Die Wiederherstellung eines verloren geglaubten Erbes

09.02.2011
"Das große Haus" folgt dem gleichen Erzählmuster wie der vorige Roman von Nicole Krauss. Nur ist es diesmal kein Manuskript, sondern ein Schreibtisch, der die Verknüpfung zwischen weit auseinander liegenden Zeiten, Orten und Figuren stiftet.
Beide Male benützt die Autorin ein mit Bedeutung aufgeladenes Objekt, um die Schicksale von Holocaust-Überlebenden in eine untergründige Beziehung zueinander zu setzen. Beide Male geht es um historische Spurensuche, um die Bewahrung von Erinnerung und um die Wiederherstellung eines verloren geglaubten Erbes.

Dieser Schreibtisch ist ein monströses Möbelstück mit 19 Schubladen, das als Raubgut der Nazis aus jüdischem Besitz in Budapest auf verschlungenen Wegen über London nach New York gerät, ehe es nach Jahrzehnten und nach mehrfachem Besitzerwechsel wieder in die Hände des Sohnes des rechtmäßigen Eigentümers gelangt.

Dieser Sohn, Georg Weisz, ist von Beruf Antiquitätenhändler und darauf spezialisiert, im Auftrag der ursprünglichen Eigentümer geraubte jüdische Besitztümer aufzuspüren. Und er will in Jerusalem das Budapester Arbeitszimmer seines in Auschwitz umgekommenen Vaters mit allen wertvollen Original-Gegenständen rekonstruieren. Alle Möbelstücke hat Weisz nach langer Spurensuche wieder aufgetrieben, nur der Schreibtisch hat ihm noch gefehlt.

Dieser Schreibtisch wandert im Roman von Hand zu Hand. Jahrzehntelang benützt ihn Lotte Berg, eine jüdische Schriftstellerin in London, die sich mit einem Kindertransport nach England retten konnte. Sie schenkt ihn einem jungen chilenischen Dichter, der ihn nach New York mitnimmt und einer amerikanischen Schriftstellerin namens Nadia zur Aufbewahrung überlässt, ehe er nach dem Sturz Allendes in den Folterkellern des chilenischen Putschgenerals Pinochet umkommt. Nach Jahrzehnten verschafft sich die Tochter des Möbel-Fahnders Georg Weisz mit einem Trick Zugang zu Nadia in New York und fordert den Schreibtisch zurück.

Dieses labyrinthische Konstrukt mit seinen manchmal sogar etwas gewaltsamen Plot-Verknüpfungen beherrscht den Roman allerdings nur vordergründig. Nicole Krauss verteilt das Roman-Geschehen auf vier Erzähler, denen jeweils zwei Kapitel gehören und die, weit über die Schnitzeljagd nach einem Möbel-Ungetüm hinaus, eine intensive, meist schmerzliche Individualität entfalten. Alle vier Erzähler-Figuren sind unglücklich und quälen sich mit menschlichen Enttäuschungen und fehlgehenden Beziehungen. So muss etwa Lotte Bergs Ehemann, ein Oxford-Professor, entdecken, dass ihm seine Frau Jahrzehnte lang verschwiegen hat, dass sie Mutter eines Sohnes war, den sie zur Adoption weggegeben hat.

Die längste Zeit lässt die Autorin den Leser im Unklaren darüber, wie sie diese weit auseinander liegenden Lebensläufe überhaupt zusammenzuführen gedenkt. Erst gegen Schluss des Romans werden die Zusammenhänge gestiftet. Sie fallen aber gar nicht sehr ins Gewicht, verglichen mit der emotionalen Intensität, die von den Erzählerstimmen ausgeht. In der Dichte und Dringlichkeit, mit der das Innenleben dieser vier Erzähler-Ichs entfaltet wird, liegt die eigentliche Stärke der Autorin Nicole Krauss.

Besprochen von Sigrid Löffler

Nicole Krauss: Das große Haus
Aus dem Amerikanischen von Grete Osterwald
Rowohlt Verlag, Reinbek 2011
375 Seiten, 19,95 Euro