Die Vielfalt des Älterwerdens

29.05.2011
Die Aufsatzsammlung "Alter: unbekannt" beleuchtet das Phänomen des Alterns aus der Perspektive der Kulturwissenschaften. Der Band fügt der derzeit biologisch dominierten Altersforschung wichtige Aspekte hinzu.
Gebrechlich sinken die Frauen auf der einen Seite ins Bad und springen auf der anderen in jugendlicher Frische wieder an Land. Im Jahr 1546 entstand das Gemälde "Der Jungbrunnen" von Lucas Cranach dem Älteren. Mit der Neuzeit rückte das Individuum in den Fokus und damit auch sein biografischer Wandel. Beschränkung und Verlust wurden dem Alter zugeordnet, für Frauen kam die Hässlichkeit hinzu - muss das so sein?

Die Aufsatzsammlung "Alter: unbekannt" beleuchtet das Phänomen des Alterns aus Perspektive der Kulturwissenschaften. Der Untertitel verrät, was das Buch neben dem Verzicht auf eine biologische Debatte des Themas besonders macht: der Blick über den nationalen Tellerrand.

Zunächst widmet sich der erste Teil des Buches den Bildern des Alters in der westlichen Gesellschaft. In seinem Text "Ästhetik des Alters" untersucht der Philosoph und Theologe Christoph Türcke die Schönheit von Ruinen. Wer sich am Dahinschwinden alter Bauwerke erfreut, deutet ihren Zerfall als Ausdruck von Geschichte, Bedeutung und Würde. Eine solche Würde komme auch dem alten Menschen zu. Ein künstlich faltenlos gemachtes Gesicht hingegen verdamme sich zur "ewigen Eintagsfliege". Der biografische Blick, für den der Autor plädiert, hat nichts mit einer Verklärung der Vergangenheit zu tun; ebenso wie es bei der Betrachtung alter Bauwerke nicht um Nostalgie geht. Eine zerfallene Burg deute eine Vollkommenheit an, die es nie gab, sagt der Autor. Genau so könnten wir im Gesicht eines alten Menschen immer auch unerfüllte Hoffnungen sehen. Es gehe darum zu erkennen, "was aus dem Menschen erst noch werden soll".

Auch Gesellschaften werden älter. Darauf zielt der zweite Teil des Buches und richtet das Augenmerk auf Indonesien, Tansania, Mexiko, China und Migrantenfamilien in Deutschland. Detailreich und informiert führt die Sinologin Renate Krieg in die Situation alter Menschen in China ein. Das konfuzianische Gebot, wonach gehorsame Kinder ihre Eltern zu versorgen haben, wurde in der Mao-Zeit zu weiten Teilen über Bord geworfen. Nun versucht die chinesische Führung, es wieder zu beleben, denn die staatlichen Sicherungssysteme geraten an ihre Grenzen. Gleichzeitig lässt sich die junge Generation vor allem in den Städten nur ungern darauf verpflichten, zumal die Ein-Kind-Politik zur Folge hat, dass ein einziger Nachkomme seine beiden Eltern, oft auch die Großeltern und die eigenen Familie schultern müsste.

Gegen die starken Texte der ersten beiden Abschnitte fällt der Schlussteil des Buches über "Konstellationen von Körper, Seele und Geist" ein wenig ab. Dass Sexualität auch im Alter von vielen Menschen als erfüllend erlebt wird und Offenheit ein Merkmal jeder Lebenszeit sein kann, ist wenig erhellend. Insgesamt jedoch ist den Herausgebern eine abwechslungsreiche Sammlung gelungen, die unterstreicht: Ethnologie, Psychologie, Kunstgeschichte, Literatur- und Kulturwissenschaften haben der derzeit biologisch dominierten Altersforschung wichtige Aspekte hinzuzufügen.

Besprochen von Susanne Billig

Carolin Kollewe, Elmar Schenkel (Hg.), Alter: unbekannt - Über die Vielfalt des Älterwerdens
transcript Verlag
280 Seiten, 29,80 Euro