"Disco Hurghada“ in Castrop-Rauxel

Migrantenförderung auf der Bühne?

Ein roter Theatervorhang
Ein roter Theatervorhang © picture alliance / dpa - Marcus Brandt
Von Christiane Enkeler · 09.11.2015
Was für eine Vorstellung: Man fährt in den Urlaub und gerät in eine Revolution! - Genau diesen Schrecken wählt die Theaterautorin Tania Folaji als Ausgangssituation für ihre bitterböse Groteske "Disco Hurghada" am Westfälischen Landestheater.
Roger und Renate sind ein deutsches Pärchen über 60 und ihnen passiert das: 2011 buchen sie in Ägypten einen Pauschalurlaub. Die beiden kommen zwar mit heiler Haut davon, nicht aber ihr Sohn Bob, 32, Mathematiklehrer und beladen mit einer generalisierten Angststörung. Er verbarrikadiert sich in einer Putzkammer, verzweifelt dort an seiner ganz persönlichen Angst und sprengt sich in die Luft. Fortan ist er "Salafisten-Bob"; die Eltern, die immer nur "gut" sein wollten, werden in einer Talkshow demontiert.
Für zwei Urlaubsbekanntschaften dagegen, Rosa und "Schnecke" Alexandra, sind Revolution und Explosion die reinste Erweckung: Alexandra, in Deutschland demotiviert und gepeinigt von ihrem "Erziehungsberechtigten, Papa Fall-Agent" vom Jobcenter, gründet die Bewegung "Junge Arbeitslose". Mit der Parole "Junge Arbeitslose aller Länder, vereinigt euch!" steht sie mit Megaphon am Flughafen, um den bei Bobs Explosion schwer verletzten ägyptischen DJ zu empfangen, der sich aber vor allem freut, legal einreisen zu können. Aber obwohl sie auf Facebook ordentlich Zustimmung erhält, schließt sich ihr am Terminal niemand an – bis auf Rosa, die zweite Urlaubsbekanntschaft. Ihre Botschaft ist wirr: irgendwie für "Zukunft" und für "Husni", den DJ. Rosa ist außerdem noch für "Inklusion". Sie sitzt im Rollstuhl und versucht, in Ägypten mit zu revolutionieren; dass man sie immer in Hauseingänge schiebt, irritiert sie nur am Rande.
Jeder bleibt für sich allein
Tania Folajis Stück lebt einerseits von den bösen Abgründen, die das grundsätzlich missverstehende "Verständnis" der Figuren füreinander mit sich bringt:
"Husni, wir sind beide gleich beschissen dran, nur auf einem anderen Level. Aber das Gefühl, das wir haben, das ist das Gleiche", sagt Alexandra. Während Rosa, selbst Opfer falschen Mitgefühls, Renate vereinnahmt: "Renate, ich kenne das." Die Empathie ist nicht echt. Jeder bleibt für sich allein. Und vor allem bleibt das Fremde fremd. Eine Öffnung füreinander findet nicht statt. Das aber unter der Flagge von hehren Werten.
Tania Folajis Stück hat sich in einem Wettbewerb gegen Konkurrenz durchgesetzt, die über den monatelangen Prozess eines Workshops am Westfälischen Landestheater eher zu einem Team zusammengewachsen ist. Der Workshop war der zweite, in dem Autorinnen und Autoren mit Migrationshintergrund zur Teilnahme aufgerufen waren. Schon 2013 wurde diese zweite Runde ausgeschrieben. Die Ausgewählten aus dem gesamten Bundesgebiet trafen sich 2014 einmal im Monat zu Workshopgesprächen: Zusammen nahm man die Texte in die Mangel, arbeitete an Themen, Strukturen, Aussagen, gab sich Rückmeldungen und stellte sich gegenseitig Fragen, die die Teilnehmer zum Teil immer noch beschäftigen.
Auf der Suche nach Stoffen fürs Theater, die eine breite Zuschauerschaft bewegen, eben auch Zugewanderte, fand Dramaturg Christian Scholze jenseits von Feridun Zaimoğlu und Fatih Akin nicht viel. Und beschloss, selbst etwas auf die Beine zu stellen. Beim zweiten Workshop haben neben der in Berlin geborenen Tania Folaji Teilnehmer aus dem Irak und dem Iran und aus Syrien mitgemacht, Teilnehmer mit türkischem, spanischen und russischen Hintergrund.
Fachlich moderiert wird der Prozess von Maxi Obexer, die auch am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig lehrt. Dabei soll es nicht um "Folklore" gehen. Tania Folajis Stück hat mit Nigeria nichts zu tun. Auch wenn ihr nigerianischer Vater so etwas wie die "Teilnahmeberechtigung" zum Workshop bedeutete.
Den Stempel "Migrationshintergrund" sehen die Teilnehmer durchaus kritisch.
Rhythmisch eine gewisse "Unwucht"
Inzwischen hat sich die dritte Runde, der dritte "Jahrgang", diesen Monat zum vierten Mal getroffen. Teilnehmerinnen mit türkischen, ungarischen, algerischen, südkoreanischen und israelischen und Teilnehmern mit indischen, iranischen und bosnischen Hintergründen diskutieren zur Zeit ihre Texte. Man kann sich vorstellen, was für ein Erfahrungsschatz dort zusammenkommt. Auch haben die Teilnehmer ebenso "Hintergrund", indem sie jenseits des Workshops mit Kunst, Film, Theater, Literatur arbeiten. Dieses Jahr ist eine promovierte Philosophin aus Hamburg dabei. Auch Dramaturg und Initiator Christian Scholze geht davon aus, dass Identitäten nicht nebeneinander stehen, sondern sich beeinflussen und verändern.
Insofern trifft Tania Folajis Stück den Workshop-Nagel genau auf den Kopf. Denn ihre Figuren erleben ja gerade vor lauter Mitgefühl keine weitere Welt als sich selbst – das Publikum lacht darüber, dass die Figuren alles vereinnahmen müssen.
Für die Regie bedeutet ihr Text eine große Herausforderung, weil er einerseits grotesk überdreht, andererseits seine Figuren in ihrem Leid und ihrer (Pseudo-) Befreiung durchaus ernst nimmt. Was sie untereinander nicht wahrnehmen, weil sie sich selbst und gegenseitig im Weg stehen, das darf und soll den Zuschauer jedoch immer mal wieder treffen und beim Lachen kalt erwischen. Das bedeutet Brüche zwischen realistischer, psychologischer Spielweise und einem überdrehten "System" aus falsch verstandener Mitmenschlichkeit. Mit Felix Sommer hat hier ein Regieassistent seine erste Arbeit am Westfälischen Landestheater sicher bestmöglich abgeliefert. Aber vor allem das Überdrehte des Systems kommt unter anderem deswegen nicht richtig in Schwung, weil die Darsteller während der eigentlich schnellen Wortwechsel immer noch mal ein bisschen zu zögern scheinen oder weil sie dann doch zu wenig "reagieren" - im Sinne von "einhaken".
Dadurch entsteht rhythmisch eine gewisse "Unwucht". Die sich zum Teil aber auch noch während der folgenden Aufführungen verlieren kann.
Element eines Netzwerkes
Die Workshops in Castrop-Rauxel sind ein wesentliches Element eines Netzwerkes, einer Struktur, die gerade auf lange Sicht entsteht: Wer ins Theater geht, möchte in der Regel nicht nur unterhalten werden, sondern auch etwas von dem Leben um ihn herum aus einer anderen Perspektive wahrnehmen. Das setzt voraus, dass sich das Leben im Theater wiederfindet, dass dieses sich wandelt, ebenso, wie unsere Gesellschaft sich wandelt. Aber trotz der vielen Formen und Inszenierungen, bei denen das Publikum selbst auf der Bühne steht oder selbst einen Weg und eine Dramaturgie erspielt, ist das Theater immer noch ein einigermaßen "abgeschlossener" Kulturraum. Soll heißen: Einen Schauspieler mit indischen Wurzeln besetzt man relativ selten als "Nibelungen-Siegfried". Ähnlich sieht es auch mit Stoffen aus. Es gibt ein lebendige, rege Szene an jungen Autorinnen und Autoren, gut ausgebildet und schreibmächtig – was aber Autoren zum Schreiben bewegen könnte, deren Familien sich noch gar nicht so lange in Deutschland aufhalten, danach muss man eher suchen.
Langsam aber kommen Stücke mit breiterem Horizont ins Theater und Darsteller mit internationaler Geschichte auf die Bühne, in Köln, Münster, Castrop-Rauxel ... es bewegt sich was. Beharrlich bauen Beteiligte auch ein Netzwerk auf.
Mit dem Maxim-Gorki-Theater findet sich einer der Knotenpunkte in Berlin, geleitet von Shermin Langhoff, Auftraggeberin zu Feridun Zaimoğlus bekannt gewordenem Stück "Schwarze Jungfrauen". Marianna Salzmann ist hier Hausautorin. Zusammen mit Maxi Obexer hat sie vor Kurzem das "Neue Institut für Dramatisches Schreiben" gegründet. Hier moderiert Mehdi Moradpour, ein Workshop-Kollege von Tania Folaji, mit Maxi Obexer zusammen die "Dramatischen Gespräche". Den Wettbewerb in Castrop-Rauxel hat er nicht gewonnen, aber Suhrkamp-Autor ist er geworden. Ein weiterer Workshop-Kollege, Musaab Sadeq Khalel Al-Tuwaijari, nimmt im Rahmen des "Neuen Instituts" an einer Schreibwerkstatt zum Thema Flucht statt. Er kommt aus dem Irak und ist seit 2005 in Deutschland. Als Psychologe arbeitet er übrigens beim Deutschen Roten Kreuz mit Flüchtlingen.
Das deutsche Theater geht gerade spannende Wege. Es öffnet sich. Und das ist gut so.
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