Die Zeit wird außer Kraft gesetzt

30.07.2013
Wieder beschäftigt sich Patrick Modiano in seinem neuen Roman "Der Horizont" mit der Vergangenheit. Ein junges Paar verliebt sich im Paris der 60er-Jahre ineinander, verliert sich aber aus den Augen. 40 Jahre später begibt sich der Protagonist auf Spurensuche, die ihn nach Berlin führt.
Das ist wieder einer jener kleinen Romane, die Patrick Modiano ungefähr alle zwei Jahre herausbringt – Romane, die einen leichten, schwebenden Ton haben und die sich auf merkwürdige Weise zu entziehen scheinen. Sie haben nichts mehr mit jenem fulminanten Debüt zu tun, "Place de L’Etoile" aus dem Jahr 1968, wo Modiano sich provokativ von seinem familiären Hintergrund loszuschreiben versuchte – die Zeit der Kollaboration während der NS-Besetzung Frankreichs ist oft bei ihm präsent, die dubiose Geschichte seines Vaters – doch im Lauf der Jahre hat sich etwas anderes in den Vordergrund gedrängt.

Es geht um Traumbilder aus der Vergangenheit, um etwas Verschwundenes, das mit Sehnsucht aufgeladen wird, es geht, wie es in einem seiner letzten Romantitel doppeldeutig hieß, um die "verlorene Jugend".

Verloren wirkt auch seine neue Hauptfigur Jean Bosmans. Ab und zu holt ihn das bedrängende Bild seiner Eltern ein, wie sie ihn auf der Straße stellen und Geld von ihm fordern. Er ist mehrfach umgezogen, um diesen Nachstellungen zu entgehen, aber vor seinen Augen taucht es immer wieder auf: die herrische Geste der Mutter, die torerohafte Gestalt ihres Begleiters.

Das scheint ein Sinnbild für den existenziellen Fluch überhaupt zu sein, seinen Eltern nicht entrinnen zu können, doch näher erklärt wird hier nichts. Umso geheimnisvoller, bedrängender wird es. Seine zeitweilige Begleiterin Margaret Le Coz hat eine parallele Erfahrung: ihr stellt eine dubiose Figur namens Boyaval nach, ohne dass die Hintergründe näher beleuchtet werden, und stärker als seine reale Bedrohung ist die Rolle, die er als Einbildung in ihrem Leben spielt.

Beiläufig fallen kurze Sätze, mit denen sich Bosmans klar macht, dass es "keinen Halt im Leben" gibt, Sätze, die einen "leichten Schwindel" verursachen. Doch wenn er 40 Jahre nach den Geschehnissen, nach der recht kurzen Liebesbegegnung mit Margaret zurückblickt, erscheinen einzelne Szenen in einem verführerischen Licht: das Kontor, in dem Margaret einige Tage lang allein arbeitet, die Buchhandlung, in der Bosmans aus der Zeit herauszufallen scheint, überhaupt die Momente, in denen die Zeit außer Kraft gesetzt wird. Diese Zeitlosigkeit ist die Vorstellung, die der Roman umkreist und eine Ahnung von ihr einfängt.

Melancholie und Glück geraten in einen unentwirrbaren Zusammenhang. Und wie nebenbei schmuggelt Modiano auch hier autobiografische Erfahrungen mit ein, die Figur Bosmans ist eine der vielen Folien, mit denen sich sein Schriftsteller-Ich bedeckt und durch die er sich auch von sich selbst fortzuschreiben scheint. Die zwei Clairefontaine-Hefte, in die Bosmans damals, als Zwanzigjähriger, Romanpassagen gekritzelt hat, in einer "kleinen Schrift, die ein Gefühl von Beklemmung und Erstickung verriet" – sie sind jetzt in einen betörenden kleinen Roman überführt worden, der einen ganz neuen Horizont eröffnet. Es ist der wunderbare, aktuelle Mosaikstein im Lebenswerk dieses leisen, ungeheuer eindringlichen Schriftstellers.


Besprochen von Helmut Böttiger

Patrick Modiano: Der Horizont
Aus dem Französischen von Elisabeth Edl
Carl Hanser Verlag, München
175 Seiten, 17,90 Euro
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