Die Thüringer Originale

Von Ellen Häring · 08.04.2009
In Thüringen liegt am Aschermittwoch Schnee, sehr viel Schnee. Die Sonne scheint, ich stehe am Bahnhof von Sonneberg: ein weißer Traum, fast wie im Skiurlaub. Ich komme langsam voran mit meinem Rollköfferchen auf dem verschneiten Gehweg. Plötzlich kracht ein Schneebrett vom Hausdach - mein Mantel ist nass, meine Haare auch, wie ein begossener Pudel stehe ich zwischen Tchibo und Rossmann und registriere: Ich lebe noch, hurra!
Mutig ziehe ich weiter in Richtung Gasthof. Am Abend gucke ich aus dem Fenster: Es schneit dicke Flocken. Die Wettervorhersage prognostiziert Schneefälle für die nächsten Tage. Na und? Für die Jagd nach Themen auf dem 11. Längengrad habe ich in weiser Voraussicht meine Bergstiefel eingepackt.

Am nächsten Morgen entnehme ich der Lokalpresse, dass die Rentnerin Margarete Lutz sich Holzbretter vor ihre Fenster setzt, eine drei Meter hohe Schneewand drückt gegen die Glasscheiben. Frau Lutz wohnt am Rennsteig. Genau da führt meine Themensuche mich heute hin.

Der Mietwagen ist wintertauglich, "mit allem drum und dran" verspricht der junge Mann und zeigt auf ein achteckiges, rotes Paket im Kofferraum: Schneeketten. Ich schicke ein Stoßgebet gen Himmel: Lieber Herrgott, lass diesen Kelch an mir vorüberziehen!

Der Mietwagen ist viel zu groß für die engen Straßen mit ihren meterhohen Schneewänden, gefährliche Ausweichmanöver sind die Folge. Ich schwitze. Die Scheibenwischer rasen im Schnellgang hin und her. 25 Kilometer können sehr lang sein. Ich habe Hunger. In Lauscha hängen dicke Eiszapfen von den Dächern bis hinunter an die Fenster. Rentner in dicken Anoraks und Pudelmützen hantieren mit Schneeschippen und schaufeln den schmalen Durchgang zur Haustür frei. Ich esse einen Mohnkuchen. Im Café am Rennsteig blicke ich aus dem Fenster und sehe eine weiße Wand.

Endlich in Lichte! Ich parke auf dem Marktplatz. Meine Bergstiefel versinken in tiefem Schnee. Frau Ludwig kann nicht kommen, die Schneemassen bringen alles durcheinander. Die Dame in der Gemeindeverwaltung ist freundlich, hat aber ansonsten andere Sorgen als die Reporterin aus Berlin. Ich will hier eine Live-Reportage machen: Wo? Mit wem? Und was ist überhaupt das Thema?

Vieles ist vorstellbar im Moment: der Schneeräumdienst morgens um 8.20 Uhr, Langläufer im Thüringer Wald, ein Hausbesuch bei Rentnerin Lutz. Aber die Reportage findet nicht morgen, sondern im April statt. Wie um alles in der Welt mag es hier im April aussehen? Mir fehlt die Phantasie bei so viel Weiß.
Ich könnte jetzt zu einer Talsperre fahren, auf den Fotos sieht sie imposant aus. Vielleicht ist der Staumeister ein unentdecktes Radiogenie. Aber die Straße zur Talsperre ist zurzeit nicht befahrbar. Ach so.

Verloren stehe ich auf dem Marktplatz herum und stelle mir die Frage aller Fragen: warum bin ich hier, was ist der Sinn des Ganzen?
Mein Magen knurrt. Ich bin keine große Wurstesserin, aber heute ist alles anders. Ich nähere mich einer einsamen, zugeschneiten Imbissbude und bestelle eine Original Thüringer Rostbratwurst mit Senf. Es dauert ein bisschen, wir kommen ins Gespräch, die Wurstverkäuferin und ich: über krosse und weniger krosse Würste, über das unübertroffene Thüringer Original und über den Fleischer, der immer wieder Preise gewinnt mit seinen einmaligen Würsten.

Ich beiße in das gute Stück. Gar nicht schlecht.
Auf dem verschneiten Dach der Imbissbude erkenne ich einen Schriftzug: "Gewinner des Pokals Thüringer Originale".
Ich beiße wieder in die Wurst. Sie schmeckt wirklich gut.

Die Fleischerei, erzählt die Wurstverkäuferin, ist ein Familienbetrieb, 100 Jahre alt, lange Tradition. Die Würste werden vom Fleischer höchstpersönlich gestopft und gewürzt.

Meine Wurst schmeckt immer besser.

Der Betrieb ist in ganz Thüringen bekannt, schon zu DDR-Zeiten war das so. Und darauf ist Lichte stolz.

Lichte? Jawohl, hier in Lichte, gleich um die Ecke im Wald, da ist die Fleischerei, die die beste Thüringer Rostbratwurst macht. Eine bessere gibt es nicht, das schwört die Wurstverkäuferin.

Nein, eine bessere gibt es nicht. Ich bin ganz und gar ihrer Meinung. Ich steige in mein Auto und fahre in den Wald. Ohne Schneeketten. Die Straße ist geräumt, schließlich müssen Lieferfahrzeuge die Wurst zu den Menschen bringen. Nach weniger als zwei Kilometern finde ich mein Glück zwischen Blutwurst und Knackern.
Die Thüringer Rostbratwurst hat eine neue Freundin. Und einen Sendeplatz im Radio.