Die Verteidigung der offenen Gesellschaft

"Man braucht auf der demokratischen Seite mehr Leidenschaft"

Tausende Menschen haben sich am 22.10.2017 am Brandenburger Tor in Berlin versammelt, um "gegen Hass und Rassismus im Bundestag» zu demonstrieren. Anlass der Demo ist die erste Sitzung des neuen Bundestags am 24. Oktober.
Demonstration gegen Einzug der AfD in den Bundestag © Jörg Carstensen/dpa
Ralf Fücks im Gespräch mit Marcus Pindur · 18.11.2017
Der Direktor des Zentrums Liberale Moderne, Ralf Fücks, diskutiert mit uns unter anderem die Frage: Wie lässt sich die neue Verachtung der Demokratie und des Rechtsstaates erklären?
Karl Popper veröffentlichte 1945 sein Werk "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde": Eine Abrechnung mit Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus. Poppers Werk, der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verpflichtet, ragt immer noch als politisches Mahnmal und als philosophischer Werkzeugkasten aus der westlichen Ideengeschichte heraus.

Das Ende der Geschichte?

Viele dachten, der Liberalismus im historisch-philosophischen Sinne habe mit dem Ende der Sowjetunion unwiderruflich gesiegt. Der amerikanische Intellektuelle Francis Fukuyma rief gar das "Ende der Geschichte" aus. Doch es kam anders. Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit sind wieder gefährdet, im Herzen Europas und in der Mitte der amerikanischen Demokratie.

Deutschlandfunk Kultur: Als Karl Popper 1945 sein Werk "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" veröffentlichte, war jedem klar, mit wem der britische Philosoph österreichischer Herkunft abrechnete – mit den totalitären Regimen des Nationalsozialismus und des Sowjetkommunismus. Poppers liberales, der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verpflichtetes Werk ragt immer noch als politisches Mahnmal und gleichzeitig als philosophischer Werkzeugkasten aus der westlichen Ideengeschichte heraus. Viele dachten, der Liberalismus im historisch-philosophischen Sinne habe mit dem Ende der Sowjetunion unwiderruflich gesiegt. Der amerikanische Intellektuelle Francis Fukuyama rief gar das Ende der Geschichte aus. Doch es kam anders.
Erstmals seit den 1920er Jahren sind Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte wieder gefährdet – sogar im Herzen Europas und sogar in der Mitte der amerikanischen Demokratie. Bei uns zu Gast zum Tacheles-Gespräch ist der Direktor des Instituts liberale Moderne Ralf Fücks, den viele von Ihnen als Direktor der Heinrich-Böll-Stiftung und davor als aktiven Politiker der Grünen in Erinnerung haben. – Guten Tag, Herr Fücks.
Ralf Fücks: Guten Tag, Herr Pindur.
Deutschlandfunk Kultur: Sie haben einen eigenen Think Tank aus der Taufe gehoben, das Zentrum liberale Moderne. Sie haben dieses Jahr ein Buch mit dem Titel "Freiheit verteidigen" veröffentlicht. Hätten Sie 1989/90 gedacht, dass Freiheit, Demokratie und Rechtstaatlichkeit jemals wieder so in die Defensive geraten könnten?
Ralf Fücks: Ich glaube nicht. Wenn ich mich richtig erinnere, war ich damals auch erfasst von dieser Euphorie des großen demokratischen Aufbruchs, den wir damals im Herzen Europas gesehen haben und auch darüber hinaus, wenn ich daran erinnere, dass auch in China zur gleichen Zeit eine große Freiheits- und Demokratiebewegung los ging, die dann blutig erstickt worden auf dem Tian'anmen mit Panzern und zehntausenden von Toten. Also, das war schon eine Zeit, in der es so einen globalen Aufbruch gegeben hat zu Demokratie und Menschenrechten und Selbstbestimmung.
Natürlich ging es auch um materielle Interessen, um Anschluss an die westliche Wohlfahrtsgesellschaft, aber es ging eben nie nur um Bananen, wie damals Otto Schily im Fernsehen den DDR-Bürgern die Banane entgegengehalten hat. Das fand ich sehr verächtlich. Sondern es ging tatsächlich um den Geist der Freiheit.
Aber es gab schon sehr früh erste Einschläge, die wir vielleicht nicht ernst genug genommen haben, zum Beispiel ab 1992 den Krieg im ehemaligen Jugoslawien, der ein ethno-nationalistischer Krieg war mit ethnischen Säuberungen und Massakern und wo schon aufblitzte, dass das nicht so weit her war mit dem Ende der Geschichte, dass also keineswegs jetzt die liberale Demokratie weltweit gesiegt hat und alle sind auf dem Weg zum friedlichen Zusammenleben, sondern dass wir nach wie vor in einer sehr konflikthaften Welt leben. Und seither gibt es ja eine immer stärkere Gegenbewegung, sowohl auf internationaler Ebene, das zunehmend selbstbewusste Auftreten autoritärer Mächte wie China und Russland und Iran, inzwischen auch die Türkei unter Erdogan.
Und das Beunruhigende ist, dass eben diese Gegenbewegung auch im Inneren der westlichen Demokratien inzwischen Platz gegriffen hat. Brexit und Trump waren da sozusagen die letzten Warnsignale.

Welche Auswirkung hat die Globalisierung?

Deutschlandfunk Kultur: Kommen wir mal zu dem Zentrum liberale Moderne, was Sie aus der Taufe gehoben haben. Was soll dessen Aufgabe sein?
Ralf Fücks: Der Name legt ja schon nahe, dass aus unserer Sicht die Auseinandersetzung, die liberale Demokratie, die Hauptlinie der Auseinandersetzung gegenwärtig international und gesellschaftspolitisch ist und vermutlich auch in den nächsten Jahren.
Uns treibt die Frage um, wie man die Zustimmung, vielleicht sogar die Begeisterung für die liberale Demokratie wieder stärken kann. Und meine Vermutung ist, dass das weniger eine Frage der politischen Institutionen ist. Man kann natürlich darüber diskutieren, ob wir noch mehr an direkter Demokratie brauchen, vielleicht auch Volksentscheide auf Bundesebene. Aber ist, glaube ich, nicht der springende Punkt, sondern es geht eher um gesellschaftspolitische Fragen, die gegenwärtig eine wachsende Unruhe bei uns produzieren.
Welche Auswirkung hat die Globalisierung auf die Sicherheit von Arbeitsplätzen und auf die Einkommen – bis in die Mittelschichten? Was passiert eigentlich mit der digitalen Revolution? Wird Automatisierung und der Vormarsch der Roboter in der Industrieproduktion und künstliche Intelligenz dazu führen, dass zunehmend auch qualifizierte Arbeit durch Maschinenarbeit oder durch digitale Technologien verdrängt wird.
Gleichzeitig treibt eben doch viele Leute die Frage um: Wie viel an interkontinentaler Migration können wir bewältigen? Was passiert, wenn sich noch mehr Menschen aufmachen aus Afrika oder aus Vorderasien in Richtung Europa und Bundesrepublik? Das sind auch kulturelle Veränderungen zwischen Mann und Frau, die Ehe für alle, der Niedergang des Patriarchats.
Alles das sind Umbrüche, die meines Erachtens auch neue politische Antworten erfordern. Und wir haben und vielleicht zu sehr in den letzten Jahren auf diesem liberalen Grundkonsens ausgeruht. Globalisierung ist eine fortschrittliche Geschichte, europäische Integration, multikulturelle Gesellschaft, das sind Fragen, die meines Erachtens einen neuen Gesellschaftsvertrag erfordern.
Deutschlandfunk Kultur: Sie haben jetzt einige Problemfelder skizziert, auf denen Sie aktiv werden wollen. Lassen Sie uns jetzt nochmal einen kurzen Schritt zurücktreten und diesen Angriff auf die Moderne, der da gerade stattfindet, diese autoritäre Bewegung, die es bei uns in Deutschland gibt, die aber auch eine internationale Bewegung ist, muss man ja mittlerweile sagen.
Aus welchen Richtungen wird dieser Angriff auf die liberale Demokratie geführt?
Ralf Fücks: Aus ganz unterschiedlichen. Wir haben eine autoritäre Modernisierung, wie sie etwa in China stattfindet und bisher ökonomisch relativ erfolgreich war. Die Frage ist, ob das auch noch in Zukunft der Fall sein kann, also, ob ein autoritäres Regime tatsächlich in der Lage ist, den Übergang zu einer modernen Wissensgesellschaft zu schaffen, die auf Innovation, auf Wissenschaft, auf einem hohen Maß an Eigenaktivität der Gesellschaft beruht.
Wir haben gleichzeitig explizit antimoderne Bewegungen wie den Islamismus, der sich ja nicht nur gegen die Demokratie richtet, sondern gegen die ganze Idee der Moderne, ob das die Gleichberechtigung der Frau ist oder ob das die Freiheit der Wissenschaft ist oder die Religionsfreiheit, alles das infrage stellt, was im Grunde seit der Aufklärung an demokratischen Werten gedacht und zunehmend auch praktiziert worden ist.
Und wir haben in unseren eigenen Gesellschaften eben diese fremdenfeindlichen nationalistischen autoritären Bewegungen. Die versprechen Sicherheit durch Abschottung und durch Rückzug in die homogene Volksgemeinschaft. Auch das ist ja keine neue Bewegung, sondern die hat sehr tiefe Wurzeln in der europäischen politischen und Geistesgeschichte. In den 20er Jahren war das die große Auseinandersetzung. Die kehrt heute in gewisser Weise wieder. Und wir haben zum ersten Mal jetzt auch so was wie rechte Intellektuelle in der Bundesrepublik, also Leute, die man nicht jetzt einfach in die Ecke von Dumpfbacken schieben kann. Sondern das sind gebildete, eloquente Leute, die versuchen, so was wie auch ein theoretisches Gerüst zu liefern.
Deutschlandfunk Kultur: Die sich auf Carl Schmitt berufen, den Philosophen der 20er Jahre.
Ralf Fücks: Die sich auf Carl Schmitt und seine Idee der homogenen Gesellschaft… Und sein Politikbegriff, der sagt: Politik ist ein Freund-Feind-Verhältnis. Da geht es nur um die Frage, wer wen besiegt. Kompromiss ist etwas Verächtliches. Und Parlamentarismus ist eigentlich eine dekadente Verirrung gegenüber einem starken Staat, der die Einheit von Volk und Führung repräsentiert.
Deutschlandfunk Kultur: Sie haben angesprochen, dass diese Verachtung der Populisten für die Demokratie und auch der Erfolg, den sie dabei haben, sich nicht nur mit materiellen und sozialen Problemen erklären lässt. Sie greifen in Ihrem Buch auch zu psychologischen Erklärungen und zitieren dabei Karl Popper. Ich will das mal kurz vorlesen: "Das Stammesideal des heroischen Menschen ist ein Angriff auf die Idee des zivilen Lebens selbst. Dieses wird wegen der von ihm gepflegten Idee der Sicherheit als schal und materialistisch angeprangert." "Lebt gefährlich!" ist sein Gebot.
Könnten Sie das jetzt mal ins Hier und Jetzt übersetzen? Wie lässt sich das auf die heutige Wirklichkeit anwenden?
Ralf Fücks: Ich denke tatsächlich, dass man vor allem in den Feuilletons, die ja ein bisschen wie so eine Art Seismograph sind für neue geistige Strömungen und Stimmungen, so etwas beobachten kann wie einen Überdruss an der Langeweile der bürgerlichen Demokratie und eine zunehmende Sehnsucht wieder nach dem Radikalen, nach dem Existenziellen, nach dem Heroischen. Da gibt es salonbolschewistische Philosophen wie Žižek, die ja doch ein Lieblingskind in vielen deutschen Feuilletons sind, die den Leninismus jetzt wieder entdecken und die tatsächlich diesen Grundzug der Verachtung gegenüber der bürgerlichen Demokratie pflegen, der doch ein sehr elitärer gleichzeitig ist. Das erinnert eben doch an Strömungen in den 20er, 30er Jahren – wie Jünger oder Spengler oder Heidegger, die dem Ideal des kriegerischen Menschen huldigen und die diesen kommerzialisierten und profanen bürgerlichen Alltag verachten.
Ich denke schon, dass man auch auf der demokratischen Seite wieder ein Stück mehr Leidenschaft braucht, Passion für die Sache der Freiheit und der Demokratie und die Bereitschaft, auch in den Konflikt zu gehen, statt alles sozusagen zu überdecken.
Aber gleichzeitig müssen wir sehr aufpassen, dass wir die zivilen Grundlagen der politischen Auseinandersetzung verteidigen, zum Beispiel die Gewaltfreiheit und den Respekt vor dem politischen Pluralismus, also auch vor der Meinung des anderen. Demokratische Politik argumentiert eben nicht mit absoluten Wahrheiten.
Deutschlandfunk Kultur: Da wird vieles ja, Sie sprechen das schon an, auch in den sozialen Medien, wie man so schön sagt, mittlerweile ausgefochten. Sie begeben sich ja auch explizit in die sozialen Medien mit dem Zentrum liberale Moderne. Sie wollen auch dort wirken.
Denken Sie, dass das den Gesamtdiskurs verändert? Oder hebt es ihn einfach nur auf eine andere technische Ebene?
Ralf Fücks: Das ist die große Frage natürlich auch für uns selbst. Ich meine, wir sind ein kleines Projekt mit knappen Ressourcen, mit einer Handvoll Leuten. Wir sind jetzt nicht größenwahnsinnig, dass wir den ganzen öffentlichen Diskurs, wie man so schön neudeutsch sagt, also die öffentliche Debatte auf den Kopf stellen können.
Trotzdem ist für uns die Frage: Kommen wir über diese liberale Filterblase hinaus mit dem, was wir so produzieren an Ideen, an Argumenten, an Diskussionsbeiträgen? Also, schaffen wir es wirklich, eine gesellschaftliche Debatte mit zu führen, die über das Milieu derer hinausreicht, die eigentlich schon überzeugt sind? Das ist ja ein Strukturproblem dieser digitalen Medien.
Wir dachten ursprünglich, das führt zu einer enormen Ausweitung demokratischer Öffentlichkeit. Tatsächlich hat es zu einer immer stärkeren Parzellierung geführt. Im Internet gibt es Stämme, die eigentlich nur mit sich selbst kommunizieren, die die anderen entweder ausblenden oder sie von vornherein als Feinde wahrnehmen.
Und die große Frage ist, wie es gelingt, wieder eine milieuübergreifende politische Auseinandersetzung zu führen. Das heißt nicht Friede, Freude, Eierkuchen, aber zumindest wieder die Auseinandersetzung miteinander zu führen. Das ist auch eine zunehmende Herausforderung an die politischen Parteien. Wie kommen die eigentlich noch aus ihren eigenen Milieus heraus?

Was die Pegida-Demonstranten umtreibt

Deutschlandfunk Kultur: Wie man aus den Milieus herauskommt, ist natürlich eine Frage, aber andererseits ist auch die Frage: Man kann nur die erreichen, die noch erreichbar sind. Und man kann mit Fug und Recht ein Fragezeichen daran machen, wie viele von denjenigen, die den Links- wie Rechtspopulisten auf den Leim gehen, tatsächlich noch erreichbar sind. – Was denken Sie?
Ralf Fücks: Ich glaube, dass man darauf keine generelle Antwort finden kann. Es gibt sicher so einen festen Kern von Überzeugungstätern, die sich abgeschirmt haben gegen jeden Zweifel und gegen jedes Argument, also, Verschwörungstheoretiker zum Beispiel, Leute, die fest davon überzeugt sind, dass die Welt gelenkt wird von finsteren Mächten – ob das jetzt das amerikanisch oder das jüdische Finanzkapital ist oder dass Parteien in Wirklichkeit eben nur selbstsüchtige Vereinigungen sind, die die Bevölkerung veräppeln. Das ist ganz schwer, solche Leute noch zu erreichen.
Aber ich denke, es gibt ein großes Zwischenfeld von Leuten, und zwar bis hin in diese Pegida-Demonstranten im Osten, die schon noch erreichbar sind für eine Auseinandersetzung, die einerseits ernst nimmt, was diese Leute da umtreibt, und sie nicht einfach von vornherein in die rechtsradikale oder faschistische Ecke stellt, ohne ihnen nach dem Mund zu reden. Das ist ja die große Kunst. Wie kommt man wieder ins Gespräch mit Leuten, die sagen, ich bin eigentlich mit der ganzen Richtung nicht einverstanden, ich bin gegen die Globalisierung, ich bin gegen eine weltoffene Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik. Ich bin auch gegen die Homo-Ehe?
Das sind Positionen, die uns erstmal fremd sind. Aber wir dürfen darauf nicht so reagieren, dass wir sagen: Ihr habt eigentlich gar keinen legitimen Ort mehr in einer demokratischen Auseinandersetzung.
Deutschlandfunk Kultur: Ist das tatsächlich so? Ich meine, muss man nicht auch mal einfach diesen Leuten sagen: Wer die AfD wählt, wählt eine Partei, die es nicht schafft, einen Holocaust-Leugner aus ihren Reihen auszuschließen.
Ralf Fücks: Ja, natürlich. Die Auseinandersetzung mit der AfD als Partei und mit Figuren wie Höcke und zunehmend auch – ich würde sagen – Herrn Gauland, der in eine extrem unglückselige Rolle da spielt und der wider besseres Wissen an diesem Geschichtsrevisionismus sich beteiligt.
Mir geht es ja nicht darum, dass man die Auseinandersetzung irgendwie verschwiemelt und die Differenzen zukleistert, sondern dass man die Motive, die hinter solchen Proteststimmen stecken, dass man sich die nochmal anguckt. Dass Leute sich vor Deklassierung fürchten, vor sozialem Abstieg fürchten, dass sie wissen wollen, wie kann Politik auch in Zeiten von stürmischen Veränderungen Sicherheit für den Großteil der Bevölkerung gewährleisten, wie können wir gleichzeitig eine humanitäre Einwanderungspolitik betreiben und die demokratischen Normen unseres Grundgesetzes durchsetzen, das sind ja Fragen, die treiben eben nicht nur eine Handvoll Rechtsradikaler um, sondern die haben offensichtlich eine Resonanz auch in größeren Teilen der Gesellschaft.
Ich glaube, dass man diese Auseinandersetzung vor allem gewinnt, wenn die demokratischen Parteien ihre Hausaufgaben machen. Und die Hausaufgabe von Politik ist zu steuern, Veränderung zu steuern und Antworten auf die Umbrüche zu geben, denen wir uns gegenwärtig ausgesetzt sehen.
Wenn die Leute das Gefühl von Kontrollverlust haben und dass die Politik sich eigentlich schon verabschiedet hat, dass sie solche Dinge wie Steuerflucht nicht mehr angeht oder dass sie Zuwanderung einfach nur als eine Art Naturphänomen hinnimmt, dann wird es kritisch.
Deutschlandfunk Kultur: Was sind denn die Felder, die die Partei der liberalen Mitte, das fasse ich jetzt nicht parteipolitisch, sondern ganz weit von der CSU bis zu den…
Ralf Fücks: CSU und liberale Mitte ist kühn.
Deutschlandfunk Kultur: Ich sage es, wie gesagt, nicht parteipolitisch, sondern historisch-philosophisch gefasst. Also, diejenigen, die sich mit dem Rechtsstaat und der Demokratie identifizieren, wenn ich die mal von rechts bis links – sagen wir es einfach so – nehme, was kann man denen den zurufen, was sie auf der Uhr haben, was sie einfach bewältigen müssen?
Was die sozialen und materiellen Probleme anbelangt, müssen wir einfach mal eingestehen, dass wir im internationalen Vergleich in einer unglaublich abgesicherten Gesellschaft leben. Was kann man denn da noch tun?

Müssen wir uns Richtung Grundeinkommen bewegen?

Ralf Fücks: Ja, das stimmt für die Gegenwart. Aber es ist eben nicht ausgemacht, dass das auch noch für die Zukunft stimmt. Auf uns rollen enorme Veränderungen zu – zum Beispiel in der Autoindustrie.
Wie bewältigen wir den Übergang vom konventionellen Verbrennungsmotor zur Elektromobilität? Das ist ein riesiger Umbau. Die alte technologische Kompetenz der deutschen Autoindustrie, mit der sie ihre internationale Marktmacht aufgebaut hat, die wird radikal entwertet. Und die Frage ist: Wie schnell schaffen wir diesen Übergang zu einer komplett neuen Antriebstechnologie, zu neuen Treibstoffen – ob das jetzt nun Wasserstoff, Brennstoffzellentechnik oder Elektromotor mit Batterie ist, kann man nochmal offen lassen. Auf die Autoindustrie rollt eine enorme Veränderung zu. Ihre alte technologische Kompetenz, auf der die BMWs und Mercedes ihre internationale Marktmacht aufgebaut haben, wird radikal entwertet. Das hat auch Konsequenzen für die Arbeitsplätze. Die Produktion des Elektromotors erfordert viel weniger menschliche Arbeit als die eines komplexen Verbrennungsmotors.
Und das gilt auch für andere Branchen, vor allem vor dem Hintergrund der digitalen Revolution. Es ist ja noch überhaupt nicht ausgemacht, wie viel an qualifizierter menschlicher Arbeit künftig ersetzt werden wird durch intelligente Maschinen – und zwar bis in Berufszweige, bei denen man sich das bis vor Kurzem noch gar nicht vorstellen konnte. Ob das nun Ärzte sind oder Buchhalter oder Steuerberater, das lässt sich alles weitgehend digitalisieren.
Wie geht die Gesellschaft um mit einem Umbruch, der möglicherweise dazu führt, dass die Besteuerung von Arbeitseinkommen nicht mehr die Grundlage für die sozialen Sicherungssysteme sein kann?
Müssen wir uns Richtung Grundeinkommen bewegen? Brauchen wir andere Formen der Beteiligung breiter Gesellschaftsschichten am Produktivkapital? Was müssen wir tun, um in mehr Bildung und Qualifizierung zu investieren, um Menschen zu befähigen, mit diesen Veränderungen aktiv umzugehen?
Das sind alles Fragen, die gegenwärtig in der Politik noch unterbelichtet sind, die aber einen zunehmenden Teil der Leute in der Gesellschaft umtreiben. Also: Wie schaffen wir das, die Offenheit für Veränderungen zu verbinden mit dem Grundbedürfnis an Zugehörigkeit und Stabilität, was für viele Menschen doch offenbar elementar ist, damit sie sich nicht ausgeliefert fühlen.
Ich glaube nicht, dass man einfach sagen kann, uns geht es so gut, dass man diesen Status quo einfach in die Zukunft fortschreiben kann. Das gilt schon gar nicht im Hinblick auf Klimawandel und die ökologische Herausforderung. Wir stehen vor einem Zeitalter von Veränderungen. Und Politik muss in der Lage sein, diese zu gestalten und einen Ordnungsrahmen zu schaffen, in dem dann Unternehmen und Zivilgesellschaft sich frei bewegen können.
Deutschlandfunk Kultur: Alle reden in diesem Zusammenhang von der besonderen Rolle, die Bildung dabei spielt, bei der Selbstermächtigung der Bürger und bei der Emanzipation des Individuums.
Wenn ich mich jetzt umschaue in Deutschland und mir dann vergegenwärtige, wie viel bzw. wie wenig vergleichsweise in Bildung investiert wird, und wenn ich mir den Zustand der Schulen zum Beispiel im Bundesland Berlin anschaue oder aber auch in Nordrhein-Westfalen, und wenn ich dann auch auf solche Experimente schaue, die nicht ausfinanziert sind, die vielleicht klug gedacht sind, wie Inklusivität, die müssen einfach personell unterfüttert werden. Das kommt einfach zu billig weg in der Politik.
Wo sehen Sie denn da einen Ansatzpunkt, dass man auch die Prioritäten einfach mal ändert?
Ralf Fücks: Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Der Zustand vieler Schulen ist ja tatsächlich ein Trauerspiel. Und das ist eine Zumutung nicht nur für die Schülerinnen und Schüler, in solche runtergekommenen Gebäude zu gehen und verdreckte Toiletten… Das ist ja auch immer eine Form, dass Bildung nicht wirklich wertgeschätzt wird. Das ist sozusagen die Botschaft und dass diese Kinder selbst auch nicht wertgeschätzt werden.
Ich bin tatsächlich überzeugt, ich war ja auch mal Senator in Bremen, habe ein bisschen Erfahrung mit Stadtstaatspolitik, dass es ein Fehler war, dass wir die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte vor allem betrieben haben, indem die Investitionen in die öffentliche Infrastruktur runtergefahren worden sind. Es ist ja nicht der Sozialstaat in Wirklichkeit abgebaut worden, sondern die Sozialquote ist sogar noch gestiegen an den öffentlichen Haushalten. Die Investitionen sind dramatisch gesenkt worden. – Und das hat Konsequenzen irgendwann für den Zustand unseres Bildungssystems oder unsere Verkehrssystems oder auch kultureller Einrichtungen.
Das heißt, wir brauchen wieder mehr Investitionen in die öffentlichen Güter, in diese Infrastruktur einer demokratischen Republik, Bildung und Erziehung, Kultur – bis hin zum öffentlichen Verkehr, einem attraktiven Nah- und Fernverkehrssystem, was wirklich auch eine Alternative zum Auto bietet.
Wenn man etwa in die Schweiz geht, dann sind die Leute dort stolz auf ihre Eisenbahn, die auch wirklich ein technisches Meisterwerk ist in den Alpen. Und die betrachten das als eine republikanische Errungenschaft. Und viele unserer öffentlichen Einrichtungen, zum Beispiel die Theater und Museen, die sind gebaut worden in der Gründerzeit oder am Anfang des 20. Jahrhunderts von einer selbstbewussten Bürgergesellschaft, die sich darin wiedergefunden hat.
Also, man braucht öffentliche Einrichtungen und öffentliche Institutionen, in denen die Demokratie sich auch wiederfinden kann, in denen sich die BürgerInnen wiederfinden und auf die sie stolz sein können. Das heißt, wir müssen andere Prioritäten setzen in den öffentlichen Haushalten. Es ist viel weniger spielentscheidend, ob Hartz IV zehn oder fünfzehn Euro höher oder niedriger ist oder das Kindergeld fünf Euro, sondern wie viel wir investieren in die Kindergärten. Das ist für das Schicksal der Kinder, gerade aus den unterprivilegierten Familien viel wichtiger.
Deutschlandfunk Kultur: Wir bewegen uns bei all diesen Fragen immer gleichzeitig ja auf einer begrenzten nationalen Ebene, die aber untrennbar verbunden ist mit der internationalen Ebene – ob das die wirtschaftliche Konkurrenz ist oder die Wissenschaftskonkurrenz.
Und mich verwundert es persönlich immer wieder, dass Bedrohungen von außen in Deutschland mit sehr unterschiedlichem Maß gemessen werden. Russland wird oft mit Milde und Zurückhaltung kommentiert. Sobald die USA im Spiel sind, sei es NSA oder TTIP, da kennt dann oft die Hysterie keine Grenzen. – Sehen Sie das auch so? Bewerten Sie das auch so?
Ralf Fücks: Na ja, ich komme ja aus einer Phase der Studentenbewegung, wo wir durch die Straßen gezogen sind mit der Parole: USA, SA, SS. Das war offensichtlich das Bedürfnis, die Vereinigten Staaten in die Tradition des Nationalsozialismus zu rücken und sich damit gleichzeitig von der eigenen Geschichte zu entlasten.
Es gibt tatsächlich einen in der Wolle sitzenden Antiamerikanismus in Deutschland, der eine sehr lange Tradition hat, bis hinein in das 19. Jahrhundert gegen Amerika als multiethnischen Schmelztiegel, gegen die Kommerzgesellschaft, gegen die angebliche Oberflächlichkeit der amerikanischen Zivilisation. – Und dagegen die deutsche Tiefe, die Romantik, die uns dann wiederum mit Russland verbindet und die in Wahrheit immer eine Mischung war aus Sentimentalität und Brutalität.
Das spielt bis heute in die politische Auseinandersetzung hinein, vor allem bei denen, die gerne eine Achse Berlin-Moskau als Alternative zum Transatlantischen Bündnis sehen wollen.
Deutschlandfunk Kultur: Sie haben auch da ein Manifest mit unterzeichnet, in dem es heißt: Trotz allem, Amerika! – Das fällt ja nicht gerade leicht beim derzeitigen amerikanischen Präsidenten.

US-Präsident verachtet liberaldemokratische Werte

Ralf Fücks: Darum heißt es ja "Trotz allem", also, notfalls auch gegen Trump. Das Desaster ist ja – und das ist wirklich ein Drama mit Auswirkungen, die wir noch gar nicht absehen können, dass in Amerika selbst jetzt ein Präsident an der Macht ist, der die amerikanischen Werte zutiefst verachtet, nämlich diese liberaldemokratischen Werte, der auch die internationale Ordnung verachtet oder sie zumindest gar nicht versteht, die maßgeblich von Amerika nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet worden und garantiert worden ist – mit den Vereinten Nationen, mit dem Völkerrecht, mit diesen ganzen multilateralen Organisationen.
Welche Auswirkungen das hat, hängt vor allem natürlich davon ab, ob Trump nur ein vorübergehendes Intermezzo ist oder ob das tatsächlich eine dauerhafte Schieflage amerikanischer Politik und dann auch der gesellschaftlichen Entwicklung in den USA bedeutet.
Ich glaube das immer noch nicht, weil der Widerstand gegen Donald Trump doch enorm ist – bis in den Senat hinein, auf der kommunalen Ebene, in der Wirtschaft, in der amerikanischen Kulturindustrie. Und ich hoffe sehr auf die Selbstkorrekturfähigkeit Amerikas, das das immer wieder bewiesen hat.
Mir geht es um einen politischen Begriff des Westens, genau um dieses Projekt der liberalen Moderne. Das hat immer wieder der Politik des Westens widersprochen. Das ist natürlich keine gerade Linie. Aber das ist doch eine sehr starke ideelle Kraft, diese Idee von Freiheit und Demokratie und offenen Gesellschaften. Und das ist heute umso wichtiger als Rückhalt für die Demokratiebewegungen weltweit. Die brauchen einen Verbündeten in Europa und Amerika.
Wenn das wegfällt, dann wird es ziemlich finster.
Deutschlandfunk Kultur: Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie gibt uns Maßstäbe. Wir haben die Wirtschaftskrise 2008 unter anderem deswegen überwunden, weil wir die Lehren aus der Weltwirtschaftskrise ab 1929 gezogen haben. – Welche Lehren müssen wir denn in der Auseinandersetzung mit den Feinden von Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit beherzigen aus dieser Zeit?
Ralf Fücks: Ich denke zum einen, eine gewisse Entschlossenheit, die man auch als wehrhafte Demokratie bezeichnen kann. Also: keine falsche Toleranz gegenüber antidemokratischen Ideologien und Bewegungen, ob das radikal islamistische oder rechts- oder linksextreme Bewegungen sind, und vor allem keine Toleranz, wenn es um die Frage der Gewaltfreiheit geht.
Die Gewaltfreiheit der politischen Auseinandersetzung muss notfalls auch mit Mitteln des Strafrechts verteidigt werden. Da geht es richtig um den Kern einer zivilen politischen Kultur. Und gleichzeitig müssen wir verhindern, dass unsere Gesellschaft immer stärker auseinander treibt. Der Nationalsozialismus hätte damals natürlich nicht gewonnen ohne die massenhafte Verelendung im Gefolge er Weltwirtschaftskrise, die ja bis weit in die Mittelschichten hinein wirkte, und die Panik, die das ausgelöst hat.
Das heißt, die Frage von gesellschaftlichem Zusammenhalt, von mehr Chancengerechtigkeit, von mehr sozialer Teilhabe, auch in Zeiten von großen wirtschaftlichen und technischen Umbrüchen ist schon elementar, wenn man eine freiheitliche Demokratie verteidigen will. Wir dürfen Freiheit und Sicherheit nicht gegeneinander ausspielen.
Deutschlandfunk Kultur: Herr Fücks, vielen Dank für das Gespräch.
Ralf Fücks: Ich bedanke mich.
Ralf Fücks, Vorsitzender der Heinrich-Böll-Stiftung (Archivbild von 2008)
Ralf Fücks, Vorsitzender der Heinrich-Böll-Stiftung (Archivbild von 2008)© dpa / picture-alliance / Klaus-Dietmar Gabbert

Ralf Fücks ist geschäftsführender Gesellschafter des Zentrums Liberale Moderne und war zuvor 21 Jahre Vorstand der Heinrich Böll Stiftung. Fücks ist ein Vor- und Querdenker, der den parteiübergreifenden Diskurs sucht. Er ist Verfechter einer freiheitlichen Ökologie-Politik, die auf Innovation statt auf Verbote setzt. Ein besonderes Anliegen ist ihm der Dialog mit der Wirtschaft, die er als unverzichtbaren Akteur einer "grünen industriellen Revolution" betrachtet. Vor seiner Zeit bei der Böll-Stiftung war er Co-Vorsitzender der Grünen (1989/90) und Senator für Umwelt und Stadtentwicklung in Bremen. Ralf Fücks gilt als überzeugter Europäer und Transatlantiker.

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