Die Verhörtechniken der Stasi

Das perfide System der Einschüchterung

Uwe W. Hädrich (ehemaliger Häftling) im Spazierfreigangshof der ehemaligen Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in Berlin-Hohenschönhause
Belastende Erinnerungen: Der ehemalige Häftling Uwe W. Hädrich, gestorben 2011, in der Gedenkstätte Hohenschönhausen - der ehemaligen Untersuchungshaftanstalt des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit. © imago/Manja Elsässer
Von Martin Hartwig · 15.03.2017
Uwe Hädrich, in hoher Position in der DDR, wurde im Mai 1989 bei einem Fluchtversuch festgenommen und verhört. Aus den noch erhaltenen Mitschnitten ist herauszuhören, welche Techniken die Staatssicherheit dabei anwandte. Ein ausgefeiltes System.
Zitator:
Ministerium für Staatssicherheit - Hochschule.
MfS-Mitschnitt Verhör Uwe Hädrich:
Vernehmer (V): "Nee, nee, da gibt es keinen Grund zur Beunruhigung. Wie steht's überhaupt? Was macht der Gesundheitszustand? Damit wir hier nicht irgendwie… Tabletten mit?"
Hädrich (H): "Warum. Wieso denn das?"
V: "Na ich denk Diabetes?"
H: "Ja, die hab ich regelmäßig! Zwei früh, zwei mittags, zwei abends. Die früh sind genommen."
Ausschnitt aus: "Vernehmungsprotokolle". Von Jürgen Fuchs.
"Ich sehe: einen Schreibtisch, ein Glasfenster, Gardinen, vor dem Fenster ein Gitter mit Verzierungen."
V: "Nicht, dass es hier 'ne Grätsche gibt, wie in Ungarn."
H: "Ihr müsst da jetzt meine Leute anrufen. Sonst warten die auf mich."
V: "Kaffee erst mal! Ja, wa?"
Zitator:
Hochschule Potsdam, Oktober 1986.
Verhör Uwe Hädrich:
V: "Ein bisschen überraschend, wa?"
H: "Ach wieso, das hatten wir doch schon öfter mal gesagt, dass da bestimmte..."
V: "Das hat sich heute ein bisserl verzögert, wa?"
H: "Ich hab gestern die Leiterkontrolle gehabt und dann den Bericht …"
Zitator:
Vertrauliche Verschlusssache.
Verhör-Mitschnitt des MfS, Bezirksverwaltung Erfurt:
Zitator 2:
"Ein Gitter mit Verzierungen, keine gewöhnlichen Stäbe, einen Safe, auf dem ein Tonbandgerät steht, einen Schrank, Polsterstühle, einen Tisch mit Kunststoffbelag, abwaschbar, pflegeleicht, ein Regal, ein halb verwelkter Gummibaum."
Verhör Uwe Hädrich:
V: "Wann ist denn die nächste Mahlzeit, Imbiss?"
H: "Mittag, Mittag"
V: "Zückli."
H: "Ach Zückli, hast Du auch so was?"
V: "Das ist auch gut für normal."
 Uwe W. Hädrich (ehemaliger Häftling) in einem Vernehmungsraum der ehemaligen Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in Berlin-Hohenschönhausen, Personen , Gebäude, innen, Innenansicht; 2006, Berlin, Fotoshooting, ehemalige, JVA, Justizvollzuganstalt, Justizvollzugsanstalten, Gefängnis, Gefängnisse, Stasigefängnis, Stasigefängnisse, Knast, Haftanstalt, Haftanstalten, Gedenkstätte, Gedenkstätten, Untersuchungsgefängnis; , quer, Kbdig, Einzelbild, Deutschland,  ,
Uwe W. Hädrich in einem Vernehmungsraum der ehemaligen Untersuchungshaftanstalt.© imago/Manja Elsässer
Zitator:
Forschungsergebnisse zum Thema:
Verhör Uwe Hädrich:
"Ich muss Ihnen mitteilen, dass vom Untersuchungsorgan, also von unserer Seite ein Verfahren gegen Sie eingeleitet wird."
Zitator:
Die weitere Vervollkommnung der Vernehmungstaktik bei der Vernehmung von Beschuldigten und bei Verdächtigenbefragungen der Untersuchungsarbeit des MfS.

"Wir hoffen, dass wir mit deiner Hilfe das Problem klären"

Verhör Uwe Hädrich:
V: "Wir wollen nicht lange drum rum reden, weshalb es notwendig ist, von unserer Seite aus, mit Dir mal zu reden."
H: "Es ist relativ ernst. Das muss ich sagen."
Ausschnitt aus: "Die weitere Vervollkommnung der Vernehmungstaktik bei der Vernehmung von Beschuldigten und bei Verdächtigenbefragungen der Untersuchungsarbeit des MfS":

"Links an der Wand: Thälmann, eine Photographie, rechts Dserschinski, eine Zeichnung, seine Augen auf den 'Beschuldigten' gerichtet, nicht auf den Vernehmer."
Verhör Uwe Hädrich:
V: "Und wir hoffen und sind der Meinung, dass wir mit Deiner Hilfe das Problem klären können. Und sehen können auch, was sich draus machen lässt."
Verhör-Mitschnitt des MfS, Bezirksverwaltung Erfurt:
"Was denken Sie sich eigentlich!"
Verhör Uwe Hädrich:
V: "Ich möchte aber noch mal vorweg sagen, dass wir dringend an Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit interessiert sind."
Verhör-Mitschnitt des MfS, Bezirksverwaltung Erfurt:
"Was bilden Sie sich denn ein?"
Verhör Uwe Hädrich:
"Wir kennen das Leben, und wir wissen auch um die Kompliziertheit der menschlichen Psyche. Dass man mal die Schnauze voll hat, und man dies und jenes."

Professionalisierung der Verhörer

Jens Gieseke:
"Eine Geheimwissenschaft würde ich nicht sehen. Aber es gab eben eine Professionalisierung. Auch die Möglichkeit für einzelne Vernehmer, die jetzt an der theoretischen Seite arbeiteten sich relativ lang Gedanken darüber zu machen, wie man den ganzen Prozess der Vernehmung so optimieren kann, dass das Ergebnis - normalerweise ist auch die Aussage bzw. das Geständnis - dann auch in der gewünschten Zeit und in der gewünschten Art tatsächlich produziert werden konnten."
Jens Gieseke, Historiker am Zentrum für zeithistorische Forschung in Potsdam.
Lutz Rathenow: "Ich habe immer versucht natürlich, meine eigene literarische Arbeit für ganz wichtig zu halten. Das haben sie dann auch immer bemerkt. Geltungssüchtig öffentlichkeitssüchtig. Fiel mir sehr leicht, da ich auch wirklich bin - oder war - und insofern ihnen lässliche persönliche Sünden anzubieten. Fehler, die keine politische Relevanz haben. Das ist nicht leicht in einem Land, wo alles politische Relevanz hat. Man konnte lernen. Und insofern war die DDR eine gute Schule für oppositionell subversives Verhalten und man war dann '88 fitter als '75."
Lutz Rathenow, Schriftsteller, in den 80er-Jahren regelmäßiger Verhörteilnehmer und heute Landesbeauftragter.
Lutz Hädrich: "Und du hast gar keine Chance, irgendwas zu gewinnen. Das wusste mein Vater! Das wussten die auch! So wussten alle alles, haben aber Stunden gebraucht, zum Punkt zu kommen. Weil das halt das Spiel ist, so das Balzen der Stasivernehmer."
Lutz Hädrich, am 13. September 1989 war er einen Tag lang in der Vernehmung. Uwe Hädrich, sein Vater, war vom 13. September bis zum 6. Dezember 1989 vier Monate lang in der Vernehmung. Wenige Wochen zuvor war er einer ersten Befragung unterzogen worden.
Verhör Uwe Hädrich:
"Wichtig ist alles zu nennen und dann können wir es auch wieder ins Lot bringen."
Ausschnitt aus: "Die weitere Vervollkommnung der Vernehmungstaktik bei der Vernehmung von Beschuldigten und bei Verdächtigenbefragungen der Untersuchungsarbeit des MfS", Potsdam 1986.
"In Ausnahmefällen kann es insbesondere in der Erstvernehmung in vorrangig emotionaler Verarbeitung der durch die Festnahme oder Zuführungssituation und die nachfolgenden Ereignisse vermittelten Informationen auch zu einem Geständnis im Affekt kommen, das nicht nur in einem Schuldbekenntnis sondern in einer zusammenhängenden längeren Aussage besteht."
Gieseke: "In der Tradition der sowjetischen stalinistischen Justiz war die Wahrheitsfindung vielleicht gar nicht das Wichtigste. Das Wichtigste war die Geständnisproduktion."
Der Potsdamer Historiker Jens Gieseke:
"Das Geständnis war in Anlehnung an alte Traditionen, wie wir sie noch aus der Inquisitionszeit kennen, sozusagen ein Akt des Confessio, des Bekenntnisses. Das Schuldbekenntnis und der alte Satz aus der Inquisitionszeit, dass das Geständnis die Königin der Ermittlungsarbeit ist, galt eben auch in der Sowjetunion unter dem berühmt berüchtigten Ankläger Wyschinski in den 30er-Jahren stark gepflegt und genau das ist auch das, was in den 50er-Jahren vom MfS gepflegt wurde."

Die berüchtigte "Linie 9"

Im MfS, im Ministerium für Staatssicherheit der DDR, gab es die sogenannte Linie 9, das mit kriminalpolizeilichen und geheimdienstlichen Befugnissen und Möglichkeiten ausgestattete "Untersuchungsorgan". In den 80er-Jahren erreichte diese Abteilung des MfS stets eine Geständnisquote von über 80 Prozent in der Erstvernehmung, 1988 sogar 95 Prozent. Beim Verhör war der erste "Angriff" der wichtigste! Lutz Hädrich erinnert sich:
"Es klingelte dann an der Wohnungstür. Ich hab raus geschaut, standen da draußen. Sprechanlage: Telegramm für Sie! Gucke ich in den Briefkasten: kein Telegramm drin. Gehe ich hoch, stehen zwei Leute vor der Wohnung und zeigen mir Ihren Ausweis und möchten gern eingelassen werden. Natürlich habe ich sie reingelassen. Es waren also zwei Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Meine Schwester war zu dem Zeitpunkt noch in der Schule, kam dann aber auch. Da habe ich den zwei Herren einen Kaffee angeboten und gesagt: Meine Schwester kommt gleich aus der Schule. Kaffee wollten sie, glaube ich, nicht mehr, wenn ich mich recht erinnere. Und als meine Schwester kam, ging es ab, mit dem Auto in die Normannenstraße zur Vernehmung."
Das war im September 1989. Vier Monate zuvor waren Lutz Hädrich und seine Familie nach Ungarn gereist, um von dort in den Westen, in die Bundesrepublik, zu fliehen.
"Mein Vater hatte irgendwoher eine Nachtigall trapsen gehört, dass sich Dinge tun werden und das war letzten Endes ja auch der Grund, warum wir im Mai da nach Ungarn gefahren sind an die österreichische Grenze. Weil er gehört hatte, dass dort die Kontrollen, die Anlagen zumindest reduziert oder abgebaut werden sollten."
Wenig später sollte die Flucht aus der DDR auf diesem Weg kein Problem mehr sein.
"Das Dumme an der Geschichte war, dass, als wir dort angekommen sind, da wenig davon zu sehen waren. Wir waren schlicht und einfach zu früh dran und mussten dann einen Plan B entwickeln."
Uwe. W. Hädrich, ehemaler Häftling des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit, in einer Zelle der heutigen Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen.
Uwe. W. Hädrich in einer der ehemaligen Zellen. © imago/Manja Elsässler

Plan B der Familien Hädrich

Der Plan B war nicht sehr ausgefeilt und sah so aus, dass sich die Familie an die bundesdeutsche Botschaft in Budapest wandte. Dort war man an dem hohen Wirtschaftsfunktionär zwar interessiert, aber nicht so brennend, dass man sofortigen Handlungsbedarf sah. Vor allem war die Familie dort direkt einer inoffiziellen Mitarbeiterin des MfS in die Arme gelaufen.
"Das waren so die Räume, wie man sie letztlich heute auch aus dem Fernsehen - mit schöner bunter Blümchentapete, einem Schreibtisch, einem Tisch davor, wo vier Leute Platz nehmen können. Dahinter saß Ihre Majestät, der Vernehmer, mit Zetteln vor sich, Telefonen vor sich. Computer gab es ja damals noch nicht, aber Schreibmaschinen hatten wir schon. Also von Anfang an eben: Der Raum, den man sich vorstellt, um jemanden unter Druck zu setzen oder ihm zu vermitteln, dass er kleiner ist als man selbst."
Lutz Hädrich galt nicht das Hauptinteresse der Vernehmer, sondern seinem Vater. Uwe Hädrich war stellvertretender Generaldirektor des volkseigenen Einzelhandels HO. SED-Mitglied, ein hohes Tier, bisher loyal und sogar IM - nicht der Stasi, sondern der Kriminalpolizei. Dementsprechend wurde er erst mal auch behandelt – quasi von Genosse zu Genosse.
Verhör Uwe Hädrich:
Vernehmer (V): "Würde denn von Deiner Seite aus, hier an dieser Stelle, schon was zu sagen sein?"
Hädrich (H): "Ich bin erstaunt, was jetzt hier abläuft! Ich bin auch erstaunt, warum das hier mitläuft."
V: "Das ist bei uns 'ne ganz normale Sache. Aus ganz unterschiedlichen Gründen. Erstens geht es hier auch um die Klärung eines Sachverhaltes. Dann brauchen wir nicht so viel pinseln. Zweitens, wenn irgendwo mal ein Missverständnis auftritt: Mensch, das hab ich aber so nicht gesagt. Kann man sagen: Moment, wir hören es uns noch mal an."
* * *
Eigentlich wollte die DDR-Staatssicherheit mit ihren Verhörtechniken weiter sein. Schon 1973 verfassten erfahrene Untersuchungsführer an der Juristischen Hochschule des MfS in Potsdam eine Forschungsschrift, die das Gewerbe auf ein zeitgemäßes wissenschaftliches Niveau heben sollte – schließlich hatte der ganze Sozialismus eine wissenschaftliche Fundierung. Das ewige Rumbrüllen und Drohen sollte ein Ende haben.

Wenig Wissenschaft an der Stasi-Hochschule

Gieseke: "Zunächst mal muss man sagen: Tatsächlich, die meisten Vernehmer haben das, was sie in der Vernehmung im Verhör getan haben, tatsächlich durch Learning by Doing gelernt. Das heißt, sie haben bei älteren Vernehmern zugeschaut. Sie haben Protokolle durchgelesen und so weiter."
Jens Gieseke vom Zentrum für Zeithistorische Forschung hat sich intensiv mit den Doktoren der Tschechistik befasst und obwohl an der Stasi-eigenen Hochschule eifrig promoviert wurde, hat Gieseke dort wenig Wissenschaft entdeckt. Allerdings war das Bemühen erkennbar, den gesamten Verhör-Betrieb in den 70er- und 80er-Jahre zu professionalisieren.
"Eine wirklich wissenschaftliche Ausbildung in einem höheren Sinne, also im Sinne einer Geheimwissenschaft, hat es da nicht gegeben. Trotzdem gab es aber - das ist eigentlich der entscheidende Prozess - eine Systematisierung der gesamten Arbeit, das heißt, durch solche Arbeiten wie Diplomarbeiten oder Dissertationen zu diesem Thema wurden faktisch Lehrbücher geschaffen, an denen sich zumindest die Theorie und zum großen Teil dann auch wieder die Praxis orientierte, wie ein gutes Verhör auszusehen hatte."
Der Erfahrungsschatz für Untersuchungsführer, subtilere Mittel anzuwenden als rohe Gewalt, war inzwischen recht groß geworden.
"Der erste Einschnitt war im Prinzip 1955/56, weil bis dahin die physische Gewalt - schlicht das Schlagen von Häftlingen und zwar so lange, bis sie die gewünschten Aussagen machen - an der Tagesordnung war. Daran schließt sich eine Phase an, in der der Neubau in Hohenschönhausen, wie wir ihn heute besichtigen können, geplant und errichtet worden ist. Und da sieht man, dass eben nicht mehr die physische Gewalt im Mittelpunkt der Aussageproduktion steht, sondern dass vor allem die Optimierung der Rahmenbedingungen versucht wird zu erreichen.
Die starke Orientierung der gesamten Kommunikation eines Häftlings auf den Vernehmer, der der einzige wirkliche Gesprächs- und Ansprechpartner ist, was wiederum die Aussagebereitschaft stark erhöht. Und dann kommt hinzu: die üblichen Spielchen. Bad cop, good cop. Das sind alles Techniken, die dann weiter ausgeprägt wurden. Diese sozusagen Grundkonstellation dessen, was man als weiße Folter und totale Kontrolle über den Häftling bezeichnen kann, ging eigentlich im Prinzip bis Ende der 70er-Jahre, wurde er immer weiter perfektioniert."
Ausschnitt aus: "Die weitere Vervollkommnung der Vernehmungstaktik bei der Vernehmung von Beschuldigten und bei Verdächtigenbefragungen der Untersuchungsarbeit des MfS":

"Der Untersuchungsführer muss schon in der Begegnungsphase um die möglichst schnelle Schaffung eines für die Vernehmung förderlichen Klimas bemüht sein. Am besten ist dazu meist geeignet, dass der Untersuchungsführer zu Beginn der Erstvernehmung eine pseudosymmetrische Kommunikationsebene wählt, d.h., dass er sich anpassungsfähig und gewissermaßen nach allen Seiten hin offen zeigt, ein gewisses Verständnis für die Lage des Vernommenen signalisiert, gleichzeitig aber seine Entschlossenheit zur Feststellung der Wahrheit zu erkennen gibt."
* * *
Ausschnitt aus: "Die weitere Vervollkommnung der Vernehmungstaktik bei der Vernehmung von Beschuldigten und bei Verdächtigenbefragungen der Untersuchungsarbeit des MfS":

"In dem Maße, wie der Vernommene zum Untersuchungsführer Vertrauen gewinnt, akzeptiert er ihn meist unter den Bedingungen der relativen Isolierung in der Untersuchungshaft als Ratgeber und Helfer in sämtlichen für ihn bedeutsamen Entscheidungssituationen in der weiteren Untersuchung und nicht selten auch in persönlichen Konfliktsituationen."
Gieseke: "Die psychologische Drucksituation, über längere Zeit keinen anderen Ansprechpartner zu haben, führt offenkundig, nach allem, was Häftlinge aus dieser Situation berichtet haben, dazu, dass die Neigung, dann doch mit der gegenüberliegenden Machtfigur in Kommunikation zu treten, unterbewusst so stark ist, dass man sich dem kaum entziehen kann."
Und dabei ist die Zeit ganz auf der Seite des Untersuchungsführers.
Ausschnitt aus: "Die weitere Vervollkommnung der Vernehmungstaktik bei der Vernehmung von Beschuldigten und bei Verdächtigenbefragungen der Untersuchungsarbeit des MfS":

"Die relativ lange Zeit, die der Vernommene allein im Verwahrraum verbringt (selbst bei intensiver Vernehmungstätigkeit verbringt er die überwiegende Zeit des Tages und einzelne Tage völlig allein) führt dazu, dass er die Situation, in der er sich befindet, in der Regel emotional viel tiefer erlebt , als wenn Ablenkungsmöglichkeiten in Form von Gesprächen mit anderen Personen vorhanden wären. Das kann u. U. dazu führen, dass er der im Verwahrraum objektiv beherrschenden Eintönigkeit und Monotonie dadurch zu entgehen sucht, dass er sich zur Vernehmung meldet.
Eine wie euch immer begründete Verzögerung der Vernehmung kenn in dieser Situation den Inhaftierten weiter psychisch belasten, was sich sowohl positiv als auch negativ auf die Aussageregulation auswirken kann. Andererseits kann eine Vernehmung in dieser Situation mögliche Antipathien zum Untersuchungsführer abbauen helfen, sogar einen Zuwendungseffekt zum Untersuchungsführer bewirken und somit ein positives Vernehmungsklima zur Folge haben."
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Frau Hädrich gibt aus Sorge um die Kinder nach

Verhör Uwe Hädrich:
Vernehmer: "Die Chance ist verspielt und ich kann Dir sagen, dass Du als Einzigster die verspielt hast. Alle anderen Familienangehörigen haben sich bis zum Laufe des Abends vernünftig gezeigt. Und Du hast das Fähnlein der sieben Aufrechten bis zum Geht-nicht-mehr, bis zum Erbrechen. Und darauf kann ich keine Ehrlichkeit gründen. Beim besten Willen nicht."
Sehr lange hält die Familie Hädrich nicht durch. Noch am späten Abend der Erstvernehmung - alle werden parallel verhört - gibt Uwe Hädrichs Frau aus Sorge um ihre Kinder nach und verfasst eine Nachricht an die anderen, die sie auffordert, alles zu sagen.
Ausschnitt aus: "Die weitere Vervollkommnung der Vernehmungstaktik bei der Vernehmung von Beschuldigten und bei Verdächtigenbefragungen der Untersuchungsarbeit des MfS":

"Oft kann es zweckmäßig sein, dass nicht der Untersuchungsführer oder ein anderer Angehöriger des Untersuchungsorgans oder der Staatsanwalt als Informationsquelle in Erscheinung tritt, sondern der Rechtsanwalt, ein Familienangehöriger oder ein Zelleninsasse."
Die Nachricht der Mutter ist - auch wenn die anderen Familienmitglieder zunächst misstrauisch sind, ob sie auch echt ist - für die Aussagebereitschaft der Hädrichs der Dammbruch.
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Das volle Stasi-Programm

Bis in den Dezember 1989 spult die Stasi noch einmal das ganze Programm ab. Über 40 Stunden Verhör sind im Ton mitgeschnitten. Detailliert und mehrfach muss Uwe Hädrich schildern, wie sie, nachdem sie gemerkt hatten, dass sie ins Visier der Staatssicherheit geraten waren, tatsächlich Kontakt zum BND aufgenommen und ihm Informationen angeboten hatten - in der Hoffnung, mit dessen Hilfe schnell aus dem Land zu kommen.
Damit steht Spionage im Raum. Während draußen nach dem Mauerfall das System zusammenbricht, macht sich in der zentralen Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR Uwe Hädrich, der stellvertretende Generaldirektor der Handelsorganisation, Gedanken, was von seinem Werk und Wirken übrig bleibt, wenn er vielleicht nach 15 Jahren wieder aus dem Gefängnis kommt.
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Die Stasi bekam alles, was sie wollte und war im Grunde genommen genauso klug als wie zuvor. Denn praktisch alle Informationen standen ihr ja von Anfang an zur Verfügung. Was sie am Ende aber nicht bekam, war ein Urteil. Uwe Hädrich war der letzte Gefangene der Stasi, als er Mitte Dezember 1989 entlassen wurde und sich mit seiner Familie ganz legal und ungehindert nach Westen aufmachte. Sein Sohn Lutz kann der ganzen Geschichte im Rückblick sogar was Gutes abgewinnen:
"Für uns war diese Zäsur also optimal, um in dieses neue Leben in der Bundesrepublik starten zu können. A ohne schlechtes Gewissen. B, mit dem Wissen, wie schlecht der Staat sein konnte, wenn er es wollte und er war es ja auch zu sehr vielen Menschen."
Uwe Hädrich hat noch zwei Karrieren gemacht. Eine als Berater einer Supermarktkette, die nach der Wende nach Osten expandierte, und eine als "letzter Gefangener der Stasi". Er war ein gefragter Zeitzeuge und durfte als solcher 2009 sogar der Kanzlerin die Hand schütteln. Uwe Hädrich starb 2011.
Lutz Hädrich: "Wir sind sozusagen mit Schrammen davon gekommen, wo anderen ganze Arme Beine und sonstige Körperteile gefehlt haben am Ende - ja, so, psychologisch betrachtet."

Teil 2 des Features zu den Verhörtechniken der Stasi können Sie am 16.03.2017 in der Sendung "Zeitfragen" hören

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