Weibliches Schreiben

"Sensibilisiert für patriarchale Strukturen"

29:43 Minuten
Die Verlage achten mehr und mehr auf Autorinnen.
Verlage achten inzwischen mehr und mehr darauf, wie Autorinnen wahrgenommen werden © Getty Images / Paffy69
Von Sonja Hartl · 09.09.2022
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Was ist weibliches Schreiben? Die Antworten darauf sind vielfältig. Sicher ist: Die Wahrnehmung von Autorinnen hat sich in den letzten Jahren verändert. Verlage, die hauptsächlich schreibende Männer im Programm haben, werden kritisch hinterfragt.
"Weibliches Schreiben kann darin bestehen, dass Frauen Themen bearbeiten, die mit Schweigen belegt sind," sagt die Schriftstellerin Alexandra Riedel. Und ihre Kollegin Alexa Hennig von Lange meint: "Ein typisch weibliches Schreiben gibt es nicht. Das ist total durchdrungen von männlichem Wahrnehmen, männlichem Ausdruck und männlichen Bewertungsmustern."
Auf jeden Fall verändert sich die Wahrnehmung von weiblichem Schreiben. Bei Verlagen wird genau hingeschaut, wie viele Autorinnen es im Programm gibt.
"Weibliches Schreiben bezieht sich auf zwei unterschiedliche Dinge", findet die Autorin Ulla Lenze: "einmal die Produktionsbedingungen des Schreibens als Autorin. Und dann eben das Schreiben selber. Gibt es wirklich eine Schreibweise, einen Stil, der ausgesprochen weiblich wäre?"
"Ich finde," sagt Kaśka Bryla, "es ist eher die Frage der Perspektive. Aus welcher Perspektive heraus schreibe ich?"

Männer erklären die Welt

Das Thema ist komplex: Blickt man in die Literaturgeschichte, so hat das Schreiben von Frauen immer mal wieder besondere Aufmerksamkeit bekommen. Virginia Woolfs Essay "Ein Zimmer für sich allein" lenkte den Blick auf die Bedingungen, unter denen Frauen schreiben. In den 1970er-Jahren setzte mit der Frauenbewegung die Diskussion über den Begriff des weiblichen Schreibens und das Bestreben ein, den männlich dominierten Kanon zu verändern.
Damals wurden viele weibliche Autorinnen wiederentdeckt und in den literarischen Kanon aufgenommen, erzählt Lina Muzur, Verlagsleiterin von Hanser Berlin: "Sei es Ingeborg Bachmann oder Katherine Mansfield oder jemand wie Jane Austen, bei der man angefangen hat, sie ganz anders zu lesen als früher, wo sie einfach nur in eine Frauenliteratur-Schublade gesteckt wurde."
Dennoch sei die Anerkennung weiblichen Schreibens in der Literaturgeschichte eher der Sonderfall, meint die Schriftstellerin Sandra Gugić: "Es war eine Selbstverständlichkeit, dass Männer schreiben, dass Männer Geschichten erzählen, dass Männer die Welt erzählen, das sogenannte weibliche Schreiben musste sich ja quasi den Platz erkämpfen."

Eine Art Selbstermächtigung

Doch inzwischen habe weibliches Schreiben eine Aufwertung erfahren, so Ulla Lenze: "als etwas, das wichtig ist, das relevant ist und das tatsächlich auch Männer interessieren könnte. Das hat sehr viel mit der Bewegung #Metoo zu tun, die uns sehr sensibilisiert hat für patriarchale Strukturen und Übergriffigkeiten, die sich einfach so eingeschliffen haben und selbstverständlich waren."
Durch #Metoo wurde deutlich, dass das Erleben sexualisierter Gewalt nicht das Problem Einzelner ist, sondern Teil der patriarchalen Gesellschaft. Mit den Möglichkeiten des Internets und der sozialen Medien entstand ein globaler Resonanzraum.
"Das war wie eine Selbstermächtigung," sagt Lina Muzur. "Frauen haben angefangen, über diese Dinge zu schreiben, die mit Weiblichkeit zu tun haben. Das war wie eine kleine Revolution."
So haben beispielsweise Bücher von Autorinnen wie Rachel Cusk, Annie Ernaux oder Isabelle Lehn viel Aufmerksamkeit bekommen. Sie erzählen autofiktional über Sex und Macht, über sexualisierte Gewalt und den weiblichen Körper, sie fragen, wie gesellschaftliche Erwartungen, das Fremd- und Selbstverständnis als Frau und Künstlerin zusammengehen.
Lina Muzur ergänzt: "Es wird nicht mehr einfach nur als eine Art weibliches Tagebuch gelesen, worauf ein bisschen herabgeschaut wird, sondern es wird sehr ernst genommen und es hat auf jeden Fall etwas Emanzipatorisches."
#Metoo entfacht eine Entwicklung neu, die es als breite Bewegung bereits in den 1970er- und 1980er-Jahren gegeben hat: Frauen beanspruchen, dass ihre Erfahrungen ernst und öffentlich wahrgenommen werden.

Tendenziell politisch

Doch lässt sich weibliches Schreiben überhaupt definieren? Die Verlegerin Lina Muzur findet nicht, dass an Stil und Sprache erkennbar sei, dass ein Buch von einer Frau stammt.
Ähnlich sieht es auch die Schriftstellerin Alexandra Riedel: "Es ist schwierig, das typisch Weibliche innerhalb eines Textes ausfindig zu machen, zumindest nicht ohne Gefahr zu laufen, sich irgendwelcher stereotypischer Weiblichkeitsvorstellungen oder patriarchaler Denkstrukturen zu bedienen."
Auch berge der Begriff das Problem, diese Literatur in eine Nische zu stecken. Schließlich spreche man ja auch nicht von männlichem Schreiben.
Möglicherweise kommt man über die Inhalte und die Perspektive weiter, aus der geschrieben wird. Weibliches Schreiben sei tendenziell ein politisches Schreiben, meint Sandra Gugić: "Weil oft aus einer Position gesprochen wird, die prekär ist, weil oft aus einer Position gesprochen wird, die eine Position der Minderheit darstellt. Aus einer unterdrückten Position. Und deswegen sehe ich auch oft eine bestimmte Dringlichkeit und eine Wut."

Kinder und Schreiben

Ein wichtiger Aspekt: Unter welchen Lebensumständen entsteht diese Literatur? Sandra Gugić sagt dazu: "Ein schreibender Mensch ist tendenziell nicht ein Genie, das von selbst Texte ausspuckt, sondern man braucht Mittel und Zeit. Die Lebensumstände von einer Frau, die Kinder hat, sind ganz andere, weil da sofort ein Zeitproblem ist."
Auch Sabine Scholl, die seit den frühen 1990er-Jahren schreibt und sich bewusst dafür entschieden hat, in ihren Büchern weibliche Themen zu verhandeln, kennt das Problem, Kinder und Schreiben miteinander zu vereinbaren, gut. Kindererziehung, die Pflege von Familienangehören, die Sorgearbeit wird weiterhin vornehmlich von Frauen verrichtet und ist für Autorinnen ein Hindernis.
Eine Veränderung ließe sich hier mithilfe einer Tradition erwirken, die insbesondere von Frauen, People of Color und anderen Minderheiten angewandt wird: mit Solidarität der Gesellschaft entgegentreten.
Sandra Gugić erzählt davon, dass sich Autorinnen zusammengetan haben, um sich auszutauschen und zu schauen, wie man die Bedingungen langfristig verändern kann. Der Arbeitstitel des Netzwerks: "Writing with Care, Writing with Rage".
Ein solches Netzwerk hält die Literaturagentin Julia Eichhorn für sinnvoll: "Es wird ja nicht umsonst immer von Männerbünden gesprochen. Das ist natürlich kein Vorbild, das sollte nicht einfach so übernommen werden. Aber ich glaube schon, dieses Sich-gegenseitig-unterstützen, das Know-How der anderen mitnutzen, um nicht immer wieder von vorne anfangen zu müssen, das ist ganz zentral. Und ich glaube, dass das Bewusstsein dafür zunimmt und auch die Initiativen zunehmen."

Als "scheues Reh" bezeichnet

Trotz aller Aufmerksamkeit werden Bücher von Frauen, das hat die Studie "Frauen zählen" ergeben, seltener in Feuilletons besprochen als die von Männern. Es gibt aber nicht nur zahlenmäßige Unterschiede, auch die Art und Weise unterscheide sich.

Die Sendung wurde erstmals am 4. September 2020 ausgestrahlt.

Die Autorin Sandra Gugić sieht das so: "Die Superlative, die da verwendet werden, für Autoren oder auch Autorendebüts, sind ganz andere, wenn das jetzt ins Positive geht, als bei Frauen. Es ist ein bisschen zurückhaltender, ein bisschen gedämpfter. Es ist immer ein bisschen verkleinernder, Frauen werden immer verkleinert, wenn man sagt, Frauen sind so fleißig. Und Männer sind genial. Das ist absurd."
Als 2019 die Schriftstellerin Sally Rooney in einer Rezension ihres Romans "Gespräche mit Freunden" als "scheues Reh" bezeichnet wurde, entstand der Hashtag #Dichterdran.
Diese Reaktionen können eine Auswirkung auf die Selbstwahrnehmung haben. Eine Erfahrung, die Alexa Hennig von Lange gemacht hat, als 1997 ihr Debütroman "Relax" erschien und sie als die weibliche Stimme der Popliteratur bezeichnet wurde:
"Die äußere Alexa, die mediale Alexa, fühlte sich plötzlich verpflichtet, einem bestimmten Bild zu entsprechen. Das war im Grunde genommen das Schwierigste für mich, mich wieder aus diesem medialen Bild von mir zurückzuziehen und zu der schreibenden Alexa zu finden."
Eines allerdings sollte in den Diskussionen über weibliches Schreiben nicht übersehen werden: Es sind immer Lebenserfahrungen, die das Schreiben beeinflussen. Das Geschlecht ist nur ein Aspekt.
(DW)

Mitwirkende: Lisa Hrdina und Veronika Bachfischer
Regie: Beatrix Ackers
Ton: Christiane Neumann
Redaktion: Dorothea Westphal

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