Diktatur und Literatur in Südamerika

Eine Reise ins schwarze Herz des Verbrechens

Der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges
Alle sind noch immer mit ihm beschäftigt: der argentinische Dichter und Schriftsteller Jorge Luis Borges 1983 in Buenos Aires © picture alliance / dpa / Foto: UPI
Marko Martin im Gespräch mit Frank Meyer · 11.04.2018
Viele Schriftsteller haben sich an den vielen Diktaturen auf dem südamerikanischen Kontinent abgearbeitet. Doch wie dies geschieht, unterscheidet sich von Land zu Land. Marko Martin blickt nach Uruguay und Argentinien.
Frank Meyer: Was Menschen in Diktaturen erleben, in politischer Gewaltherrschaft, das ist ein ganz großes Thema in der Literatur. Bücher über die Diktaturen in Osteuropa oder in Russland kennt man bei uns, Romane über die Nazidiktatur natürlich. Viel weniger bekannt sind Bücher, die sich mit Diktaturen in Südamerika auseinandersetzen – und dort gab es viele. Mein Kollege Marko Martin war gerade in Südamerika unterwegs und hat sich mit diesem Thema beschäftigt. Guten Tag, Herr Martin!
Marko Martin: Hallo, guten Tag!
Meyer: Sie waren in Uruguay und in Argentinien – wie präsent ist dieses Thema denn dort in der Literatur, die Aufarbeitung der Militärdiktaturen in den Ländern?
Martin: Also man muss sagen, seit den späten 80er-Jahren ist das nicht wieder abgeflaut, die Tatsache, dass sich Autoren, in welcher Art auch immer – fiktional, semi-fiktional, dokumentarisch – mit den Militärdiktaturen auseinandersetzen. In Uruguay war es eine Militärdiktatur von '73 bis '85, in Argentinien '76 bis '83, in Argentinien ungleich blutiger. Aber das, was in Uruguay passiert, war auch schockierend genug für eine Gesellschaft, die eigentlich immer stolz gewesen ist auf ihren demokratischen Mittelklasse-Status.
Tausende Menschen nehmen in Montevideo am Schweigemarsch für die Opfer der Militärdiktatur in Uruguay teil.
Schweigemarsch in Uruguay für die Opfer der Militärdiktatur© AFP / Pablo Porciuncula
Meyer: Wie ist denn heute die Atmosphäre in Uruguay, um erst mal auf den Untergrund zu schauen – wie hat sich diese Gesellschaft Ihnen dargestellt?
Martin: Ich muss sagen, ich bin begeistert. Es ist genauso wie die Statistiken es sagen: Uruguay, das wohlhabendste Land Lateinamerikas, die ganzen Sozialindexe sprechen von der höchsten Lebenserwartung, von der besten Schulbildung, et cetera, das ist auch im Alltag zu spüren.
Es ist ein Land, das seit 2004 mitte-links regiert wird, aber eben nicht von irgendwelchen wild gewordenen Caudillos mit revolutionären Slogans, sondern von Leuten, die begriffen haben, dass ein soziales System eine brummende Ökonomie braucht.
Von daher ist das ein Land, wo man sagt, da funktioniert es mit Leuten, die auch im Unterschied zu Argentinien nicht erst mal erzählen, wie stolz sie sind auf ihre große Nation, sondern sehr angenehme Zivilisten sind, eher ruhige Leute. Ruhig nicht im skandinavischen Sinne von depressiv, sondern ruhig, gut gelaunt. Es hat mir einen sehr guten Eindruck vermittelt, man fühlt sich wohl in Montevideo. In Deutschland denkt man bei Montevideo natürlich immer an die Klamotte "Das Haus in Montevideo", aber dieses Land bietet mehr.
Meyer: Das würde ja, wie sie die Atmosphäre beschreiben, eigentlich die Freiräume eröffnen – kann ich mir jetzt vorstellen – für einen freien Umgang, zurückzuschauen auf die Diktatur und was in dem Land passiert ist. Sieht man das in der Literatur?
Martin: Man sieht es in der Literatur, man sieht es auch in der Lebenswirklichkeit, die sich dann mit der Literatur vermischt. Vielleicht erinnert man sich noch an das Buch von Erich Hackl – "Sara und Simon" –, in den 90er-Jahren erschienen: Die Geschichte einer uruguayischen Oppositionellen, der das Kind weggenommen wird in der Militärdiktatur, und die versucht, das Kind wiederzufinden. Es passiert auch, aber das Kind möchte mit ihr nichts zu tun haben – das ist die Buchgeschichte.
Die Geschichte im wirklichen Leben hat ein Happy End. Das Kind ist jetzt natürlich auch ein junger Mann Ende 30 – er ist mit seiner Mutter versöhnt und beide sind in Uruguay die Prominentesten, die weiter auf die Aufarbeitung der Militärverbrechen dringen. Man muss allerdings sagen, in Uruguay ist die Aufarbeitung der Militärverbrechen sehr gut verlaufen, wenn man das Wort sehr gut in diesem Zusammenhang verwenden kann. Deshalb ist die Notwendigkeit von der jüngeren Schriftstellergeneration nicht mehr so stark, sich mit diesem Thema so intensiv zu beschäftigen, wie es die Vorgängergeneration getan hat.
Meyer: Wie sieht das in Argentinien aus, da waren sie ja auch?
Martin: In Argentinien ist die Gesellschaft natürlich viel, viel polarisierter. In Uruguay habe ich einen jungen Schriftsteller getroffen, Pablo Trochón, der sagte, dass seine jüngere Generation also mit dieser Aufarbeitungssache jetzt weniger zu schaffen hat, weil einfach die Gesellschaft und die Vorgängergeneration diese Arbeit erledigt haben.
Mehrere argentinische Ex-Militärs sitzen bei der Urteilsverkündung im Gericht in Buenos Aires.
Argentinische Ex-Militärs 2017 vor Gericht© JAVIER GONZALEZ TOLEDO / AFP
In Argentinien ist es anders. Ich habe Marcello Figueras getroffen, dessen neuer Roman "Das schwarze Herz des Verbrechens" gerade in deutscher Übersetzung geschehen ist, und er sagte mir, dass er – Jahrgang '62 – schon jetzt zu den Älteren gehört, die sich mit dieser Diktaturaufarbeitung beschäftigen. Auch Jüngere tun es, im Grunde genommen ist das auch etwas, was ins Lebensweltliche reingeht, es gibt einen Jungautor, Félix Bruzzone, der selbst ein Kind der sogenannten Verschwundenen ist. Das heißt, in Argentinien ist diese Aufarbeitungsintensität viel virulenter, weil die Gesellschaft auch natürlich bis heute polarisiert ist.
Meyer: Und polarisiert sagen Sie, und da hat man dann den Fall, dass anders als in Uruguay tatsächlich die Gesellschaft das noch nicht geleistet hat. Was in Uruguay offenbar passiert ist, dass so eine Aufarbeitung auf anderen Ebenen eben nicht stattgefunden hat, und die Literatur etwas nachholt, was anderswo fehlt?
Hunderte von Porträts von Opfern der argentinischen Militärdiktatur sind am 12.12.2002 bei einer Demonstration auf der Plaza de Mayo in Buenos Aires zu einem Wandbild zusammen gefügt. Auf kleinen dreieckigen Tüchern ist der Spruch "Gefängnis für Massenmord" aufgedruckt. Jahr für Jahr erinnern Menschenrechtsgruppen mit einem Widerstandsmarsch an die vermissten und ermordeten Menschen. Während der Herrschaft der Militärjuntas von 1976 bis 1982 verschwanden nach inoffiziellen Angaben 30.000 Personen in Argentinien. |
Opfer der argentinischen Junta© AFP
Martin: Es ist natürlich eine interessante Frage. Ich weiß auch nicht, ob die argentinische Gesellschaft das leisten möchte. Es ist eine Gesellschaft, die weiterhin nach den großen Namen giert: Evita, Perón, Cristina Kirchner, die nach links verortet werden, obwohl das eigentlich autoritäre Schmierenkomödianten waren. Und dann die Rechte auch rechts in einem altbackenen, reaktionären Sinn ohne große soziale Verantwortung – das heißt, es gibt Extreme, die man in Uruguay nicht so hat.
In der Literatur setzt sich das dahingehend fort, dass es da auch die Polarisierung gibt. Es gab vor einigen Jahren den Roman "Wir haben uns geirrt" von Martin Caparros, der beschrieben hat, dass natürlich auch die Guerilla, die Linken in Argentinien, auch vor der Zeit des Militärputsches ihr Scherflein dazu beigetragen haben, dass die Demokratie den Bach runtergegangen ist und sich auch geirrt haben.
Diese Art der Selbstreflexion hat allerdings keine Schule gemacht, weil, wenn man das sieht, wenn man unterwegs ist in den Straßen von Buenos Aires, überall natürlich noch die großen Plakate von Evita und der Ex-Präsidentin Kirchner, dann durchgestrichen von deren Feinden. Also ich muss sagen, da ist noch sehr viel zu tun, weil einfach diese moderate Mittellage, die ich in Bezug auf Uruguay beschrieben habe, in Argentinien nicht existiert.
Meyer: Wenn Sie jetzt sagen, das zeichnet sich eben stark auch in der Literatur ab, wie passiert das, also auf welche Weise wird dort von der Diktatur in Argentinien erzählt?
!Martin:!! Auf verschiedene Weise. Es gibt die Dokumentarprosa, es gibt die Fiktionalisierung, und es gibt natürlich dann auch das, was man als Memoire beschreiben würde. Es gibt jüngere Autoren, die über ihre Eltern erzählen in der Militärzeit. Jetzt weder Helden, noch Oppositionelle, noch Kollaborateure, sondern einfach Leute, die versucht haben, sich da durchzumogeln.
Was allerdings alle beschäftigt ist immer noch Jorge Luis Borges – und Marcello Figueras sagte mir: Er ist sozusagen das Gegenbeispiel, ein hochartifizieller Autor, der das Soziale ausblendet. Ich habe ihn gefragt, ob das so eine Art von literarischem Vatermord ist, und er lachte und sagte: Nein, unsere Väter, waren die Schriftsteller, die in der Militärdiktatur ermordet wurden.
Wenn schon, dann ist es eine Anklage gegen die Großvätergeneration. Das heißt, an Borges reibt man sich immer noch wie in Uruguay übrigens an Juan Carlos Onetti, dem auch vorgeworfen wird von einer jüngeren Schriftstellergeneration, nicht ausreichend politisch gewesen zu sein.
Meyer: Und das tun auch die jüngeren Autoren, sich noch am großen literarischen Übergroßvater Borges abarbeiten in Argentinien?
Martin: Ja, ja!
Meyer: Sie haben auch junge Autoren aus Venezuela getroffen bei ihrer Reise, die in Argentinien, soweit ich das verstanden habe, in einer Art Exil sind. Venezuela ist ja bis heute zumindest autoritär regiert vom Chávez-Nachfolger Nicolás Maduro. Was sagen denn diese jungen Autoren aus Venezuela zur Gewaltherrschaft in ihrem Land?
Martin: Das sind natürlich Leute, die sich nicht in den Literaturzirkeln oder Literaturcafés herumdrücken, sondern arbeiten als Taxifahrer, als Barkeeper, die Gedichte schreiben.
Häusermeer von Buenos Aires aus der Luft gesehen
Blick auf Buenos Aires© imago/imagebroker
Es hat allerdings nichts von einer romantischen Bohème-Ansicht. Das sind Leute, die zum Teil mit Todesangst geflüchtet sind aus Venezuela, dessen Staatssozialismus endet in Mord, in bürgerkriegsähnlichen Zuständen.
Die kommen als junge Leute nach Buenos Aires, schreiben ihre Texte, lesen sich gegenseitig vor, und haben natürlich einen etwas skeptischen Blick auf die argentinische Gesellschaft mit diesem Evita-Kult und diesem Perón-Kult und auch diese Fahnen von Chávez.
Die sagen wie kann jemand freiwillig die Fahnen dieses Halb-Diktators vor sich hertragen, der ein ganzes Land, nämlich ihr Land, zugrunde gerichtet hat. Ich weiß nicht, ob diese Leute es in der Zukunft schaffen werden in den innerargentinischen Diskurs reinzukommen, aber das wäre natürlich eine intellektuelle Frischzellenkur für dieses In-sich-Kreisen, die man dem Land nur wünschen könnte. Ich muss sagen, diese jungen Venezolaner haben mich absolut begeistert.
Meyer: Diktaturerfahrungen in Südamerika und der literarische Umgang damit – darüber haben wir mit Marko Martin gesprochen. Herzlichen Dank dafür!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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