Diktatur? Demokratie? Keine Ahnung!

Klaus Schroeder im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 27.06.2012
Viele Jugendliche wissen nicht, dass Deutschland während der NS-Zeit eine Diktatur war und die Bundesrepublik eine Demokratie ist - das geht aus einer Studie hervor. Der Politikwissenschaftler Klaus Schroeder von der Freien Universität Berlin hält diese Ergebnisse für bedrohlich.
Stephan Karkowsky: Schon der Titel lässt ahnen: Hier kommt die Jugend nicht gut weg. Später Sieg der Diktaturen? - so fragt eine neue Jugendstudie. Und bietet damit gleich eine Erklärung an, für zeitgeschichtliche Unkenntnisse und Vorurteile von Jugendlichen. Der Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat der FU-Berlin hat sie heute vorgestellt, Professor Klaus Schroeder. Guten Tag!

Klaus Schroeder: Schönen guten Tag!

Karkowsky: Viermal Deutschland und was Jugendliche darüber wissen: Nationalsozialismus, DDR, BRD-West und dann die vereinigte Bundesrepublik. Sind Sie geschockt, Herr Schroeder, wie wenig Ahnung Jugendliche haben vom Unterschied dieser Systeme?

Schroeder: Ja, vor allen Dingen die Nichteinordnung der alten Bundesrepublik von jedem Zweiten, dieses System nicht für eine Demokratie zu halten, das hätte ich nicht erwartet. Die Verharmlosung der DDR haben wir erwartet, dass der NS dann auch von so vielen noch neutral und positiv gesehen wird, haben wir auch nicht erwartet. Und dass die Kenntnisse über das wiedervereinigte Deutschland so gering ausfallen, haben wir auch nicht erwartet.

Karkowsky: Aber zumindest welches dieser Systeme demokratisch ist und welches eine Diktatur, das konnten die Schüler doch sicher beantworten, oder?

Schroeder: Nein, das konnten sie nicht beantworten. Ein Großteil, jeder Vierte, konnte das NS-Regime nicht einordnen richtig als Diktatur, jeder Dritte nicht die DDR, und wie gesagt, jeder Zweite nicht die alte Bundesrepublik als Demokratie, und auch nur 60 Prozent halten das heutige Deutschland für eine Demokratie. Das sind schon bedrohliche Zahlen, weil sie zeigen, dass aus Nichtwissen Orientierungslosigkeit entstehen kann.

Karkowsky: Wir können das ja mal Stück für Stück aufdröseln. Fangen wir an bei der DDR: Da haben ja selbst viele ehemalige DDR-Bürger Probleme damit, ihren alten Staat als Diktatur zu bezeichnen, vor allem dann, wenn sie der Linkspartei anhängen. Schließlich hatte die DDR das "Demokratische Republik" ja schon im Namen.

Schroeder: Ja, und so simpel es klingt, viele Schüler glauben das auch, und sie denken - eine starke Minderheit - dass alle Regierungen der DDR durch demokratische Wahlen legitimiert waren. Ich weiß nicht, ob sie das in der Schule erfahren, oder ob die Eltern ihnen das erzählen - das ist etwas, wo ich immer noch erschrocken bin, denn man kann die DDR ja positiv oder negativ finden, aber zu behaupten, sie sei durch demokratische Wahlen legitimiert gewesen, das ist ja geradezu absurd.

Karkowsky: Sie sagen, Sie wissen nicht, wo die das erfahren, dann können Sie auch die Frage nicht beantworten: Woran liegt es denn, das Unwissen der Jugend?

Schroeder: Es deutet vieles darauf hin, dass in den Familienerzählungen die DDR gut wegkommt, denn in diesen Familien wird deutlich häufiger über Zeitgeschichte geredet als in westdeutschen Familien. Aber der Schulunterricht könnte ja hier eine Rolle spielen, das ein bisschen zu konterkarieren. Das macht er nicht in dem Maße. Aber, um es einmal positiv zu formulieren, im Vergleich zu unserer Studie vor vier Jahren sind es heute wesentlich weniger Schüler in Sachsen-Anhalt und Thüringen, die die DDR positiv sehen. Insofern ist zumindest im Trend etwas Positives erkennbar.

Karkowsky: Der Nationalsozialismus - wie kommt es denn, dass Sie schon angenommen haben, dass ein erheblicher Teil der Jugendlichen den nicht als Diktatur bezeichnen würde?

Schroeder: Nun, sie haben viel Wissen über NS, also mehr als über die anderen Systeme, aber sie können dieses Wissen nicht richtig zuordnen. Aber hier haben wir einen Effekt, den wir überhaupt nicht erwartet haben: Der hohe Anteil positiver Urteile über NS resultiert aus dem Votum von Migrantenkindern, also sogenannten Migrantenkindern, die noch weniger wissen, und die das NS-System positiver sehen als die einheimischen Schüler.

Karkowsky: Weiß man denn, woher die Jugendlichen Ihr Wissen über das NS-System in erster Linie beziehen? Ist das die Schule, das Fernsehen oder anderswo her?

Schroeder: Nein, vor allen Dingen die Schule, hier wird in Elternhäusern kaum über dieses Thema gesprochen. Dann spielt das Internet noch eine kleine Rolle, aber wahrscheinlich auch Peergroup-Verhalten, insbesondere bei Migranten türkischer, kurdischer Herkunft oder arabischer Herkunft, da ist das NS-Regime positiv konnotiert, also insofern dürfte das durchschlagen, dass, obwohl man wenig weiß, doch eine nennenswerte Minderheit dieses System positiv beurteilt. Generell gilt, dass die Migrantenkinder die NS-Zeit und die DDR positiver sehen und die Zeit der alten Bundesrepublik und des wiedervereinigten Deutschlands negativer sehen als die anderen Schüler.

Karkowsky: Zur neuen Jugendstudie "Später Sieg der Diktaturen?" hören Sie den Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat, der hat sie heute vorgestellt, Professor Klaus Schroeder. Herr Schroeder, spannend war natürlich auch Ihre Frage: Wie wirkt sich der Einfluss von Gedenkstättenbesuchen aus auf zeitgeschichtliche Kenntnisse und Urteile? Wie haben Sie das denn ermittelt?

Schroeder: Wir haben Schüler zweifach befragt, einmal als sie in die Gedenkstätte kamen und dann danach, einige Monate später. Und wir haben hier festgestellt, dass der Effekt des Gedenkstättenbesuches schon verblasst ist nach kurzer Zeit, und nur da, wo die Lehrer nachbereitet haben den Gedenkstättenbesuch, auch Wirkungen erzielt wurden. Das heißt, die Gedenkstättenbesuche an sich bewirken überhaupt nichts. Nur dann, wenn sie gut vorbereitet und vor allem nachbereitet werden, haben Sie einen positiven Effekt.

Karkowsky: Das ist doch unfassbar: Der Besuch in einem ehemaligen Konzentrationslager soll nichts bewirken bei den Schülern?

Schroeder: Der Effekt verpufft. Es muss richtig eingeordnet werden und es muss richtig im Gedächtnis platziert werden. Das geht nur durch eine solide Nachbereitung. Und es kommt ein Zweites hinzu: Schüler, die aus Bayern, Hessen, sonst wie nach Berlin kommen und hier innerhalb von einer Woche vier, fünf, sechs Gedenkstätten besuchen, da geht alles durcheinander. Also sozusagen diese Vielfalt, so positiv sie klingt, ist im Effekt, im nachhaltigen Effekt eher negativ. Insofern plädieren wir dafür, diese Gedenkstättenbesuche vielleicht etwas zu reduzieren, aber dann auch zu konzentrieren, damit sie Wirkung erzielen.

Karkowsky: Sie sprechen da vom Gedenkstätten-Hopping.

Schroeder: Ja, sie kommen hierher, gehen morgens in eine NS-Gedenkstätte, nachmittags gehen sie in eine DDR-Gedenkstätte und so weiter. Und wenn Sie ein paar Tage später fragen, wo wart ihr eigentlich, kriegen die das alles durcheinander.

Karkowsky: Man sollte doch denken, dass an den Schulen die Nachbereitung solcher Besuche Standard ist.

Schroeder: Nein, leider ist die Nachbereitung wesentlich schlechter oder fällt aus. Die Vorbereitung ist zum Teil noch da, aber die Nachbereitung, die gibt es oft nicht. Weil die Lehrer wohl denken, gut, die Sache ist jetzt abgehakt, jetzt kommt das nächste Thema, fertig. Also hier muss man ein Bewusstsein schaffen bei Gedenkstättenbesuchern, also den Lehrern vor allen Dingen, dass sie das Thema nachbereiten müssen. Und - auch das haben wir bemängelt - die Gedenkstätten selber müssen ihr spezielles Thema einordnen. Sie müssen also einordnen, was war die DDR, was war der Nationalsozialismus, und was seht ihr hier, was für ein Ausschnitt, was soll dies symbolisieren und so weiter. Also die Einbettung der Gedenkstätte in den allgemeinen Systemzusammenhang, auch das fällt mitunter aus.

Karkowsky: Dann erzählen Sie uns noch was darüber, welche Unterschiede Ihre Studie feststellen konnte im Geschichtswissen bei zum Beispiel jungen Mädchen, Migrantenkindern oder Menschen aus Ost- oder Westdeutschland.

Schroeder: Ja, das Wissen alleine ist unterschiedlich verteilt. Erwartungsgemäß wissen Gymnasiasten mehr als Hauptschüler, Jungs mehr als Mädchen, aber dass Migrantenkinder so stark abfallen, das hätten wir nicht geglaubt - dass sie abfallen, etwas, aber so stark nicht. Und was erstaunlich und erfreulich ist, Ost und West ist aneinandergerückt, jedenfalls von den Schulstandorten her. Thüringer Schüler wissen am meisten, aber wenn Sie den Effekt der Migranten und der Binnenwanderung, also der Familien, die von Ost nach West oder von West nach Ost gezogen sind, nicht berücksichtigen, dann liegen bayerische Schüler an der Spitze. Aber die Thüringer haben aufgeholt, der Osten weiß genauso viel wie der Westen, und deshalb sind die Urteile das Entscheidende geworden und nicht so sehr das Wissen, was man zwar noch steigern kann, was aber im Wesentlichen angeglichen ist.

Karkowsky: Dass Migrantenkinder am wenigsten wissen, ist natürlich Wasser auf die Mühlen von Populisten.

Schroeder: Nein, nicht Populisten, das ist die Aufforderung an die Schulen, endlich diese Klientel so zu behandeln, dass sie aufholen im Wissen, und nicht einfach alle gleich behandeln, weil sie von den Familien her nicht das erhalten, was die Einheimischen erhalten. Das ganze Gegenteil sollte hoffentlich hier die Folge sein.

Karkowsky: Was muss sich denn insgesamt ändern? Welche Schlüsse also ziehen Sie aus Ihrer Studie?

Schroeder: Vor allen Dingen muss die Zeitgeschichte stärker behandelt werden im Geschichts- und Sozialkundeunterricht. Dann muss man eben, wenn nur begrenzt Stunden zur Verfügung stehen, andere Zeiten zurückfahren, aber nicht die Zeitgeschichte, und zweitens, es muss eine wertorientierte Kenntnisvermittlung stattfinden. Es dürfen nicht nur Kenntnisse, Zahlen, Fakten vermittelt werden, sondern sie müssen in einen Wertzusammenhang gestellt werden, damit die Schüler in der Lage sind, historische Systeme auch einzuordnen, um übertragen auf die heutige Zeit vor diktatorischen Verführungen gefeit zu sein. Wenn sie nicht wissen, wo ist die Trennlinie zwischen Demokratie und Diktatur, dann können sie das nicht, dann sind sie empfänglich für diktatorische Verführungen.

Karkowsky: Es wird immer mal wieder kritisiert, dass Kinder zu viel Zeit mit dem Nationalsozialismus verbringen im Geschichtsunterricht. Würden Sie das denn bestätigen, jetzt, wo sie sagen, die wissen darüber am meisten, aber viel zu wenig, zum Beispiel über die alte BRD und über die Zeit nach der Wiedervereinigung?

Schroeder: Sie wissen viel über den Nationalsozialismus, aber sie wissen vielleicht nicht das Richtige, und sie können das System als Ganzes nicht einordnen. Wenn so viele die NS-Sozialpolitik oder Volksgemeinschaftsgedanken gut finden, dann ist hier was falsch gelaufen. Dann ist der Nationalsozialismus auf seinen Schrecken reduziert worden, und das andere wird positiv gesehen. Also das System als Ganzes zu sehen, muss stärker im Unterricht stattfinden.

Und in der Tat, die alte Bundesrepublik, die Grundlegung von Demokratie und sozialer Marktwirtschaft, die sind Neuland für die Schüler, die sind defizitär, hier muss mehr getan werden, damit die Schüler auch wissen, was zeichnet diese freiheitliche Demokratie aus, und wo sind die Gefährdungen der Demokratie. Hier, denke ich, ist noch viel zu tun, für Lehrer, aber auch für die Medien, für alle eigentlich, für die Verantwortlichen, die für die Demokratieerziehung zuständig sind.

Karkowsky: "Später Sieg der Diktaturen?" Das ist der Titel einer neuen Jugendstudie, die uns vorgestellt wurde vom Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat der FU Berlin, Professor Klaus Schroeder. Ihnen vielen Dank!

Schroeder: Bitte schön!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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