeichen."
1983, unmittelbar nach dem Ende der Militärdiktatur in Argentinien und vor den ersten demokratischen Wahlen, errichtete Marta Minujin ihren ersten Parthenon of Books. Im Gegensatz zu Kassel wurde der Akropolistempel in Buenos Aires nicht im Maßstab eins zu eins, sondern eins zu vier realisiert. Dennoch konnte die Ikone des Abendlands niemand übersehen, denn die Künstlerin hatte sich einen prominenten Platz ausgesucht: mitten auf einer Verkehrsinsel der 14-spurigen Avenida 9 de Julio.
Die 1943 in der argentinischen Hauptstadt geborene Künstlerin ließ Bücher sammeln, die von der Junta verboten worden waren. Henriette Gallus, Pressesprecherin der documenta:
"Der inhaltliche Unterschied ist sehr groß: 1983 in Buenos Aires hat Martha Minujin in Buenos Aires auf die Zensur der Militärjunta in Argentinien reagieren wollen. Das bedeutet, diese Bücher, die dort am Parthenon hingen 1983, waren eine gezielte Sammlung nur dieser verbotenen Titel. Sie hat sie in einer Nacht- und Nebelaktion mit den Verlagen, die diese Bücher nicht mehr vertreiben durften und praktisch in den Kellern und Lagern dieser Verlage vorrätig waren, gesammelt und an die Säulen gehängt."

In der Tradition von Beuys

In Kassel hat die Installation eine andere Ausrichtung und eine Nähe zur sozialen Skulptur...
"...die eher der Tradition von Beuys folgt, was ja ein guter Punkt ist, denn die beiden Arbeiten stehen sich ja auf dem Friedrichsplatz gegenüber. Hier haben sehr viele Menschen aus der ganzen Welt zu der Arbeit beigetragen, das heißt, die Ausrichtung der Bücher, die hier hängen, ist weitaus internationaler, als das in Buenos Aires der Fall war."
Marta Minujins Installation tritt in unmittelbaren Dialog mit Joseph Beuys "7000 Eichen": 1982 auf der documenta 7 lud der Künstler die Stadt Kassel und ihre Bewohner zur gemeinsamen Stadtbegrünung ein. 500 Mark kostete damals eine Baumspende. Beuys ließ über fünf Jahre hinweg 7000 Eichen pflanzen, von denen der erste und der letzte gesetzte Baum heute vor dem Fridericianum in unmittelbarer Nachbarschaft des "Parthenon of Books" stehen.
Ein Porträt von Joseph Beuys (1921-1986), Aufnahme circa 1985.
Ein Porträt des Künstlers Joseph Beuys.© imago/Leemage
Minujin und Beuys verbindet eine ähnliche Geste: Beide setzen auf die Spendenbereitschaft der Bevölkerung, sie initiieren ein von vielen Helfern getragenes Projekt. Bewusstseinswandel durch Interaktion: Beuys sah die Aufgabe der "sozialen Skulptur" in ihrem Weiterwirken in die Gesellschaft hinein.
Auch Marta Minujins Projekt besitzt einen starken gemeinschaftsstiftenden Charakter: Am Ende der documenta werden die Bücher unter den Besuchern verteilt – als ein Baustein der Erinnerung an das Parthenon of Books. Das ist eine starke symbolische Geste. Die Beteiligten ermöglichen das Weiterleben einstmals verbotener Bücher in der Öffentlichkeit und bekennen sich damit zu demokratischen Werten. Marta Minujins Installation steht auch für ein zentrales Anliegen der diesjährigen documenta, die den öffentlichen Raum als einen explizit politischen begreift.

Sogar "Harry Potter" ist dabei

Wer vor den gewaltigen Säulen des "Parthenon of Books" steht, entdeckt viele Kinder- und Jugendbücher, vor allem bekannte Klassiker: Mark Twains "Tom Sawyer und Huckleberry Finn", Grimms Märchen, Lewis Carolls "Alice im Wunderland", "Der Kleine Prinz" von Antoine de Saint-Exupéry, Erich Kästners "Emil und die Detektive", D. J. Salingers "Der Fänger im Roggen".
Henriette Gallus: "Bei 'Harry Potter' handelt es sich um ein spezielles Verbotsverfahren, das wir erst nach Diskussionen beschlossen haben mitaufzunehmen. Denn hier geht es nicht um ein staatliches Verbot oder ein organisiertes Verbot, sondern das ist eine Zensur, die subtil ist und dennoch hochfunktional. Denn sehr viele Eltern in den Vereinigten Staaten haben Einspruch dagegen eingelegt, dass 'Harry Potter' zusammen mit einigen anderen Kinderbüchern in den Schulbibliotheken vor Ort sein darf. Das heißt, alle der sechs oder sieben Teile von Harry Potter sind in den amerikanischen Schulbibliotheken nicht Teil der Bibliothek."
Am Ende fordern die Schüler noch ein Pflichtfach "Zaubertränke", dessen sich Harry in Hogwarts erfreuen darf!
Grimms Märchen sind nicht irrtümlich im Parthenon vertreten. Im kalifornischen Empire, 100 Meilen östlich von San Francisco, schwante der behördlichen Autorität beim Etikett auf der Flasche in Rotkäppchens Korb Unheil. Dort steht weder "Himbeersaft" noch "Coca Cola", vielmehr "Wein". Ein junges Mädchen, das auf öffentlichen Waldwegen Alkohol mit sich führt: ein klarer Fall für die Sittenpolizei.

Verbotsgrund: Unsittlichkeit

Ein Teil der Bücher in Minujins Parthenon wurde aus Gründen des Jugendschutzes oder aus sittlich-moralischen Motiven verboten: etwa James Joyces "Ulysses" oder Vladimir Nabokovs Roman "Lolita", in dem Humbert Humbert seine gerade mal 12 Jahre alte Stieftochter verführt. Solche Verbote dienten dem Schutz der Leser und scheinen zum Teil heute noch nachvollziehbar. Davon müssen jene staatlichen Zensurmaßnahmen unterschieden werden, die nicht genehme Positionen zu unterdrücken versuchen. Diese Bücher machen einen großen Teil des Parthenon of Books aus.
Deutschsprachige Literatur ist am stärksten vertreten, dennoch kommen DDR-Autoren etwas kurz. Die "List of Banned Books" verzeichnet zwar Heiner Müller und Stefan Heym, aber Erich Arendt, Sarah Kirsch und Erich Loest fehlen. Henriette Gallus, Pressesprecherin der documenta:
"Zensur in der DDR war ein sehr, sehr schwieriges Thema für uns, da die Zensur in der ehemaligen DDR ja weniger organisiert stattgefunden hat als während des Nationalsozialismus, wo es geordnete Listen gab, nach denen vorzugehen war."
Florian Gassner: "Ich hab zum Beispiel telefoniert mit den Kollegen in der Staatsbibliothek Berlin, und die haben mir auch erklärt, das lief größtenteils so ab, dass jeweils der Bibliotheksdirektor der Bibliotheken das bestimmen konnte, was in den Giftschrank kommt und was nicht. Das hat sich dann geändert, wenn der neue Direktor gekommen ist. Das ist dann ne Sache, wo unsere eigene Liste zu kurz kommt. Das können wir nicht wirklich nachvollziehen, außer wir gehen jetzt die ganzen Verwaltungsbücher durch, die auch alle zensiert sind."
Henriette Gallus: "Wir müssen die Lücken, die es in diesem Parthenon gibt, die müssen wir akzeptieren. Das ist auch eindeutig so gewollt von der Künstlerin. Das ist ein Parthenon, das in Kassel, Deutschland 2017 zustande gekommen ist. Das ist auch ein Zeugnis des Ortes und ein Zeugnis der Spender sowie des biografischen Hintergrunds der Spender, die hier leben."

14 Jahre ohne Prozess in Guantanamo

6.000 Exemplare des Guantanamo-Tagebuchs von Mohamedou Ould Slahi stiftete der Verlag Klett-Cotta.
Der Autor wurde von den USA 14 Jahre ohne Gerichtsverfahren in der berühmtesten Haftanstalt der Welt inhaftiert, weil sie ihn verdächtigten, für die Anschläge vom 11. September 2001 mitverantwortlich zu sein. Die USA erlaubten nach jahrelangem Zögern den Druck des zensierten Buches. Achteinhalb Seiten lang ist die längste der 2.500 Streichungen in der deutschen Ausgabe.
Henriette Gallus: "Das Buch hat es sehr weit um die Welt geschafft, und wir haben lange diskutiert im Team, weil die Richtlinien für die Auswahl sehr streng waren und diese Form der Zensur nicht mit unter die Auswahlkriterien fiel, einfach weil es uns zu dem Zeitpunkt nicht bewusst war. Und wir haben lange diskutiert und fanden, dass das ein sehr gutes Beispiel ist für eine moderne oder heutige Art der Zensur."

Wie man die Zensur unterwanderte

Mit der Geschichte der Zensur beginnt auch die Geschichte ihrer Unterwanderung. Werner Fuld:
"Kaiser Augustus hatte den allerersten Prozess gegen einen Historiker angestrengt, der zum Selbstmord gezwungen wurde und dessen Schriften verbrannt wurden. Aber Seneca schreibt, dass seine Anhänger seine Schriften auswendig gelernt hatten."
Wer einen Sympathisanten oder Freund in der Zensurbehörde hatte, konnte von Glück sprechen. Der Aufklärer Friedrich Nicolai erlebte dies:
"Nicht allein ganze Bücher wurden verboten; sondern wenn einzelne Stellen in den Büchern der Censur nicht gefielen, so wurden ganze Blätter und Bogen ausgeschnitten. Wer aber einen Freund unter den Sekretären der Censur hatte, der wusste es in die Wege zu richten, dass die Blätter, die ausgeschnitten werden sollten, nur durchgeschnitten wurden, so dass sie noch zu lesen waren; oder die ausgeschnittenen Blätter wurden auch wohl von den Unterbedienten auf die Seite gebracht und verkauft."

Im Ausland drucken

Eine sehr beliebte Methode war, im Ausland drucken zu lassen, wie es bereits der österreichisch-ungarische Dichter Nikolaus Lenau praktizierte:
Florian Gassner: "Lenau ist dann immer nach Schwaben gereist, um dort seine Gedichte zu veröffentlichen, die dann illegal eingeführt wurden. Dann wurde er eingeladen von der österreichischen Zensur, wurde gefragt, ob er das sei. Er sagte nein, dann haben sie ihm erklärt, wir wissen, dass sie es sind. Dann hat er gesagt, ich bin aber ungarischer Staatsbürger."
Als sich auch noch die katholische Kirche einmischte und Lenaus Gedichte auf den Index setzen wollte, baten die Zensoren darum, diesen Schritt auf keinen Fall öffentlich zu machen. Denn zensierte Bücher bekamen besondere Aufmerksamkeit.
Im Ausland zu drucken und die Bücher über die Grenze zu schmuggeln, bewährte sich für viele Autoren. Vladimir Nabokovs "Lolita" und James Joyces "Ulysses" waren in den USA und den UdSSR verboten, gelangten aber durch Netzwerke von Autoren und Literaturbegeisterten über die Grenze.

Der Literaturnobelpreis schützt bedrohte Autoren

Hinter Boris Pasternaks "Doktor Schiwago" steckt eine romanwürdige Geschichte: Sie beginnt damit, dass der Autor mehrere Abschriften des Manuskripts außer Landes schmuggeln lässt.
"Die Existenz des aus der Sowjetunion herausgeschmuggelten Romanmanuskripts spricht sich in der literarischen Welt herum. Um den Autor vor Übergriffen des Staates zu schützen, schlägt ihn Albert Camus im Frühsommer 1956 für den Nobelpreis vor."
Verfrüht, denn Pasternaks Hauptwerk liegt noch nicht gedruckt in seiner Muttersprache vor, was eine der Voraussetzungen für den Nobelpreis ist. Die CIA schaltet sich ein, Pasternak wird Teil der Propagandaschlacht im Kalten Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion. Sie möchte der Bevölkerung hinter dem Eisernen Vorhang zeigen, dass in ihrem Land nicht alles mit rechten Dingen zugeht und ihr die Werke der besten sowjetischen Autoren vorenthalten werden.
Der russische Schriftsteller Boris Pasternak (1890−1960) in einer undatierten Aufnahme
Der russische Schriftsteller Boris Pasternak (1890−1960) in einer undatierten Aufnahme© dpa / picture alliance
"Das Flugzeug, das Pasternaks Manuskript aus Mailand zum Übersetzer nach Rom bringen soll, wird nach Malta umgeleitet. Für zwei Stunden müssen alle Passagiere die Maschine verlassen. Diese Zeit genügt den Agenten, um das Manuskript im Flughafenbüro zu kopieren und wieder im Gepäck zu platzieren. Nun kann der Roman, in Den Haag gedruckt, auf Russisch erscheinen."
Der geglückte Schmuggel machte den Roman schlagartig bekannt. 30 Jahre später erscheint "Doktor Schiwago" auch in der Sowjetunion.

Bild gewordene Bibliothek

Marta Minujins "Parthenon of Books" kann man als eine Bild gewordene Bibliothek lesen. Die Installation gleicht den Bibliotheken mit einstmals verbotenen Schriften, etwa dem ehemaligen Gefängnis El Olimpo in Buenos Aires, das die unter der Militärdiktatur verbannten Bücher beherbergt, oder der Augsburger Universitätsbibliothek, die eine Privatsammlung mit 11.000 Bänden der schwarzen Liste aus der NS-Zeit aufbewahrt.
Marta Minujins Projekt sprengt allerdings die Dimensionen dieser Bibliotheken: Denn die Installation steht pars pro toto für alle jemals verbotenen Bücher weltweit und wird damit zu einer Art Mahnmal, einem temporären Memorial für die Freiheit der Gedanken und Weltsichten. Das "Parthenon of Books" beweist vor allem, dass das kollektive Gedächtnis der Menschheit stärker ist als alle Verbote und Zensurmaßnahmen.
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