Die Traditionslinie der Ortsgemeinde

Klaus Duntze im Gespräch mit Ralf Bei der Kellen · 25.05.2013
Klaus Duntze erinnert sich noch gut an seine Rolle als Ideengeber der Stadtentwicklung im West-Berlin der 70er-Jahre. Fast alles vom früheren kirchlichen Engagement sei vergessen, beklagt der evangelische Pfarrer im Ruhestand - aber das Projekt "Kirche findet Stadt" mache ihm Hoffnung.
Ralf Bei der Kellen: In dem eben gehörten Beitrag wurde als besonderes Beispiel für das Einwirken von Kirche auf die Stadtplanung der evangelische Pfarrer Klaus Duntze erwähnt. Der 1935 geborene Geistliche stand von 1966 bis 1977 der Martha-Gemeinde im Berliner Stadtteil Kreuzberg SO 36 vor.

Das nach dem ehemaligen Postzustellbezirk Südost 36 benannte Quartier, also der Bereich rund um das Kottbusser Tor, hat nach dem Krieg eine besonders drastische Veränderung erlebt. Im Schatten der Mauer wird Kreuzberg zu einem Experimentierfeld für Stadtsanierer – und für deren Gegner. Hier gibt es mit dem Georg-von-Rauch-Haus eine der ersten prominenten Hausbesetzung in der Bundesrepublik, die viele Nachahmer findet. Die Pfarrer der fünf evangelischen Gemeinden in SO 36 schaffen ein Bewusstsein für den Wert der alten Stadtviertel. Dies geht soweit, dass 1977 ein von der evangelischen Kirche West-Berlins maßgeblich mitinitiierter Wettbewerb zur Stadtplanung ins Leben gerufen wird: die Strategien für Kreuzberg.

Ich habe mich vor der Sendung mit dem Pfarrer im Ruhestand Klaus Duntze unterhalten und wollte zunächst von ihm wissen, ob es für das Engagement der Kirche im Bereich der Stadtentwicklung eigentlich Traditionslinien gab, auf die er und seine Kollegen sich in den frühen 70er-Jahren berufen konnten.

Klaus Duntze: Ja, die wichtigste Traditionslinie ist das Parochialprinzip. Parochialprinzip ist ein lateinischer Ausdruck, parocia ist der bewohnende Umkreis, also das, was der Berliner den Kiez nennt, das, was man fußläufig erreichen kann, wo alle wichtigen Sachen sind, wo man die Nachbarn kennt und wo auch für die Kirche die wichtigen Gebäude wie Pfarrhaus, Gemeindehaus, Kirche selber, Friedhof, wo die dazugehören. In Deutschland ist es so, in der deutschen Kirche: Wer irgendwo wohnt und sich zur evangelischen Kirche hält, der gehört automatisch zu einer Parochie, zu einer Ortsgemeinde. Und das hat natürlich seine Vorteile für die kirchliche Arbeit, denn die ist dadurch sehr kontinuierlich, und Pfarrer und kirchliche Mitarbeiter sind in der Ortsgemeinde, im Kiez, eigentlich die, die am besten bescheid wissen, und zwar oft über Generationen hinaus, sind also außerordentlich kompetent für den Alltag und natürlich auch für die Probleme vor Ort.

Bei der Kellen: Wie kam es denn dann zu dem Engagement der Kirche bei der Stadtplanung in Kreuzberg SO 36? Wenn ich das richtig gelesen habe, dann kam ja der maßgebliche Impuls aus der Diakoniearbeit.

Duntze: Das ist das, was ich eben meinte, der Ortspfarrer begegnet natürlich allen möglichen Menschen in ihren alltäglichen Problemen. Und da spielten in Kreuzberg, in dieser Zeit – also wir reden jetzt von den 60er- und 70er-Jahren vor allen Dingen – da spielte es eine große Rolle, dass der Kiez immer mehr ins Abseits geriet. Das hing damit zusammen, dass Martha-Gemeinde, Thomas-Gemeinde, Emmaus, also die Gemeinden in der Ecke, die lagen alle im sogenannten Sanierungserwartungsgebiet, zwar noch nicht als Sanierungsgebiet ausgewiesen, aber die städtischen Baugesellschaften fingen schon an, die Häuser aufzukaufen, und die Eigentümer, die sahen für ihre Bruchbuden keine Perspektive mehr und warteten drauf, endlich entweder dass abgerissen wird, oder dass sie sie teuer modernisieren können mit öffentlichen Zuschüssen.

Und in dieser Warteschleife wurde es einfach ungemütlich. In leerstehende Häuser zogen dann Gastarbeiter ein, also vor allen Dingen die Türken damals, und sonstige, die eben billigen Wohnraum brauchten und keine Ansprüche stellen konnten. Das führte dazu, dass eben bei den gestandenen Kreuzbergern das keine Adresse mehr war. Und wenn dann Kollegen auf der Arbeit fragten: Wo wohnst du? Na ja, in SO 36. Wat mang die Türken, und so weiter – machste da nich weg? Und verlockend war natürlich dann auch in den großen Neubausiedlungen wie Falkenhagener Feld, wie Märkisches Viertel und Gropiusstadt – Zentralheizung, Badezimmer und so weiter.

Aber die sozialen Folgen waren ziemlich verheerend, denn der ganze Familienzusammenhang, der fing an zu zerbröseln, kaputtzugehen, wenn die Familien wegzogen, dann konnten die Alten weitgehend nicht mit und blieben dann da, auch schon, weil sie da sich zu Hause fühlen, na ja, und dann kamen die Leute, wenn sie wegzogen: Herr Pfarrer, also wir machen jetzt weg nach Gropiusstadt, kann sich Ihre Schwester Marie nicht dann um Oma kümmern?

Ja, da war dann die Frage, wie könnte man damit umgehen, und eine Entscheidung war, dass wir dann gesagt haben, es muss eine Stadterneuerung geben vor Ort, im Bestand, mit den Bewohnern, und da müsste man sehen, was sich da für Strategien finden lassen.

Bei der Kellen: Sie haben da 1977 gemeinsam mit anderen Gruppen die Strategien für Kreuzberg ausgeschrieben. Die Ergebnisse des Projektes sollten dann ja erst mal im Rahmen des evangelischen Kirchentags in Berlin 1977 vorgestellt werden. Was war denn die Rolle der Kirche jetzt in diesem Prozess?

Duntze: Die Idee zu den Strategien, die stammte von mir und ist erwachsen eben aus diesen Alltagserfahrungen des Pfarrers vor Ort. Und ich habe dann mit Freunden, zum Teil vom deutschen Institut für Urbanistik und anderen, habe ich dann diese Idee diskutiert, kann man so was überhaupt machen. Und dann entstand eben dieser Entwurf eines Art Wettbewerbs in zwei Stufen, in denen jeder mitmachen konnte, von der Putzfrau bis zum Bundespräsidenten, mit Vorschlägen, die aber jetzt gar nicht fachlich qualifiziert sein mussten, Vorschlägen zur sozialen, zur baulichen, zur kulturellen und zur politischen Erneuerung dieses Stadtteils.

Bei der Kellen: Ende der 70er, Anfang der 80er haben Sie dann auch die Hausbesetzer unterstützt. Die Kirchengemeinden in SO 36 hatten sogar Patenschaften für besetzte Häuser übernommen, also Sie unterstützten dann die Besetzer bei Verhandlungen, beobachteten Polizeieinsätze et cetera. Hat Ihnen diese progressive Haltung eigentlich auch Unverständnis, ja vielleicht sogar Feindseligkeit in der Gemeinde eingebracht? War da für viele eine Grenze der Unparteilichkeit von Kirche überschritten?

Duntze: Ja, und das war verschieden, von Gemeinde zu Gemeinde. Also die Tabor-Gemeinde, die hatte eine Patenschaft für das sogenannte Kerngehäuse, einen Komplex von Fabriken und Wohnhäusern und so übernommen, ein ganz spannendes Projekt, was übrigens bis heute besteht und Schule gemacht hat, und die hatte im Rahmen der Friedenswoche, die jedes Jahr ja im September gefeiert wurde, hat sie dann ihren Gottesdienst in das Kerngehäuse verlegt, und dort mit den Besetzern und ihren Freunden zusammen gefeiert.

Die Nachbargemeinde Emmaus, die hat sich mehr und mehr rausgezogen, das Engagement wurde zunehmend kritisch gesehen und schließlich von den Pfarrern strikt abgelehnt, die haben also dann – ich muss da mal zitieren – erklärt: "Die Pfarrer von Emmaus haben heute kein Interesse mehr an der Planungsbeteiligung. Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, die verbliebenen Gemeindeglieder zusammenzuhalten und sich auf die eigentliche Berufung des Pfarrers – Verkündigung und Seelsorge – zu beschränken." Also das war genau der Punkt, die Beschränkung auf die sogenannten eigentlichen Aufgaben – Auslöser dieses Kurswechsels waren die Konflikte um die Hausbesetzer, wo natürlich die Gemeindeglieder so zum Teil außerordentlich feindselig reagiert haben.

Es gab Unterschiede, das war von Haus zu Haus verschieden. Aber ganz entscheidend war, die Besetzung der Kirche zum heiligen Kreuz von Sympathisanten der Baader-Meinhof-Gruppe. Da ging es um die Haftbedingungen dieser Gruppe, und die meisten Pfarrer im Kirchenkreis waren für die Überprüfung der Haftbedingungen eingetreten, aber dieses Engagement, das spaltete nicht nur die Pfarrerschaft, sondern natürlich sogar die kirchlichen Gremien. Also es gab einen offenen Konflikt zwischen Bischof Kruse gegen den Konsistialpräsidenten Flor, und in den Gemeinden gab es so gut wie kein Verständnis für dieses Engagement. Also die alte Sache: Die Häuptlinge preschen vor, und dahinter ist nichts, da kommt nichts.

Bei der Kellen: Wenn Sie so einen Slogan wie Kirchengemeinde als Teil der Bürgergemeinde jetzt auf der Homepage von Kirche findet Stadt lesen, haben Sie dann das Gefühl, dass dort die von Ihnen begonnene Arbeit weitergeführt wird, oder sind Sie vielleicht auch ein bisschen enttäuscht, dass die Kirche mit ihrem Engagement eigentlich immer noch da steht, wo sie in den 80er-Jahren stand?

Duntze: Ja, wenn Sie da noch stehen würde! Da war viel mehr noch im Bewusstsein unmöglich, aber das stadtbezogene Engagement der Berliner Kirche ist weitgehend eingeschlafen. Die Wende brachte ja nun den Zusammenschluss von Ost und West in der Berliner Kirche, und nun gab es auf einmal Hunderte von Landgemeinden, die im Ausbluten waren, und das Potenzial, was nun die Kirche aufbringen konnte, um überhaupt sich zu reorganisieren, das wurde für diese Probleme und Fragen aufgebraucht.

Und die Stadtentwicklung in Berlin wurde ja dann ab der Wende nicht mehr vom Bund subventioniert und von der öffentlichen Hand gesteuert, sondern geriet zunehmend in die Hände der Bauwirtschaft. Das geht ja so weit heute, dass selbst die Bebauungspläne für solche großen Neubauprojekte, dass die nicht mehr von der Verwaltung, sondern von den Investoren aufgestellt werden, weil die Verwaltung ihre Kapazitäten immer mehr abbauen muss. Und dann legen die irgendwas vor und die Verwaltung sagt: Na ja, gut, das und das muss man vielleicht noch korrigieren, das geht nun gar nicht. Aber die Eigenverantwortung der Stadt für die Stadtentwicklung, die ist weitgehend ihr aus der Hand genommen.

Und für Kirche und kirchliche Vorschläge ist die Bauwirtschaft ja nun schon gar nicht offen und bereit. Also Einfluss gibt es allenfalls im Rahmen der Bürgerbeteiligung bei Sanierungsgebieten, Aber das ist dann eine Frage, welche Gemeinde macht das schon, mischt sich da ein.

Bei der Kellen: Das heißt, die Kirche als wichtiger zivilgesellschaftlicher Akteur in der Stadtentwicklung spielt eigentlich kaum noch eine Rolle.

Duntze: Im Augenblick nicht. Nun gibt es ja dieses Projekt Kirche findet Stadt, und das versucht ja so Kriterien für diese grundlegende Verantwortung zu bestimmen, aber das ist ja nun erst mal ein Konzept. Und nun sucht man Möglichkeiten der Anwendung, also diese Projekte, die zu Kirche findet Stadt gehören, die außerordentlich spannend sind, und ja auch aber jetzt eher punktuell vor Ort wieder Lücken in der sozialen Versorgung füllen, aber keine Strategie zur Veränderung der Strukturen in der Stadt, aus dem was christlicher Glaube und kirchliche Erfahrungen durch die Jahrzehnte, Jahrhunderte, einbringen könnten.

Aber wenn ich zurückdenke an das, was wir in den 70er- und 80er-Jahren erdacht und erarbeitet haben, und dann sehe, wie das sang- und klanglos ins Vergessen geraten ist, also wer weiß heute noch was von den Strategien für Kreuzberg. Und wenn ich jetzt die Prinzipien Kirche findet Stadt lese, dann fällt mir ein Beispiel aus der Natur ein: Manche Pflanzen, die kräftig geblüht haben, die können sich, wie der Gärtner sagt, über Jahre einziehen, und dann nach langer Zeit treiben sie wieder durch, werden wieder grün und wachsen auf. Und so geht es mir mit Kirche findet Stadt, da finde ich mich wieder.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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