Die toten Augen von Ciudad Juarez

Von Arndt Peltner · 22.02.2011
Nur eine Brücke, die Santa Fe Bridge, trennt die Zwillingsstädte El Paso in Texas von Ciudad Juarez in Mexiko. Einer der gefährlichsten Orte der Erde liegt direkt neben einer der am höchsten gesicherten Städte in den USA.
Vor zwei Jahren noch war die Avenida Benito Juarez Partyzone für die Schwesterstädte diesseits und jenseits der Grenze. Nur rund 50 Meter von der Grenze entfernt, trafen sich in der "Kentucky Bar” jahrzentelang Musiker, Künstler und Trinker. Tom Russell, Country Sänger aus El Paso, erinnert sich an die guten alten Zeiten:

"Ich war sehr oft in Juarez, immer mal wieder für Fiestas und zum Trinken in Kneipen wie der Kentucky Club Bar. Habe an Touristenplätzen gesessen, Bier getrunken und von den Mariachis Songs bestellt. All das gibt es heute nicht mehr, wegen der Gewalt. Jetzt ist es gefährlich, über die Santa Fe Brücke nach Juarez zu gehen, denn man könnte dort in einen Schusswechsel geraten. Auch wenn der Großteil der Morde sich zwischen den Drogengangs abspielen - es kann leicht vorkommen, dass man dazwischen gerät. 'The eyes of Benito Juarez', ist ein Song, den ich geschrieben habe, ich singe ihn mal ein bisschen vor. Im Refrain geht es darum, dass die amerikanischen Waffen von hier nach da und die Drogen von da nach hier kommen…"

(Tom Russell beginnt zu singen.)

Jose Reyes Ferriz meint:

"Es hat jeden verändert. Es ist eine Realität."

Jose Reyes Ferriz war von Oktober 2007 bis zum Herbst 2010 Bürgermeister von Juarez:

"Im alten Juarez hatten die Tanzlokale und die Bars ein großes Fenster zum Osten, sie hatten 24 Stunden lang geöffnet. Bis zum Morgen wurde in Juarez getanzt. Es war eine sehr lebensfrohe Stadt. Seitdem hat sich vieles verändert. Heute gehen viele Menschen überhaupt nicht mehr aus. Sie bleiben zu Hause und feiern ihre Partys daheim. Wir sind noch immer eine lebensfrohe Bevölkerung, aber wir zeigen das nun anders. Wir versuchen, all das unter Kontrolle zu bekommen, um unseren 'way of life' zurück zu haben."

Auch dieser Mann kennt die mexikanische Stadt aus nächster Nähe:

"Julian Cardona, ich bin freier Journalist in Ciudad Juarez, Mexiko. Einige Reporter, die hierher kommen, um über die Situation zu berichten, glauben, sie kämen in eine Kriegszone. Aber das hier ist ein besonderer Krieg, hier stehen sich nicht Armeen zweier Länder gegenüber. Oder wie in einem Bürgerkrieg zwischen verschiedenen verfeindeten Gruppen. Der Krieg hier ist eher einer der ökonomischen Systeme. Wir leiden unter einem Krebsgeschwür von innen, einem Zerfall des Systems. Nach 21 Uhr wird Juarez zur Geisterstadt. Wer ein schönes Auto hat, ein schönes Haus, ein gutes Geschäft, wird zur Zielscheibe. Inzwischen werden sogar die gekidnappt, die nichts haben. Man könnte auch sagen, Entführung und Ausbeutung wurden hier demokratisiert. Zuvor waren das nur die Ängste der Reichen, jetzt trifft es auch die Ärmeren, Menschen, die kleine Friseurläden betreiben. Auf den ersten Blick ist das nicht sichtbar. Aber man sieht es an der Angst der Leute."

Die Avenida Benito Juarez entlang in Richtung Downtown. Kein Ausländer, kein Amerikaner aus dem nahegelegenen El Paso zu sehen. Die Läden sind geschlossen, mit Brettern vernagelt, die Scheiben eingeschmissen. Trotzdem: wie ein Schlachtfeld, auf dem es offene Schießereien gibt, wie eine Stadt, in der, gleich einem Wildwestfilm, hinter jeder Ecke ein Bandit wartet, wirkt die Gegend nicht. Eher ruhig, zu ruhig, trügerisch ruhig.

Der Drogenkrieg in Mexiko hängt mit dem gegen kolumbianische Kartelle in den 80er Jahren zusammen. Damals wurde der Stoff aus Kolumbien über die Karibik nach Florida geschafft. Als dort der Druck der USA zu groß wurde, suchten die Kolumbianer neue Routen für ihren Absatzmarkt USA. Der Landweg über Mexiko bot sich an, auch, weil sich dort Behörden und Polizisten als käuflich erwiesen. Mit mexikanischen Banden wurden Übereinkünfte über die Nutzung dortiger Routen geschlossen. Gleichzeitig schwächte in Kolumbien der Kampf gegen die Drogen die dortigen Kartelle, was in Folge die mexikanischen Syndikate stärkte. Sie begannen einen Kampf um die Vorherrschaft über die lukrativen Drogenwege – schließlich ging es um viel Geld. Heute sind es die mexikanischen Drogenbanden, die den größten Teil des US-Marktes kontollieren. 90 Prozent des kolumbianischen Kokains, das in den USA verschnupft wird, kommt über mexikanische Drogenrouten.

"Die organisierte Kriminalität hat die Polizei für die Drecksarbeit benutzt. Als wir ins Amt kamen, haben wir mit der Säuberung angefangen, die umfangreichste Umstrukturierung überhaupt in einer mexikanischen Polizeibehörde. Rund die Hälfte der Beamten wurde gefeuert. Daraufhin erhielt ich als Bürgermeister Morddrohungen, ebenso der Polizeichef und alle anderen, die daran beteiligt waren. Am Ende dieses Prozesses wurde der Chef der Polizei, ein pensionierter Armeeoffizier, der das ganze leitete, umgebracht. Wir haben alle unsere Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Wir müssen das auch tun, denn die Drohungen sind ernst gemeint","

berichtet der ehemalige Bürgermeister von Juarez, Ferriz, der mit seiner Administration eine ganz neue und vor allem schlagkräftige Polizei aufbauen wollte. Dann kam der Januar 2008, und in Juarez brach die Hölle los. Zwei konkurrierende Kartelle fingen an, sich gegenseitig zu bekriegen:

""Wir haben neben den zwei Kartellen zwei Straßengangs, die in Juarez aktiv sind. Eine dieser Banden, die "Aztecas”, unterstützt eines der Kartelle und hat rund 7000 Mitglieder allein in Juarez. Im Gefängnis sitzen derzeit 1200 "Aztecas”, es ist eine riesige Gang. Und auch die andere Gang, die "Mexicles”, ist mit einem Syndikat, dem Pacific Kartell, verbunden. Sie haben rund 1200 Mitglieder in der Stadt. Und dann gibt es noch eine dritte, sehr gewalttätige Gang, die sich "AA” nennt, "Artist Assassins”. Sie sehen Mord als Kunstform und behandeln es auch so. Sie sind ebenfalls mit dem Pacific Kartell verwickelt. All diese Gruppen bekämpfen sich untereinander. Das sind die typischen Schießereien, die es vor zehn bis 15 Jahren auch in Kalifornien gegeben hat. Derzeit herrscht hier offener Straßenkrieg, deshalb ist die Mordrate so hoch."

Die Lage ist außer Kontrolle. Anfang 2009 schienen die Behörden, im Kampf gegen die Gewalt und die Drogen Erfolge zu erzielen. Die tägliche Mordrate sank auf rund 10 Menschen. Doch dann explodierte der Krieg wieder und erreichte mit Autobomben eine neue Dimension.

El Paso auf amerikanischer Seite und Juarez in Mexiko sind Geschwisterstädte, ursprünglich getrennt nur durch den Rio Bravo, ein wasserarmes Flüsslein, aus dem beide Städte das Wasser abzweigen. Jetzt wurden auf amerikanischer Seite Zäune aufgestellt, Kameras und Bewegungsmelder installiert, damit die Gewalt nicht von Juarez auf El Paso übergreift.

Alle paar hundert Meter steht nahe der Grenze ein Jeep der Border Patrol. Die USA haben verstanden, dass die Gewalt in Ciudad Juarez auch ihr Problem geworden ist. Im Zuge der Grenzsicherung ist El Paso eine ruhige Stadt geworden. Tom Russell:

"Es sieht hier aus wie in einer saubereren Version von Juarez. 70 Prozent der Menschen, die hier leben, sind Mexican-Americans. Aber man lebt hier so in den Tag hinein, fühlt sich sicher und wenig von dem berührt, was jenseits der Grenze vor sich geht. Hier lesen die Menschen mehr über Vorkommnisse in Afghanistan oder Bagdad als über Juarez. Das ist traurig, denn es geht um unser Nachbarland, ein verarmtes Land mit einer Menge Probleme."

Agent Johnson ist nicht die einzige Grenzerin, die aus Juarez stammt, nun in El Paso lebt, einen amerikanischen Pass hat und dort die Grenze zu ihrem Geburtsort abriegelt. Was sie und die anderen Grenzpolizisten verbindet, ist, dass keiner von ihnen mehr nach drüben fährt. Die Gefahr, Opfer einer Schießerei oder gekidnappt zu werden, ist zu groß, meint sie. Glücklich macht sie das allerdings nicht:

"Das Essen, die Menschen, die Kultur. Ich habe mir immer gesagt, dass ich glücklich bin, beides aus beiden Ländern zu haben. Jetzt habe ich das nicht mehr, das ist hart, und ich vermisse es. Du hast vorhin mit dem anderen Grenzbeamten gesprochen: Jeder von uns war früher regelmässig drüben, aber das geht schon länger nicht mehr."

Unterwegs mit der Polizei in Ciudad Juarez. Vor dem Polizeigebäude sind Barrikaden aufgestellt, Soldaten mit Maschinengewehren sichern den Eingang. Die Polizei ist permanent auf der Hut. Vor drei Jahren erzwangen die Kartelle den Rücktritt des Polizeipräsidenten Robert Orduna. Sie drohten, sie würden jeden Tag Polizisten umbringen, bis Orduna seinen Job aufgebe. Nach wenigen Tagen und mehreren toten Beamten schmiss der Polizeichef das Handtuch. Robert Orduna war zuvor für die Entlassung von 1600 korrupten Polizisten in den eigenen Reihen verantwortlich.

Halt an einem Einkaufszentrum. Die Polizei hat eine Seite der Straße weitläufig abgesperrt. Der Pickup einer Nobelmarke ist an einem Müllcontainer hängengeblieben. Hinter dem Lenkrad des durchsiebten Fahrzeugs ein blutüberströmter Mann um die 30. Die Polizei sichert den Tatort, kümmert sich aber erst nach einiger Zeit um den Toten. Er wird nicht abgedeckt, die Spurensicherung sei noch bei der Arbeit.

Nach einer Viertelstunde geht es mit den Worten "one killing” weiter. Mit der Polizei Streife zu fahren, heißt hier in Juarez, eine Leichenschau zu veranstalten, von Tatort zu Tatort. In dieser einen Nacht werden zehn Menschen erschossen.

Ciudad Juarez ist eine Stadt, in der rund 1,5 Millionen Menschen leben. Direkt an der Grenze zu den Vereinigten Staaten war es ein Knotenpunkt für den Handel zwischen Nord und Süd. Der Journalist Julian Cardona erklärt:

"Wir haben hier in der Stadt zwei große Arbeitgeber. Zum einen in der Produktion. Amerikanische Fabriken kamen in den 60er Jahren nach Mexiko, um hier billig produzieren zu lassen. Seit 1994 ist Mexiko mit den USA und Kanada Teil der NAFTA, dem Freihandelsabkommen. Wir sind seit über 40 Jahren eine globalisierte Stadt. Das bedeutete für uns: Jobs, wenn auch mit niedrigeren Gehältern. Dann kam etwas Neues in die Stadt. Die Drogen. Sie kamen auf ihrem Weg in die USA durch Mexiko. Irgendwann blieben sie in der Stadt und im Land hängen. Daraus entstanden für die Menschen in der Stadt und auf dem Land neue Beschäftigungsmöglichkeiten. Vielleicht noch wichtigere, weil viel profitablere. Aber sie waren auch gefährlicher und das veränderte die Stadt."

Jose Reyes Ferriz, von Oktober 2007 bis zum Herbst 2010 Bürgermeister von Juarez:

"Seit Februar 2008 gibt es in den USA die so genannte 'Nordamerikanische Reise Initiative'. Zuvor konnten amerikanische Staatsbürger mit einem einfachen Ausweis nach Mexiko kommen. Nun müssen sie einen international gültigen Reisepass vorlegen. Rund 80 Prozent der Amerikaner waren jedoch noch nie im Ausland und besitzen demzufolge keinen Pass. Also blieben auch viele der Touristen weg, die früher von El Paso aus über die Grenze kamen, um hier zu essen oder die Stadt zu besuchen. Natürlich hat sich niemand drüben einen Pass besorgt, um hier mal Mittagessen zu gehen. Das hat uns in Bezug auf den Tourismus stark getroffen. Dazu kommt die Gewalt."

Der Journalist Julian Cardona meint:

"Man sieht den Wandel in der Geschäftswelt der Stadt. Tausende von Menschen haben ihre Geschäfte geschlossen, tausende sind in die USA gezogen. Juarez zerbröckelt vor unseren Augen, denn die Kriminalität ist überall. Alles kann jedem passieren, zu jeder Zeit. Wir haben eine Art Anarchie in der Stadt."

Gleich gegenüber der Border Patrol Station liegt das Rathaus von Juarez. Dort im zweiten Stock hatte Bürgermeister Jose Reyes Ferriz sein Büro. Heute lebt er zu Hause mit einem Automatikgewehr unterm Bett. Noch vor wenigen Montaten sagte er:

"Ich liebe diese Stadt. Mein Vater war Bürgermeister von Juarez. Ich habe in London studiert und Jobangebote in London, New York und anderen Städten bekommen. Aber ich wollte zurück und hier bleiben, denn ich liebe diese Stadt. Es ist toll, in dieser Stadt zu leben, hier gibt es jede Menge Möglichkeiten. Und ich kann etwas verändern. Wir müssen das einfach weitermachen, was wir angefangen haben."
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