Die Todesangst besänftigen

23.07.2010
Dieser Groß-Essay über die Sterblichkeit im Angesicht des Unglaubens kommt weder klinisch noch mit falschen Tröstungen daher. Vielmehr rüstet er sich mit melancholischem Witz, Scharfsinn und geistreicher Eleganz, um den Schrecken des Unausweichlichen zu trotzen.
Julian Barnes, Jahrgang 1946, ist ein äußerst vielseitiger und mit vielen Preisen ausgezeichneter Londoner Autor mit einem umfangreichen Œuvre von Romanen und Essays, in denen er britisch unterkühlte Ironie mit einer Vorliebe für französischen Esprit und aufgeklärte Vernunft verbindet. Zu seinen bekanntesten Werken zählen "Flauberts Papagei", "Eine Geschichte der Welt in zehneinhalb Kapiteln", "In die Sonne sehen" und "Arthur & George", ein historischer Roman über Arthur Conan Doyle.

In "Nichts was man fürchten müsste" setzt sich Barnes mit dem auseinander, was er am meisten fürchtet: dem Tod. Mit zwanzig Jahren war Barnes Atheist, mit sechzig ist er Agnostiker, und als lebenslanger Skeptiker durchmustert er angesichts des näher rückenden Sterbedatums die Antworten der Philosophie, der Kunst und der Religion auf die letzten Fragen, die der Tod seit jeher aufwirft, und hält sie allesamt für illusionär und nicht stichhaltig.

Er überprüft die Argumente für und gegen ein Weiterleben nach dem Tod auf ihre Triftigkeit, fragt nach dem Verbleib Gottes und sucht aus der Art, wie seine eigenen Eltern gestorben sind, Schlüsse zu ziehen auf das, was ihn erwartet und wie er dem begegnen sollte. Seine Grundhaltung: "Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn." Barnes hätte nichts gegen das Sterben, wenn man danach nur nicht tot wäre.

Dieser Groß-Essay über die Sterblichkeit im Angesicht des Unglaubens kommt weder klinisch noch mit falschen Tröstungen daher, sondern rüstet sich mit melancholischem Witz, Scharfsinn und geistreicher Eleganz, um den Schrecken des Unausweichlichen zu trotzen.

Barnes mischt das Anekdotische mit dem Autobiografischen, er sammelt die überlieferten Todesarten von Künstlern, hauptsächlich französischen Schriftstellern wie den Brüdern Goncourt und Émile Zola und russischen Komponisten wie Schostakowitsch und Rachmaninoff; er lässt seine intellektuellen Hausgötter (Montaigne, Flaubert, Jules Renard) ausführlich zu Wort kommen, erinnert sich an Episoden und Legenden aus seiner eigenen Familie und reichert das Ganze mit viel Hausmacher-Philosophie an, die sein älterer Bruder Jonathan, ein Philosophie-Professor in Oxford und Genf, dann per Email mit der souveränen Lässigkeit des Fachmanns zu zerpflücken liebt: "Sentimentaler Quatsch."

Das Buch umkurvt seine Themen in weit schweifenden Kreisbewegungen, gerät manchmal außer Fokus, verliert sich in Exkursen und abseitigen Meditationen, kehrt aber immer wieder zu den Hauptfragen zurück, in immer wieder neuer Perspektive und neuen Anläufen, bleibt freilich auf viele gestellten Fragen die Antworten schuldig.

Barnes’ Blick auf seine Eltern bleibt skeptisch, auch nach deren Tod. Beide waren Lehrer, der Vater milde, wortkarg und ironisch, die Mutter geschwätzig und dominant. Barnes hat seinen Vater geliebt und bedauert, ihm das nie gesagt zu haben; und er mochte seine Mutter nicht; und seinen Bruder hält er, in aller Höflichkeit, für einen etwas exzentrischen Pedanten.

Die Stärke dieses Buches liegt in der Fülle seiner unterhaltsam vorgetragenen, teils entlegenen Materialien und seinen pointierten Anekdoten. Die Todesangst wird es nicht beseitigen, aber mindestens für die Dauer der Lektüre besänftigen.

Besprochen von Sigrid Löffler

Julian Barnes: Nichts was man fürchten müsste
Aus dem Englischen von Gertraude Krüger
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010
333 Seiten, 19,95 Euro