Digitalisierung

Die Zeit der Utopien ist vorbei

Der Programmierer, Künstler und Schriftsteller Jaron Lanier
Der Programmierer, Künstler und Schriftsteller Jaron Lanier © Börsenverein des Deutschen Buchhandels / Lena Lanier
Von Vera Linß · 15.05.2015
Der einstige Internetpionier Jaron Lanier zählt heute zu den größten Kritikern eines offenen Netzes. Von der Verlagsbranche wird er gefeiert, von der Netzgemeinde beschimpft. Gerecht werden sie dem Theoretiker Lanier alle nicht, wie sein neues Buch zeigt.
Kaum einer spaltet in der Debatte um die Folgen der Digitalisierung so sehr, wie Jaron Lanier. Der einstige Internetpionier zählt heute zu den größten Kritikern von Datensammlern wie Google und Facebook. Auch dem Ideal eines offenen Netzes, in dem jeder seine Inhalte veröffentlichen kann, kann er nur noch wenig abgewinnen. Denn statt publizistischer Qualität entstünde ein Einheitsbrei. Dass Lanier einmal so denken würde, hätte er sich Ende der 1980er – in den Frühzeiten des Internets – sicher selbst kaum vorstellen können. Von der Netzgemeinde wird er dafür beschimpft. Die Verlagsbranche, die sich von der Digitalisierung bedroht sieht, feierte ihn dagegen im vergangenen Jahr mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
Informatiker mit politisch-philosophischem Tiefgang
Wie sehr beide Sichtweisen Lanier in ein Raster stecken, dass ihm nur wenig gerecht wird, zeigt jetzt anschaulich diese Sammlung seiner Essays und Interviews. Lanier gehörte von Anfang an zu jenen Informatikern, die ihre Erfindungen mit politisch-philosophischen Gedanken darüber verknüpften, wie digitale Technologie die Gesellschaft verändern könnte. All das noch einmal komprimiert nachzulesen, hat einen großen Reiz. Zum einen reist man mit ihm zurück in die Anfänge des Internets und erlebt zum Beispiel die Geburt digitaler dreidimensionaler Welten mit.
Faszinierend, wie er etwa in einem Artikel von 1987 seine Experimente mit dem Datenhandschuh schildert, der erstmals Bewegungen der Hand in der virtuellen Realität reproduzierte. In einem Essay aus den 90ern erzählt Lanier die Entstehungsgeschichte des Begriffs "virtuelle Realität", der überraschenderweise zur Metapher wurde für eine Reihe von Utopien darüber, was alles vorstellbar ist, wenn Geist und Maschine zusammentreffen. Das alles vom Erfinder des Begriffs selbst zu lesen, ist so spannend, als säße man mit ihm gemeinsam am Labortisch.
Vom Netzeuphoriker zum Kritiker der Digitalisierung
Gleichzeitig aber beschreibt dieses Buch mehr als ein Stück Technologiegeschichte. Denn im Mittelpunkt steht auch die Metamorphose Jaron Laniers, so dass man gut nachvollziehen kann, wie sein Sinneswandel vom Netzeuphoriker zum Kritiker der Digitalisierung zustande kam. Dass er ehrlich davon überzeugt war, das Internet bringe automatisch Segen für die Menschheit – dieser (naive) Glaube zieht sich durch seine Artikel bis zur Jahrtausendwende. Immer wieder schreibt er, dass sich das menschliche Miteinander verbessern werde. Etwa, weil es in der virtuellen Realität "mehr Möglichkeiten zur Begegnung" gebe.
Gleichzeitig ahnt Lanier auch da bereits, welche Macht vom Besitz digitaler Daten ausgeht und schon 1994 entwirft er Szenarien, wie die Architektur des Netzes gesellschaftlicher Kommunikation schaden könnte. Doch erst, als die Schattenseiten der Digitalisierung allzu offensichtlich werden, gelingt es ihm, sich von seiner großen Utopie zu lösen und er formuliert seine deutlichen Mahnungen, für die er heute bekannt ist. Nicht alles von dem, wie er das Internet inzwischen sieht, muss man teilen. Dieser lesenswerte Band zeigt aber, wie schmerzhaft und absolut menschlich es ist, sich zu irren. Heraus gekommen ist ein differenziertes Bild über die ersten Jahrzehnte der Digitalisierung, wie man es sich öfter wünschte.

Jaron Lanier, Wenn Träume erwachsen werden
Hoffmann und Campe, Hamburg 2015
320 Seiten, 24 Euro

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