"Die Wunden sind noch da"

Jasmina Mameledzija im Gespräch mit Susanne Führer · 10.07.2009
Bosnien-Herzegowina habe die Angehörigen der Opfer von Srebrenica nicht ausreichend bei der Bewältigung des Massakers unterstützt, kritisierte Jasmina Mameledzija von der International Commission for Missing Persons. Erst jetzt – 14 Jahre nach den Greueltaten – plane die Regierung ein Gesetz zur ökonomischen und sozialen Hilfe.
Susanne Führer: Dass Amra Begic morgen ihren Mann endlich beerdigen kann, das verdankt sie der Arbeit der International Commission for Missing Persons, also der internationalen Kommission für Vermisste. Und deren Sprecherin, Jasmina Mameledzija, sitzt jetzt in einem Studio des bosnischen Rundfunks in Sarajewo, und ich grüße Sie ganz herzlich, Frau Mameledzija!

Jasmina Mameledzija: Guten Tag, Grüße an Sie und Ihre Zuhörer und Zuhörerinnen!

Führer: Danke schön. Seit 1996 birgt ja Ihre Organisation die Überreste der Ermordeten und versucht sie zu identifizieren. Warum ist das eigentlich für die Angehörigen so wichtig? Reicht es nicht, zu wissen, mein Mann liegt auch in diesem Massengrab?

Mameledzija: Nein, das ist auf jeden Fall nicht genug. Es ist auf einer Seite sehr wichtig für die Familie als individuelle Personen, diese Geschichte über vermisste Personen zu beenden, dass sie jetzt wissen, dass die Person nicht mehr vermisst ist, sondern ein Grab hat, einen Platz, wo die Familie hingehen kann und sozusagen mit der Person zusammen sein kann und zu beten auf dem Grab. Auf der anderen Seite ist es sehr wichtig, die vermissten Personen auszugraben und zu identifizieren, damit es ein Fakt für die Geschichte ist, damit es keine falschen Geschichten gibt später. Und auf einer dritten Seite ist es sehr wichtig für die Beweise, dass ein Kriegsverbrechen verübt wurde und dass diese Menschen ermordet worden sind. Und es wurde auch versucht, dieses Verbrechen zu verstecken.

Führer: Wie geht denn diese Identifizierung nun vonstatten?

Mameledzija: Also es geht halt von dem Massengrab aus, die Körper werden ausgegraben, und wir bekommen dann einen Teil der Knochen, von denen wir die DNA herausnehmen. Und auf der anderen Seite nehmen wir einen Bluttropfen von den Familienangehörigen der Opfer, und wir isolieren auch ihre DNA. Und dann mithilfe unserer Software, das die ICMP allein erbaut hat, finden wir die Übereinstimmung von der DNA von dem Knochen und von der DNA von den Bluttropfen der Familie. Und so wissen wir, wer die Person ist. Das ist eine normale, also eine übliche Weise. Nur im Srebrenica-Fall ist es sehr schwer und sehr kompliziert. Wir haben zwei Objekte nur für Srebrenica erbaut, zwei forensische Objekte (…). Und wir haben ein sehr gutes forensisches System, das momentan das beste in der Welt ist. Und trotzdem haben wir immer noch Probleme, die Überreste zu identifizieren. Wir haben soweit fast 6200 DNA-Identifikationen von Srebrenica-Opfern gemacht, aber es sind nicht mal 4000 begraben worden. Das heißt, dass wir um die 2000 Körperteile in unseren Objekten liegen haben – wir wissen den Namen für die Opfer, aber wir können sie nicht begraben, weil sie einfach sehr unkomplett sind, weil es immer noch irgendwo im Land Massengräber gibt, deren Überreste da drinnen liegen. Und da hat die Familie auch Probleme damit. Stellen Sie sich nur eine Mutter vor, die jetzt sagen muss: Wie viel ist von meinem Kind genug, um es zu begraben? Also ich kann das nicht nachvollziehen, weil ich niemanden habe, der vermisst ist, aber stellen Sie sich vor, wie das für eine Mutter ist, die jetzt entscheiden muss, ob sie warten soll noch, wie lange, werden da jemals diese Massengräber gefunden werden oder soll sie jetzt dieses Kind begraben, und dann was passiert, wenn später noch ein Körperteil gefunden wird und dann das Grab wieder noch mal eröffnet werden muss. Das ist sehr schwer für die Familie. Und für uns ist am wichtigsten, dass die Menschen, die Informationen über Massengräber haben – und es gibt diese Menschen hier in Bosnien, die hier leben –, dass sie einfach die Informationen mit uns teilen und mit den Autoritäten, die dafür verantwortlich sind.

Führer: 14 Jahre Massaker von Srebrenica. Im Deutschlandradio Kultur spreche ich mit Jasmina Mameledzija von der International Commission for Missing Persons, die die Opfer von damals identifiziert. Frau Mameledzija, wir haben es ja gerade im Beitrag gehört, es gibt Frauen, die haben fünf, sechs oder noch mehr Angehörige verloren – ihren Großvater, ihren Vater, ihre Söhne, ihren Bruder. Wie leben diese Frauen heute, wie geht es ihnen wirtschaftlich, psychisch?

Mameledzija: Wie leben diese Frauen? Also ich kann von meiner Ansicht sagen, dass diese Frauen für mich Heldinnen sind. Also stellen Sie sich vor, dass sie ohne Männer geblieben sind, ohne Söhne, und sie haben ja in so einer Gesellschaft gelebt, wo der Mann der Kopf der Familie ist und später dann die Söhne helfen. Und jetzt sind diese Frauen alleine geblieben oder mit kleinen Kindern. Und ehrlich gesagt, ich weiß gar nicht, wie sie überleben. Also die Regierung gibt ihnen nicht die Hilfe, die sie brauchen. Sie haben keine spezielle psychologische Betreuung bekommen. Und heute versucht Bosnien und Herzegowina ein Gesetz durchzusetzen – das ist das Gesetz "vermisste Personen" –, und das würde den Frauen von Srebrenica, und nicht nur ihnen, sondern auch anderen Opfern helfen, um ökonomische und soziale Unterstützung zu bekommen. Wie sie heute leben? Einige von denen sind zurückgekehrt nach Srebrenica und die Orte um Srebrenica herum, einige sind in Sarajevo geblieben, einige sind wer weiß wo in der Welt. Die Frauen, die nach Srebrenica zurückgekehrt sind, wollten einfach zurück, weil sie sagen, ich bin hier das letzte Mal mit meinem Mann, mit meinen Söhnen gewesen, und wenn ich hier bin, habe ich das Gefühl, dass sie um mich herum sind. Andere aber wollen überhaupt nicht zurückgehen, weil es für sie zu schmerzlich ist, durch die Stadt zu laufen und sich an alles erinnern, was passiert ist. Also es hängt von der Person ab.

Führer: Sagen Sie, wie ist denn heute eigentlich auf so einer Alltagsebene das Verhältnis zwischen Bosniaken und Serben? Also rund um Srebrenica leben ja sehr viele Serben, auch in Sarajevo gibt es welche, wenn auch nicht sehr viele. Geht man sich aus dem Weg oder lebt man miteinander?

Mameledzija: Also Sarajevo an sich ist eine spezielle Stadt und spezielle Umgebung. Es war ja eine multikulturelle Stadt, und ich mag es zu meinen, dass es immer noch ist. Es gibt sehr viele gemischte Ehen, immer noch, und es gibt auch immer noch neu gemischte Ehen, das heißt, dass hier für die Menschen das nicht so sehr wichtig ist. Man kann es gar nicht merken in Sarajevo, dass irgendwann mal Krieg war. Aber in Srebrenica ist das anders. Für die Angehörigen, die zurückgekehrt sind, sie haben Nachbarn, die Serben sind, und sie treffen auch Leute in der Stadt und sie begrüßen sie auch, aber sie wollen nichts miteinander zu tun haben.

Führer: Das heißt, dass jetzt außer in Sarajevo sonst im Land der vergangene Krieg und auch dieses Massaker immer noch im Alltag eine große Rolle spielen?

Mameledzija: Das stimmt schon, weil die Menschen immer noch alles daran teilen, wie es vor dem Krieg war und wie es nach dem Krieg war. Und das ist eigentlich auch ganz normal für ein Land, das vier Jahre lang im Krieg war, und dass vieles sich verändert hat nach dem Krieg. Ich kann das vielleicht auch ein bisschen vergleichen, wie es in Deutschland war nach dem Zweiten Weltkrieg – die Gesellschaft hat viele Jahre gebraucht, um davonzukommen sozusagen. Und ich glaube, dass es in Bosnien auch so ist. Es ist immer noch Wunden gibt, aber dass in größeren Städten, wo Menschen mehr Möglichkeiten haben, Arbeit zu finden, Geld zu verdienen und zur Schule zu gehen, dass es schon anders ist, dass Menschen das schon nicht vergessen, aber nicht mehr darüber nachdenken. In kleineren Orten in Bosnien-Herzegowina, wo die Menschen nichts zu tun haben, sieht es schon ganz anders aus, für die ist es viel schwerer.

Führer: Jasmina Mameledzija von der International Commission for Missing Persons. Ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch, Frau Mameledzija!

Mameledzija: Gern geschehen. Schönen Gruß