"Dieser Film zeigt die Wirklichkeit der chinesischen Gesellschaft"

Xiaolu Guo im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 18.07.2012
Ihr Film "UFO In Her Eyes" sei zwar in China angesiedelt, könnte aber auch sonst wo auf der Welt spielen. Die Autorin und Filmemacherin Xiaolu Guo sieht heute keinen so großen Unterschied zwischen China und der westlichen Welt mehr.
Liane von Billerbeck: Sie wurde in einem südchinesischen Fischerdorf geboren, ihr Vater wollte nicht Bauer werden, sondern Bilder malen, und verschwand deshalb während der Kulturrevolution für Jahre im Straflager. Seine Tochter, 1973 geboren, musste bei den Großeltern aufwachsen. Heute pendelt die preisgekrönte Buchautorin und Filmemacherin Xiaolu Guo zwischen Peking und London, zwischen Ost und West. Ihre Filme dreht sie nach Ihren Romanen, die wiederum die eigene Biografie benutzen. Gleich für ihren Erstling, "She, a Chinese", gewann sie beim Filmfestival von Locarno 2009 den Goldenen Leoparden. Jetzt ist sie als Stipendiatin des DAAD in Berlin und hat ihren zweiten Film im Gepäck: "UFO In Her Eyes", "Ein UFO, dachte sie", eine deutsche Koproduktion. Frau Guo, herzlich willkommen!

Xiaolu Guo: Welcome to you!

von Billerbeck: Eine Frau, eine Künstlerin, aufgewachsen in einem Fischerdorf und jetzt so eine Art Wunderkind des Weltkinos. Wie sind Sie das geworden?

Guo: Wahrscheinlich ist das so eine Reise, die man beschreitet, wenn man in einem Dorf aufwächst und an Kunst interessiert ist. Es ist regelrecht eine Verzweiflung, die einen in die große, weite Welt hinaustreibt, in die Welt der Kultur. Und darum bin ich jetzt wohl in Europa gelandet.

von Billerbeck: Zwischen Ihrem Geburtsort und Städten wie Peking, London oder auch Berlin, da liegen, wie man so schön sagt, Welten. Wo liegt Ihre Heimat?

Guo: Als ich jüngerer war, dachte ich, dass Heimat ein physisches Konzept ist, und das habe ich dann in Südchina verortet. Aber jetzt, wo ich schon so lange unterwegs bin, als Autorin und als Filmemacherin arbeite, sehe ich meine Arbeit und meine Freunde als meine Heimat. Und ich denke, dass jetzt die meisten Künstler und kulturell Aktiven wie auch die Wirtschaftsemigranten sich weg von ihren originalen Herkunftsorten bewegen und sie leben jetzt in sehr städtischen Umgebungen, wo sie dort ein neues Leben aufbauen.

von Billerbeck: Trotzdem erzählt Ihr neuer Film, "UFO In Her Eyes", eine Geschichte, die spielt in einem südchinesischen Dorf. Es ist eine chinesische Geschichte. Aber ist es auch eine universelle Geschichte?

Guo: Ja, absolut! Dieses seltsame Dorf in "UFO In Her Eyes", das könnte auch in Norddeutschland sein oder in Südspanien oder irgendwo in den USA. Das ist einfach ein Teil der Globalisierung und der Modernisierung, die überall stattfindet. Der einzige Unterschied zwischen China und dem Westen ist, dass in China die industrielle Revolution erst seit 25 Jahren andauert, und im Westen hat man schon 250 Jahre davon.

von Billerbeck: Sie schildern in diesem neuen Film, "UFO In Her Eyes", die Veränderungen, die in einem südchinesischen Dorf passieren, als dort eine Bäuerin, eine Arbeiterin glaubt, ein UFO gesichtet zu haben. Und das sind Veränderungen, die mit dem schnellen Geld und den Hoffnungen darauf zusammenhängen. Das ist eine wunderbare, eine teilweise komische, eine tragische Geschichte und man könnte sogar sagen, eine Satire, bittere Tatsachen, die Sie auf diese Weise erzählt haben. Warum so?

Guo: Also, die Modernisierung in den chinesischen Dörfern ist einfach sehr schmerzhaft und sehr drastisch verlaufen, ein heftiger Prozess. Es gab in den letzten 20 Jahren eine Milliarde Bauern, von denen 500 Millionen plötzlich zu städtischen Bürgern werden sollten oder geworden sind. Und was ist mit dem Rest, frage ich? Mein Großvater war zum Beispiel ein Fischer, meine Großeltern waren Fischer und mein Großvater hatte ein Boot. Und als dann die Kollektivierung begann in den 80er-Jahren, hat er sein Boot verloren, er konnte nicht mehr so wie früher selbstständig arbeiten, das Boot ging an den Staat.

Und er hat daraufhin in den 90er-Jahren Selbstmord begangen. Und wenn ich die Geschichte von diesem alten Fischer in "Ein UFO, dachte sie" erzähle, dann ist das eine sehr persönliche Geschichte. Ich denke, dass der Film darum diesen Ton des Absurden und des Surrealen hat. Denn nur das Absurde und das Surreale können diesen Wahnsinn, diese Verrücktheit der chinesischen Entwicklung wirklich angemessen darstellen.

von Billerbeck: Sie nutzen auch eine sehr interessante Ästhetik, Sie erzählen diese Geschichte ja auch aus der Sicht eines Agenten des Informationsdienstes, der also alle immer ausfragt, und es gibt auch - um dieses absurde Moment zu unterstützen - immer den Blick mit den Augen der Tiere auf die Menschen, die schildern, was dort passiert. Ist das das speziell Chinesische, diese Ästhetik?

Guo: Nein, das ist so was von überhaupt nicht chinesisch und auch gar nicht traditionell! Denn mein Einfluss ist eher ein sowjetischer, was das Kino betrifft, oder ein osteuropäischer wie Emir Kusturica. Ich liebte Wertow und Eisenstein und diese Montagetechnik, die sie hatten, das war wirklich Kunst für mich, großartige Bilder, so wie auch Kusturica von Bauern, seine Universen von Bauern und Zigeunern, die waren so lebendig, das war meine Wahrnehmung der Filmsprache, das entspricht mir, das sind meine Wurzeln der Filmsprache.

von Billerbeck: Nun nutzen Sie Ihre Biografie als Material und die chinesische Wirklichkeit. Das tun ja auch andere chinesische Künstler und das tun sie oft nicht ungestraft. Wir haben es bei Ai Weiwei erlebt oder auch bei dem Dissidenten Liu Xiaobo, die waren beide hier schon bei uns zu Gast und sie zeigen auch diesen ungebremsten Kapitalismus, der über ein Dorf schwappt und alles niederwalzt. Wie sind denn die Reaktionen der chinesischen Obrigkeit auf diese Art Darstellung?

Guo: Es ist sehr schwer, diese Art von Filmen in China zu zeigen. Aber ich denke, das braucht auch noch Zeit. Auch in der Führung ändert sich etwas, man spricht von Demokratie, man spricht von Freiheit, überlegt, was das bedeuten kann. Noch ist alles sehr eng, aber dieser Film zeigt die Wirklichkeit der chinesischen Gesellschaft. Und ich denke, das sollte in der Zukunft auch eine Chance haben, solche Projekte. Ein anderer Punkt ist, dass die chinesischen Intellektuellen inzwischen eine sehr wichtige Rolle spielen und das ist etwas sehr Aufregendes.

von Billerbeck: China gilt immer als das Land der Zukunft. Es wird auch bei Ihnen im Film ausgerechnet von einem Amerikaner als das Land der Zukunft bezeichnet, wo das Wachstum ganz stark ist, alle Firmen aus dem Rest der Welt wollen dort hin und Geld verdienen. Trotzdem die Frage: Gibt es inzwischen auch Rückbewegungen in China gegen dieses ungebremste Wachstum?

Guo: Das ist seltsam: Ich bin in China ein bisschen wie eine alte Intellektuelle, die sich ein langsameres Wachstum wünscht, die jetzt, wo es nicht mehr ganz so schnell geht, Chancen sieht für den Buddhismus, für den Konfuzianismus, zu den alten Werten, den Werten der Vergangenheit, der landwirtschaftlich geprägten Landschaft. Wie eine 60-, 70-Jährige, die sich eine langsamer voranschreitende Gesellschaft wünscht, nicht diese zerstörte Landschaft, wie wir sie jetzt haben. Und ich hoffe, dass darüber auch gesprochen werden wird, über diese Entwicklung. Das ist ein bisschen wie am Ende des Films von "Ein UFO, dachte sie", wo diese utopische Landschaft gezeigt wird. Ich wünschte, wir könnten dahin zurückkehren!

Ein bisschen kann man das vielleicht mit der Entwicklung der Sowjetunion vergleichen, als Russland wieder die Sowjetunion übernommen hat: Da war das, als der Kommunismus verschwand, so, dass die Leute sich vermehrt wieder der Religion zugewandt haben, dem Orthodoxen und so weiter. Aber China war nie wirklich so stark religiös, die Religion hat nie so eine große Rolle gespielt, sodass jetzt da eine Leerstelle geblieben ist. Es ist sozusagen eine Leere, durch die wir uns da bewegen. Also, es ist eine sehr seltsame Situation.

von Billerbeck: Ihr Film läuft jetzt auch in Deutschland. Was erhoffen Sie sich vom deutschen Publikum?

Guo: Mein Film wurde in Deutschland von April an in verschiedenen Orten gezeigt, verschiedenen Institutionen, Salons und so weiter. Und es hat sehr starke Reaktionen gegeben, Intellektuelle und Professoren und so weiter, die wollten dann immer gleich über die Zukunft Chinas sprechen. Und ich sehe das ein bisschen so, als ob man über die Zukunft Amerikas spricht, welche Wirkung hat das auf Europa, wird dann gefragt. Das, wenn man es sich genauer anguckt, natürlich etwas beängstigend sein kann, aber auch sehr interessant. Man erwartet dann sozusagen eine Strategie, eine Antwort von China. Also, in diesem Sinne ist mein Film ein interessanter Treffpunkt für mich und das deutsche Publikum gewesen.

von Billerbeck: Zwei Filme haben Sie gemacht, beide sind entstanden nach Büchern. Derzeit sind Sie Stipendiatin des DAAD in Berlin, da wollen wir natürlich wissen, was ist Ihr nächstes Projekt?

Guo: Sie fragen nach meinem nächsten Projekt, ja ... Welches, kann ich da nur zurückfragen! Das liegt daran, dass ich Chinesin bin, wir arbeiten nur, unser Leben besteht aus Arbeit. Ich habe zurzeit drei Romanideen, sechs angefangene Filmzusammenfassungen und zwei Ideen für Hörspiele, wo ich nur noch auf die Produzenten warte, die an Bord kommen sollen. Also, eine Dimension, die ich in der Zukunft anstrebe, ist, dass ich mehr die Geschichte mit einbeziehen möchte, Verbindung der Geschichten, weniger mit der Zukunft als mit der Vergangenheit und weniger individuell basierte Geschichten erzählen will als solche, die auf historischen Ereignissen gründen. Ich denke, das Leben ist zu kurz für kleinteilige Geschichten auf rein individueller Basis. Ich versuche, komplexer zu werden und geschichtliche Zusammenhänge einzubeziehen.

von Billerbeck: Xiaolu Guo, die preisgekrönte chinesische Autorin und Filmemacherin war bei uns zu Gast. Ihr in deutscher Koproduktion entstandener Film "UFO In Her Eyes" ist bei uns auch im Kino zu sehen. Danke für das Gespräch, das Marai Amir übersetzt hat!

Guo: Thank you very much!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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