Diplomat Avi Primor über Tempelberg-Krise

"Irgendwann wird es wieder explodieren"

Israelische Sicherheitskräfte vor dem Felsendom auf dem Tempelberg in Jerusalem
Israelische Sicherheitskräfte vor dem Felsendom auf dem Tempelberg in Jerusalem. © AFP / Ahmad Gharabli
Avi Primor im Gespräch mit Ute Welty · 29.07.2017
Auch wenn es am Freitag ruhig blieb: Die Krise um den Tempelberg in Jerusalem sei keinewegs vorbei, warnt der frühere israelische Botschafter in Deutschland, Avi Primor. Vorerst könne nur eine aus dem Ausland erzwungene Lösung den Konflikt beenden.
Nachdem die Stimmung zuletzt aufgeheizt war, verliefen die Gebete in der Al-Aksa-Moschee in Jerusalem am Freitag ohne Zwischenfälle. Am Abend hob darauf die israelische Polizei eine zuvor verhängte Zugangsbeschränkung für Männer unter 50 Jahren zum Tempelberg auf.
"Die Lage hat sich beruhigt", sagte Avi Primor, frühere israelischer Botschafter in Deutschland, im Deutschlandfunk Kultur. Das bedeute allerdings nicht, dass die Tempelberg-Krise zuende sei. "Ich gehe davon aus, dass diese Lösung keine Lösung ist, sondern eine Pause." Nach wie vor seien die Menschen auf beiden Seiten unzufrieden: "Und irgendwann wird es wieder explodieren."
Der frühere israelische Botschafter in Deutschland, Avi Primor
Der frühere israelische Botschafter in Deutschland, Avi Primor© dpa / picture-alliance / Henning Kaiser
Die Kluft zwischen beiden Seiten sei so tief, dass vorerst keine Lösung des Konflikts möglich sei, bedauert Primor. "Es sei denn, sie würde aus dem Ausland erzwungen werden."

Die religiöse Verwaltung des Tempelbergs obliegt den Muslimen

Seiner Auffassung nach sollten letztlich die Muslime den Tempelberg kontrollieren - so, wie es ursprünglich beschlossen war:
"Die Kontrolle kann nur die Kontrolle der Muslime sein. Die Muslime herrschen auf dem Tempelberg, das heißt, sie haben nicht die nationale Herrschaft, aber sie haben die Verwaltung, und sie haben die religiöse Verwaltung. Das wurde schon so entschieden, nachdem wir den Tempelberg 1967 erobert haben. Damals war unser Verteidigungsminister Dajan, und der wollte es so und hatte gesagt, nur so kann man Ruhe haben."
(uko)

Das Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Der Tempelberg in Jerusalem - es gibt wenige Orte auf der Welt, die für Juden, Muslime und Christen gleichermaßen und von so wesentlicher Bedeutung sind. Hier soll Abraham seinen Sohn fast geopfert haben. König Salomon hielt Hof. Jesus kämpfte gegen die Geldwechsler, und Mohammed betete, bevor er auf einem geflügelten Pferd gen Himmel ritt. Der Tempelberg ist mindestens "Geröll mit Geschichte", so hat es mal die "Jüdische Allgemeine" geschrieben. Über die politische Auseinandersetzung an diesem Ort und über diesen Ort möchte ich mit Avi Primor sprechen, lange Jahre Botschafter für Israel in Deutschland. Einen guten Morgen, Herr Primor!
Avi Primor: Guten Morgen, Frau Welty!
Welty: Wie stellt sich die Entwicklung für Sie dar? Von hier aus gesehen ist die Entwicklung ja schon in den letzten Stunden eine recht positive.
Primor: Ja, die Lage hat sich beruhigt. Es gibt keine Auseinandersetzungen mehr, und das Gebet gestern ging auch mehr oder weniger in Ordnung, zumindest am Abend. Es sieht jetzt ruhig aus. Aber die Lage ist sehr angespannt, die Stimmung ist sehr angespannt, die Leute sind unzufrieden auf beiden Seiten, und jeder sieht das natürlich ganz anders, aus seinem Blickwinkel gesehen. Ich gehe davon aus, dass diese Lösung keine Lösung ist, sondern eine Pause. Und irgendwann wird es wieder explodieren.

"Die Kontolle kann nur die Kontrolle der Muslime sein"

Welty: Der Konflikt hatte sich ja entzündet an der Aufstellung von Metalldetektoren nach dem tödlichen Angriff auf zwei israelische Polizisten. Dann entbrannte eine Debatte darüber, wer die Kontrolle hat über den Tempelberg. Wer sollte die Kontrolle Ihrer Meinung nach haben, damit auch so etwas wie Sicherheit für alle hergestellt werden kann?
Primor: Die Kontrolle kann nur die Kontrolle der Muslime sein. Die Muslime herrschen auf dem Tempelberg, das heißt, sie haben nicht die nationale Herrschaft, aber sie haben die Verwaltung, und sie haben die religiöse Verwaltung. Das wurde schon so entschieden, nachdem wir den Tempelberg 1967 erobert haben. Damals war unser Verteidigungsminister Dajan, und der wollte es so und hatte gesagt, nur so kann man Ruhe haben. Wir können dort nicht wirklich eine aktive Kontrolle ausüben. Und so hält das.
Aber ringsherum herrscht die Besatzung. In Ostjerusalem, über Ostjerusalem, wo ausschließlich Palästinenser, Muslime leben, herrscht die Besatzung. Die Stadt ist nicht wirklich vereint, wie wir es immer behaupten. Es sind zwei ganz unterschiedliche Städte mit unterschiedlichen Lebensbedingungen und alles, was man sich nur vorstellen kann. Deshalb kann man das unter Kontrolle halten, aber das ist keine Lösung. Das ist so wie ein Verband auf einer Wunde. Die Wunde bleibt, wie sie war.

Wer ist in Israel Falke und wer Taube?

Welty: War es womöglich ein Fehler, dass alle Fragen über die Stadt Jerusalem und über den Status von Jerusalem im Friedensprozess immer an das Ende gestellt wurden? Müsste man damit vielleicht nicht anfangen, um einer Lösung näher zu kommen?
Primor: Schauen Sie, das ist ja sehr interessant in Israel: Wer sind die Falken und wer sind die Tauben in dieser Sache? Ich spreche jetzt nicht von den politischen Parteien. Aber die Streitkräfte, die Geheimdienste, die sind die Tauben. Und die Politiker, besonders die Politiker, die heute herrschen, sind die Falken. Warum? Weil sie die Bevölkerung seit Jahren aufhetzen, und die Bevölkerung meint tatsächlich, dass ganz Jerusalem nicht nur uns gehört. Sondern sollten wir über Ost-Jerusalem nicht herrschen, würde das für uns eine militärische Gefahr bedeuten, eine aktive Gefahr bedeuten, und deshalb müssen wir diese Stadt behalten, entweder aus historischen Gründen, aus religiösen Gründen oder aus militärischen Gründen. Und deshalb können wir überhaupt keine Lösung sehen.
Ich habe gestern sehr viele - nicht Palästinenser gehört, sondern israelische Araber. Das sind ja auch Palästinenser, aber die die israelische Staatsangehörigkeit haben, die fließend Hebräisch sprechen, und die haben gesagt: Ihr habt hier auf diesem Tempelberg nichts verloren. Das gehört nicht den Juden. Das ist ein muslimischer Tempel, und ihr sollt dort verschwinden. Das gehört nicht euch. Natürlich sehen wir es ganz anders. Für uns ist das der Tempelberg, das war unser Tempel, und das war das Symbol unserer Unabhängigkeit vor 2.000, 3.000 Jahren. Also, die Kluft zwischen den beiden nicht nur Meinungen, sondern eher Gefühlen, ist so tief, dass ich vorerst keine Lösung sehen kann, es sei denn, sie würde aus dem Ausland erzwungen werden.

"Nur ein Pflaster auf einer Wunde"

Welty: Welche moralische Instanz oder welche Art von Persönlichkeit könnte es trotzdem schaffen, zumindest dem Status quo, wenn er auch fragil ist, ein besseres Fundament zu geben?
Primor: Den Status quo kann man irgendwie halten, aber wie lange? Wir halten ihn ja schon seit 50 Jahren. Ab und zu gibt es Spannungen, ab und zu gibt es auch Auseinandersetzungen, die auch tödlich sind. Aber momentan hat die israelische Regierung großes Interesse, den Status quo aufrechtzuerhalten, so auch die jordanische Regierung, die da einen sehr großen Einfluss hat und dort eine Weile regiert hat. Aber auch ein Großteil der arabischen Welt, zum Beispiel Ägypten oder Saudi-Arabien, die heute andere Feinde haben, andere Probleme und andere Sorgen und deshalb Ruhe haben wollen auf dem Tempelberg. Das heißt, vorübergehend kann man hier Ruhe garantieren, aber das ist, wie gesagt, nur ein Pflaster auf einer Wunde.
Welty: Wird der Tempelberg sozusagen – oder nein, ich formuliere es anders: Wird ein möglicher Fortschritt in Richtung Lösung im Nahostkonflikt der eigenen Macht geopfert?
Primor: Nein, ich glaube, dass die beiden Probleme natürlich miteinander verbunden sind. Aber das sind doch zwei verschiedene Probleme. Der Tempelberg ist eine emotionale Frage für beide Seiten. Die kann man mit Gewalt, mit Druck, mit politischem Druck in Ruhe halten - vorübergehend. Aber der Tempelberg ist Teil des Nahostproblems, und insofern, ohne das Nahostproblem zu lösen, wird die Tempelberg-Frage auch nicht gelöst werden.
Welty: Avi Primor war das im "Studio 9"-Gespräch, langjähriger israelischer Botschafter in Deutschland. Ich danke sehr herzlich für das Gespräch!
Primor: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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