Die Wirtschaft vernachlässigt ältere Mitbürger

Moderation: Frank Meyer · 28.08.2007
Der Gerontologe Gerhard Naegele hat die Wirtschaft kritisiert, bislang ältere Menschen stark vernachlässigt zu haben als Konsumenten, obwohl sich deren ökonomische Lage stark verbessert habe. Zugleich forderte er, bessere Rahmenbedingungen für ältere Arbeitnehmer zu schaffen, um deren Potenziale besser zu nutzen. Zudem brauche es mehr Angebote für Ältere, sich bürgerschaftlich zu engagieren.
Frank Meyer: Nirgendwo in Europa altert die Gesellschaft so schnell wie in Deutschland. Etwa 80 Jahre alt werden die Deutschen heute im Durchschnitt, nur mal ein Vergleich: Vor 130 Jahren, um das Jahr 1870 herum, war die durchschnittliche Lebenserwartung für einen neugeborenen Jungen 35 Jahre, für ein Mädchen 38 Jahre.

Das Altern unserer Gesellschaft wird oft als demographische Katastrophe beschrieben. Bei dem Demographiekongress "Best Age", der heute in Berlin begonnen hat, werden aber auch die besonderen Chancen, die Potenziale des Alters diskutiert. Professor Gerhard Naegele leitet das Forum "Potenziale des Alters" bei diesem Kongress, er ist Direktor der Forschungsgesellschaft für Gerontologie.

Gerhard Naegele, die Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen hat vor Kurzem gefordert, in Deutschland sollte der "Wirtschaftsmotor Alter" gestartet werden, das heißt die gutbetuchten Alten, die sollen ordentlich zum Geldausgeben animiert werden, oder?

Gerhard Naegele: Ja, so direkt kann man das natürlich nicht sehen. Es ist schon richtig - die ökonomische Lage der älteren Menschen hat sich im Durchschnitt stark verbessert und wir wissen auch, dass viele ältere Menschen sehr viel auf die hohe Kante legen, also sparen. Insofern liegt es ja nahe, über die Ankurbelung der privaten Nachfrage auch so einen, ja so einen Impuls für wirtschaftliches Wachstum, für neue Arbeitsplätze zu suchen.

Man muss natürlich auch gleichzeitig sehen, dass speziell ältere Menschen mit ihren Konsumbedürfnissen bislang stark vernachlässigt worden sind durch die Anbieter, durch die Konsumgüterindustrie, durch die Dienstleistungswirtschaft, und von daher könnten sich ja sozusagen beide Interessen treffen, also die der Älteren nach mehr auf sie bezogenen Gütern und Dienstleistungen, und die der Wirtschaft oder der Anbieter nach mehr Nachfrage.

Meyer: Die Anbieter sollten daran ja eigentlich interessiert sein, denn es gibt neue Studien, die belegen, dass die Generation 50 plus bald mehr Geld zum Ausgeben haben wird als die berühmte, werberelevante Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen, das heißt die Älteren, die werden bald zur wichtigsten Konsumentengruppe?

Naegele: Na, sie werden auch quantitativ größer, nicht. Also, das muss man ja sehen, diese Altersgruppe nimmt ja sehr stark auch zu, quantitativ, das heißt, es gibt einfach mehr Nachfrager in diesen Altersgruppen, und von daher ist das durchaus berechtigt zu vermuten, dass in dieser Gruppe hohe Kaufkraftreserven sind.

Aber ich will das noch mal auf den Punkt bringen: Bislang wurden ältere Menschen auch sehr stark vernachlässigt durch die Anbieterwirtschaft. Denken Sie etwa im Bereich Seniorentourismus, Seniorenwellness, Sport, in der Bildung, im Kulturbereich, im Wohnbereich, handwerkliche Dienstleistungen, hauswirtschaftliche Dienstleistungen. Das alles gilt in der Bundesrepublik - verglichen jetzt etwa mit Staaten, die demographisch schon ein bisschen weiter sind, wie etwa Japan - stark unterentwickelt. Insofern ist es durchaus richtig, zu sehen, dass hier Wachstumschancen und Wachstumspotenziale liegen.

Allerdings darf man auch nicht übersehen - und da wird in der Debatte natürlich immer drüber hinweggesehen -, dass wir durchaus auch noch Armut haben in der Bundesrepublik, vor allen Dingen bei älteren, alleinstehenden Frauen, und wir werden künftig, wenn Sie mal in die Zukunft projizieren, werden wir durchaus auch noch ökonomische Unterversorgung und Armut in durchaus steigendem Ausmaß haben.

Meyer: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Gerontologen Gerhard Naegele, er leitet das Forum "Potenziale des Alters" beim heute beginnenden Demographiekongress "Best Age" in Berlin. Wenn wir darüber reden, über den Wirtschaftsmotor Alte, wird es denn auch darum gehen, ältere Menschen wieder als Arbeitskräfte zurückzugewinnen, ihnen mehr Jobs anzubieten in der deutschen Wirtschaft, als das heute der Fall ist?

Naegele: Na, da bin ich nicht so optimistisch. Wir haben zwar die Altersgrenzen angehoben, vielleicht auch in der Erwartung, dass der eine oder andere jetzt auch länger im Erwerbsleben bleibt, aber solange wir nicht die Arbeitsbedingungen so verändern und so schaffen, dass auch ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter länger im Erwerbsleben bleiben können, muss eine Altersgrenzenanhebung alleine ins Leere laufen, im Gegenteil, sie erhöht sozusagen die Dauer der Arbeitslosigkeit für Ältere, das ist meine Befürchtung.

Insofern benötigen wir jetzt wirklich zeitgleich und parallel dazu Initiativen, die auf der betrieblichen Ebene ansetzen, um einfach die Arbeitsbedingungen zu verändern. Bitte vergessen Sie nicht, dass wir im großen Maße Branchen und Berufe haben, in denen eine Weiterarbeit bis 60, 65 gar nicht möglich ist, weil die Menschen das aus gesundheitlichen Gründen gar nicht schaffen, oder weil die Arbeitsbelastung so hoch ist. Hier müssen wir also gegensteuern.

Meyer: Sehen Sie schon Anzeichen dafür, dass da die Politik oder die Wirtschaft schon überlegt, schon erste Maßnahmen ergriffen hat?

Naegele: Der eine oder andere Betrieb macht das. Wir haben eine Vielzahl von Einsichten in betriebliche - sozusagen - Handlungsstrategien. Dann, wenn es eng wird, auf Arbeitsmärkten regional oder fachspezifisch, dann tut man was. Aber solange die Arbeitslosigkeit noch so ist, wie sie im Moment ist, und der Bedarf an Älteren nicht so stark ist, haben die Betriebe weitgehend immer noch ein Interesse daran - vor allem die Großbetriebe, muss man einschränkend sagen -, vorzeitig Beschäftigte nach Hause zu schicken.

In Klein- und Mittelbetrieben ist das ein bisschen was anderes. Hier haben Ältere sehr viel bessere Chancen, zu bleiben. Problematisch wird es, was die Einstellung älterer Langfristarbeitsloser betrifft, also derjenigen, die schon seit Jahren draußen sind, in der Arbeitslosigkeit sind. Hier werden wohl auch in den nächsten Jahren nur solche eine Chance bekommen, die qualifiziert sind, deren Gesundheitszustand einigermaßen okay ist.

Meyer: Jetzt schauen Sie sich bei Ihrem Forum heute über die Potenziale älterer Menschen zum Glück nicht nur die älteren Menschen als Konsumenten an oder als Arbeitskräfte, sondern auch als politische Wesen. Es geht auch zum Beispiel um das bürgerschaftliche Engagement älterer Menschen, in Ehrenämtern zum Beispiel engagieren sich ja schon viele ältere Menschen. Welche Formen gibt es da noch bürgerschaftlichen Engagements, die man sich vorstellen kann?

Naegele: Also, das Ehrenamt wäre mir zu wenig. Das Ehrenamt hat immer was damit zu tun, ich tue es umsonst, und ich tue es aus der Ehre heraus. Die Motive haben sich sehr stark verändert, wir haben heute 60-Jährige, 65-Jährige oder 55-Jährige, die in hohem Maße kompetent sind, beruflich kompetent sind, vom Bildungsniveau her kompetent sind, die eine Menge auch zu bieten haben für andere, und wir müssen uns auch vor allen Dingen auf der kommunale Ebene hier um bessere Einsatzmöglichkeiten - und zwar jenseits des traditionellen Ehrenamtes, also angebunden an Wohlfahrtspflege usw. und Kirchen - suchen.

Dazu zählt etwa die Mitarbeit im Umweltschutz, in der Bürgerberatung, warum nicht auch in der Altenhilfe, in der Ausländerarbeit, in der Aus- und Weiterbildung von jungen Menschen, in den Familien findet ja im hohen Maße Unterstützung durch Ältere statt. Also, hier sind Potenziale, die in keiner Weise bislang sozusagen ausgenutzt werden.

Wir wissen aus zahlreichen Untersuchungen, die wir unter anderem selbst in Dortmund gemacht haben, dass das Interesse an bürgerschaftlichem Engagement, so möchte ich mal sagen, sozial-bürgerschaftlichen Engagement und nicht ehrenamtlicher Tätigkeit, sehr, sehr groß ist. Das darf aber nicht so sein, dass man da vereinnahmt wird durch die Wohlfahrtspflege. Hier muss man auch Mitwirkungsmöglichkeiten haben.

Die Älteren sind sehr viel stärker an einzelnen Projekten interessiert und was sie keineswegs wollen, sozusagen dauer-vereinnahmt werden, nach dem Muster, erst mal schmeißen sie sie früh aus dem Erwerbsleben raus und dann nutzen wir sie ehrenamtlich umsonst. Also, das merken die neuen Gruppen der Älteren sehr genau, was ein ehrliches Angebot ist und was sozusagen ein Kompensationsangebot ist.

Meyer: Gerhard Naegele, Mitte der 90er Jahre war in Deutschland von der Altenplage die Rede, von der Rentnerschwemme, das wurde ja zum Unwort des Jahres 1996 gewählt, Rentnerschwemme. Wenn jetzt, wie bei Ihrem Forum, über die Potenziale des Alters diskutiert wird - wird das auch dazu beitragen, dass in unserem Land weniger verächtlich auf ältere Menschen herabgesehen wird?

Naegele: Also, das ist natürlich eine dahinterstehende Strategie, sozusagen das Bild des Alters zu verbessern, und ich denke, diese politische Absicht muss man auch durchaus sehen. In einer alternden Gesellschaft - und wir leben eben in einer alternden Gesellschaft, da wird sich kurz-, mittelfristig nichts dran ändern - müssen wir natürlich, auch im Interesse der Gesellschaft aber auch im Interesse des einzelnen älteren Menschen, dafür sorgen, dass hier sozusagen die Rahmenbedingungen, die klimatischen Rahmenbedingungen, so möchte ich es mal nennen, auch irgendwie stimmen.

Wenn wir negative Bilder vor uns hertragen, müssen wir uns nicht wundern, dass die Menschen selbst, die davon betroffen sind, auf diese negativen Bilder negativ reagieren. Und das ist genau das, was wir nicht gebrauchen können. Wir müssen eine Solidarität der Generationen untereinander fördern, wir müssen die Älteren auch produktiv und gesellschaftlich nutzbringend stärker einsetzen.

Also, die Zeit, in der Ältere sozusagen sich zurückziehen konnten aufs sogenannte Altenteil, den Ruhestand genießen und wie diese Begriffe alle hießen, die sind ein für allemal vorbei. Ich denke, der wohlverdiente Ruhestand ist eine Vorstellung, von der wir uns wirklich verabschieden müssen. Wir brauchen den engagierten und aktiven, auch den mitverantwortlichen älteren Mitbürger, und mitverantwortlich auch für die Umwelt, verantwortlich übrigens auch für sich selbst, auch das ist ein wichtiger Punkt.

Wir wissen, dass Ältere eine Vielzahl von Potenzialen haben, um selbst Gesundheitsförderung zu betreiben, um selbst sozusagen geistig fit zu bleiben, ihre Aktivitätsmöglichkeiten und Potenziale zu fördern, an Bildungsmaßnahmen teilzunehmen usw. Auch dazu brauchen wir andere Angebote, unter anderem auch Altersbilder. Es wäre allerdings verfehlt, wenn wir nur die Bilder sozusagen auswechseln würden. Wir müssen auch Rahmenbedingungen schaffen, dass die neuen Bilder auch sozusagen Platz finden, dort realisiert zu werden.

Meyer: Heute beginnt in Berlin der demographische Kongress "Best Age", bei dem Politiker und Fachleute aus Wissenschaft, Wirtschaft und Sozialverbänden über das Altern unserer Gesellschaft diskutieren. Über die Potenziale des Alters habe ich mit Professor Gerhard Naegele gesprochen, er ist Direktor der Forschungsgesellschaft für Gerontologie. Vielen Dank für das Gespräch.