"Diese Region hat so viele Geschichten"

Selma Spahic im Gespräch mit Matthias Hanselmann · 27.03.2012
In der Theaterproduktion "Hypermesia" von Selma Spahic werden Kindheitserinnerungen an den Balkankrieg von acht Schauspielern zusammengetragen und montiert. Selma Spahic betont, dass es sich um eine persönliche Geschichte handelt, man kenne immer nur die "Mediensicht auf die Dinge".
Matthias Hanselmann: Es gab eine Zeit, da wäre ein solches Projekt schlicht undenkbar gewesen: Junge Menschen aus Bosnien-Herzegowina, Serbien und Kosovo spielen gemeinsam Theater. Und dieses Stück hat sehr viel mit genau dieser Zeit zu tun. Als nämlich Krieg herrschte im ehemaligen Jugoslawien, als die Hauptstadt Bosniens, Sarajevo, von den Serben belagert, eingeschlossen war. Nicht nur hier gab es Tausende von Toten, allein in Bosnien waren es um die 100.000.

Manche Menschen sagen, es ist besser, wenn man sich daran nicht mehr erinnert. Aber was, wenn man ein zu gutes Gedächtnis besitzt, wenn man unter einer Krankheit namens Hypermnesie leidet. Wenn die Dinge, die weiter zurückliegen, besser im Gedächtnis bleiben als die jüngeren Ereignisse. "Hypermnesia" heißt der Titel eines Theaterstückes, das als Gastspiel zum Festival "Neue Stücke aus Europa" eingeladen wurde und auch schon mehrfach ausgezeichnet wurde.

Regisseurin des Stückes "Hypermnesia" ist die 1986 in Bosnien-Herzegowina geborenen Theatermacherin Selma Spahic. Sie ist jetzt bei uns zu Gast. Guten Tag und herzlich willkommen!

Selma Spahic: Thank you for having me!

Hanselmann: Junge Serben und Kosovaren erinnern sich in Ihrem Stück an eine Zeit, als sie noch Kinder waren. Der Konflikt begann ja vor fast genau 20 Jahren - welche Erinnerungen sind das?

Spahic: "Hypermnesia" ist in erster Linie kein politisches Stück. Es hat aber mit den Erinnerungen einer Generation zu tun, die bisher nicht über ihre Vergangenheit gesprochen hat. Und inwiefern es von der Politik beeinflusst ist, das bezieht sich darauf, wie unser Leben von der Politik beeinflusst wird. Und das ist leider sehr, sehr viel.

Hanselmann: Es sind Wahrnehmungen aus einem Krieg, der von ganz verschiedenen Seiten völlig verschieden bewertet wurde, der Opfer auf allen Seiten gefordert hat, der viel mit ethnischen, religiösen, wirtschaftlichen Interessen zu tun hatte. Es gab Schuldzuweisungen von allen Seiten. Wenn sich junge Menschen heute damit beschäftigen, was passiert mit ihnen? Werden alte Wunden aufgerissen? Kommt alter Hass wieder hoch?

Spahic: Wunden auf jeden Fall. Darum geht es ja. Wir behandeln ja Erinnerungen dieser Leute, die das Leben sehr gezeichnet hat. Die traumatisiert worden sind von diesen Erfahrungen. Aber sie haben auch fröhliche Erinnerungen, positive Erinnerungen. Es geht auch um Familiengeschichten, ihre Erfahrungen mit ihren Eltern. Es ist eine Mischung daraus. Und das ist sozusagen der Haupterzählfaden des Stücks.

Mir ist wichtig zu betonen, dass das auf keinen Fall ein ausgewogener Krieg war. Es gab kein Gleichgewicht in diesem Krieg. Und wir wissen auch alle einfach viel zu wenig voneinander. Durch das, was wir durch die Medien erfahren haben in unseren jeweiligen Ländern, wie wir damit aufgewachsen sind, wissen wir nicht, was in Belgrad passiert ist oder wie die Leute dort gelebt haben. Wir wissen nicht, wie es in Sarajevo zugegangen ist und so weiter. Das haben wir jetzt erst dadurch auch erfahren. So hat das auch keinen Hass hervorgebracht, diese Erinnerung.

Hanselmann: Wenn Sie sagen, es war kein gleichgewichteter Krieg, dann interessiert mich besonders die Frage, ob es immer noch Fronten gibt, heute auch unter den jungen Leuten, die so verhärtet sind, dass man nicht zu Versöhnung oder Kompromissen bereit ist.

Spahic: Leider ja. Aber es ist keine Kampflinie im eigentlichen Sinne. Es sind 20 Jahre Erfahrung, die da drin stecken. Das erkennt man jetzt zum Beispiel auch, wo ein kultureller Austausch stattfindet, zwischen einmal Banja Luka, der Hauptstadt der Republika Srpska auf der einen Seite und Sarajevo auf der anderen Seite.

Das ist ein drei Tage dauerndes Festival, in dem dieser kulturelle Austausch stattfindet, und dabei merkt man, dass es sich eher um so etwas handelt wie eine Wiederentdeckung. Man entdeckt sich gegenseitig auch wieder. Es war eine Wand des Schweigens, die ist entstanden und die bestand und deshalb wissen wir auch so wenig voneinander. Und ich denke, diese Wand muss einstürzen, da muss sich jetzt etwas ändern.

Hanselmann: Sie reißen also mit dem Theaterstück die Wand des Schweigens ein. Wie passiert das auf der Bühne?

Spahic: Das passiert durch die Geschichten dieser acht Schauspieler. Diese acht
Schauspieler könnten auch irgendwelche acht Leute aus der Region sein, irgendwelche Menschen, auf die das auch zutrifft. Diese Region hat so viele Geschichten. Und wenn man sich die Generation anguckt, der Leute, die in den späten 70ern, in den 80er-Jahren geboren wurden, so hat diese sich bisher noch nicht durch Theater ausgedrückt, was diesen Konflikt betrifft.

Und diese Lebensgeschichten, die hier erzählt werden, da werden halt ganz verschiedene Versionen erzählt und entstehen, und verschiedene Varianten der Wahrheit und der Erfahrung werden aufgezeigt.

Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das Radiofeuilleton, wir sprechen mit der bosnischen Regisseurin Selma Spahic, die das Stück "Hypermnesia" entwickelt hat, ein Stück über das Erinnern an einen brutalen Krieg, den Jugoslawien- oder auch Balkankrieg genannten Konflikt, der vor fast genau 20 Jahren begann, als jugoslawische Teilrepubliken ihre Unabhängigkeit erklärten.

Junge Schauspieler stellen ihre Erinnerungen auf der Bühne dar. Frau Spahic, Theater schafft ja Bilder, und es soll ja auch Bilder schaffen. Muss in bestimmter Weise auch plakativ sein. Wobei dann wieder die Gefahr besteht, dass Klischees entstehen beziehungsweise weiter transportiert werden. Wie konnten Sie vermeiden, dass nicht wieder in alte Klischees verfallen wird bei diesem Stück?

Spahic: Wir waren sehr vorsichtig dabei, und wir waren uns auch immer bewusst, dass das passieren konnte. Aber es ist auch sehr wichtig, dass man hier zeigt, dass es sich um eine sogenannte egozentrische Performance handelt. Dass die Leute ihr eigenes Leben sozusagen zeigen sollen und darüber sprechen sollen. Für mich war aber dabei auch wichtig, dass man auch eine Distanz zum Stück bewahrt, zum Beispiel einen ironischen Abstand zeigt.

Dass die Leute nicht ganz direkt hineinsteigen, sodass man dem Publikum auch einen Raum geben kann, ihre eigene Sichtweise zu entwickeln, ihre eigenen Schlüsse zu ziehen. Mir war es sehr wichtig, dass wir auch dramaturgische Gegenpole schaffen im Stück, dass man einmal zum Beispiel die emotionale Sicht einer Person hat, deren Freunde 1993 durch Granaten gestorben sind, die das mit ansehen musste. Und auf der anderen Seite hat man dann eine Serbin, die in Holland dafür diskriminiert wurde, dass sie Serbin ist. Das sind ganz unterschiedliche Erfahrungen, die gleichzeitig an verschiedenen Orten stattfinden, und das sind alles persönliche Geschichten. Und das ist mir sehr wichtig, das zu betonen, dass es sich um persönliche Geschichten handelt. Wir kennen immer die Mediensicht auf die Dinge, aber es gibt einfach auch biografische Fakten, die sich nicht leugnen lassen. Und ich denke, das macht die Qualität der Aufführung aus.

Hanselmann: Ich denke auch, das macht sicherlich, das zeigt sicherlich auch besser die Absurdität eines solchen Krieges. Je persönlicher die Menschen von den unterschiedlichen betroffenen Parteien von sich erzählen, desto absurder wird eigentlich, warum sie in den Krieg gehen. Spielen eigentlich in Ihrem Stück die Schauspieler aus den verschiedenen Republiken die Rollen, die ihre eigene Republik betreffen? Also Serben Serben, Kosovaren Kosovaren und so weiter?

Spahic: Nein. Die Struktur des Stücks ist so angelegt, dass man erst die Monologe hat, der Leute, wo sie sozusagen ihre eigene Geschichte erzählen. Und die sind dann aber verknüpft mit Spielszenen, in denen alle alles spielen. Also man hört zuerst einen, der seine Geschichte erzählt, und dann gibt es aber diese Spielhandlung, wo alles zusammenkommt und man nicht in seiner Rolle bleibt. Und das schafft diese ganz besondere Atmosphäre, und das sorgt auch dafür, dass manches sehr komisch ist und anderes wiederum sehr tragisch.

Hanselmann: Wie ist das Stück eigentlich in den unterschiedlichen Ländern aufgenommen worden?

Spahic: Ja, sehr unterschiedlich. Auf verschiedene Art. Aber auch gleich wiederum. Was diese Region vereint, was sie verbindet, ist, denke ich, dass alle eine sehr ähnliche Mentalität haben. Und es gab vielleicht, so kann man das sagen, verschiedene Spannungen in verschiedenen Städten, die daraus entstanden sind.

Es gab manchmal auch ein Publikum, das sich diesen Problemen nicht stellen wollte. Der Problematik, die wir dort behandelt haben. Und ganz selten sind auch mal welche gegangen und haben den Zuschauerraum verlassen. Aber das Gute ist, dass meistens die Leute bleiben. Sie stellen sich dem, was wir dort zeigen.

Hanselmann: Hatten Sie eigentlich bei der Entwicklung des Stücks, bei den Vorbereitungen, freie Hand, also seitens der bosnischen Regierung? Also der Regierung von Bosnien-Herzegowina? Hat man Sie vielleicht dabei unterstützt von staatlicher Seite? Wie ist das gelaufen.

Spahic: Nein, wir hatten keine Probleme. Wir wurden ja unterstützt von der "Harde effect fun", und das ist eine politisch-kulturelle Organisation, die mit uns ihre erste Theaterproduktion hatte überhaupt.

Und man hat mich aus Sarajevo eingeladen, nach Belgrad zu kommen, und wir sind auch von der Stadt Belgrad unterstützt worden, und es gab in diesem Fall keine Behinderungen oder Probleme. Das passiert auch nicht mehr. Diese Region will sich ihrer Vergangenheit stellen. Man verdrängt das nicht mehr, man möchte aufarbeiten. Und immer mehr möchte man das auch.

Hanselmann: Selma Spahic, Regisseurin des Stückes "Hypermnesia". Danke für die Übersetzung an Maraj Amia. "Hypermnesia" ist zu sehen beim Festival "Neue Stücke aus Europa", das vom 14. bis zum 24. Juni in Wiesbaden und Mainz stattfindet.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema