Die vaterlose Gesellschaft

Von Astrid von Friesen · 23.12.2011
1963 legte der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich seine Studie über den "Weg zur vaterlosen Gesellschaft" vor. Der Einfluss unmittelbarer Vorbilder gehe verloren. Heute, sagt die Erziehungswissenschaftlerin Astrid von Friesen, sei der leibliche Vater oft gar nicht mehr präsent.
Die Weihnachtsgeschichte lässt sich auch als die eines vaterlosen Jungen und seines Stiefvaters lesen oder als die einer Patchworkfamilie. Maria, eine junge Magd wird unehelich schwanger, eine extreme Schmach. Gott verschafft ihr deswegen einen etwas einfältigen Ehemann, der im Traum die Botschaft oder den Befehl erhält, Maria, seine Verlobte, zu heiraten.

Josef wird also – auf Drängen von außen, ohne dass seine eigenen Gefühle eine große Rolle gespielt hätten, der Stiefvater von Jesus, der ihn jedoch niemals akzeptiert, auch sein Handwerk als Zimmermann verachtet und lebenslang nach seinem wirklichen, innerlich präsenten Vater, nach Gott sucht. Zunächst im Tempel, welchen er als sein eigentliches Zuhause bezeichnet. Er wird zu einem Rebell und beschreitet den Weg der Selbstverletzung auf der Suche nach der Akzeptanz seines verinnerlichten Vaters. Bis zu seinem Tod.

Eine moderne Geschichte: das idealisierte Bild der ungebundenen Frau, die - anders als von Maria berichtet - zwar nicht ohne Mann schwanger werden, aber durchaus von verschiedenen Männern Kinder haben kann, die sie dann aus Überzeugung allein erzieht, weil der Kindesvater in ihrem Leben keine aktive Rolle mehr spielt.

Nun wollte Maria nicht Gottes Mutter werden, ist für den Marienkult schon gar nicht verantwortlich. Sie kam eher irritiert als selbstbestimmt zum Kinde, nahm die Aufgabe an und ließ sich von Josef helfen. So mag es auch Frauen von heute gehen. Sie verwirklichen sich nicht in feministischen Idealwelten. Vielmehr wurde die Patchworkfamilie oft genug zur Antwort auf geplatzte Träume, auf ein Scheitern von Frau und Mann.

Die Weihnachtsgeschichte aber erzählt von dem Kind. Jesus wird nicht mit seinem Vater zusammen leben dürfen, jedoch ein Leben lang nach ihm suchen. Und diese Erfahrung teilen heute viele Söhne und Töchter, so sehr, dass diese Erfahrung die Entwicklung der Gesellschaft beeinflusst. Vaterhunger, Vatermangel, keine männlichen Vorbilder, keine Identifikationsfiguren.

Auf der individuellen Ebene, jedoch seit dem "Verdammungsfeminismus", so der Soziologe Gerhardt Amendt, auch gesamtgesellschaftlich, werden Männer – als Rache für Jahrtausende der Frauenunterdrückung – entwertet, als zu dumm für die Aufzucht von Kindern eingestuft, aus den Familien qua aggressiven Gerichtsbeschlüssen ausgesondert, als Samenspender oder zu Zahlvätern degradiert.

Wie sie sich dabei fühlen? Das interessiert nicht, über Gefühle von Männern lachen Frauen. Die "Auslöschung der männlichen Gefühle" durch die Meinungs-, Deutungs- und Gefühlshoheit der Frauen in allen Fragen der Beziehungen, des sogenannten Kindeswohls und des Familienglücks schreitet voran.

So wie noch vor 40 Jahren die Frauen als unterentwickelt und defizitär angesehen wurden, gelten nun die Männer als rückständig und als potentielle Gewalttäter. Diese Männerfeindseligkeit entwickelt sich typisch: eine Gruppe wird qua Definition als unwürdiger, unmenschlicher und gewaltbereiter definiert wird und ihre Vertreter fallen unter Generalverdacht. Bis dahin, dass jungen Frauen heute zur Geburt eines kleinen Sohnes quasi kondoliert wird mit den Worten. "Du Ärmste" und dem Hintergedanken: "Noch ein Gewalttäter!"

Dass Jungen ohne Väter leiden, ist evident. Dass Mädchen ebenso leiden, weniger. Doch gehört auch zu ihrer Entwicklung der männliche Part. Beide Geschlechter erlangen keine produktiven Vorbilder in Sachen Partnerschaft, was dazu führt, dass fast 50 Prozent aller jungen Akademiker keine eigenen Kinder haben wollen.

Eine Gesellschaft, die immer vaterloser wird, in der nur 5 Prozent der Kindergärtner und 15 Prozent der Grundschullehrer männlich sind, verliert die Hälfte ihrer Kraft, ihrer Erneuerungsfähigkeit, ihrer Orientierung. So wie die Kinder und Jugendlichen.

Astrid v. Friesen, Jahrgang 1953, ist Journalistin, Erziehungswissenschaftlerin, sowie Gestalt- und Trauma-Therapeutin. Sie unterrichtet an den Universitäten in Dresden und Freiberg, macht Lehrerfortbildung und Supervision. Im MDR-Hörfunkprogramm "Figaro" hat sie eine Erziehungs-Ratgeber-Sendung. Außerdem schreibt sie Bücher, zuletzt: "Schuld sind immer die anderen! Die Nachwehen des Feminismus: frustrierte Frauen und schweigende Männer" (Ellert & Richter Verlag Hamburg).
Astrid von Friesen
Astrid von Friesen© privat