Die Stimme aus dem Grab

01.10.2012
Fast 40 Jahre lang hat Mark Twain immer wieder an seiner Autobiografie gewerkelt und sie dann doch nicht veröffentlicht: Mit Rücksicht auf seine Frau verfügte er testamentarisch, dass das Werk erst 100 Jahre nach seinem Tod veröffentlicht werden darf. Doch als Skandalbuch taugt das Buch nicht.
"In dieser Autobiografie werde ich stets im Hinterkopf behalten, dass ich aus dem Grab spreche. Denn wenn das Buch aus der Druckerpresse kommt, werde ich tot sein."

Das ist das erste, was man liest, wenn man das in rotes Leinen eingebundene Buch aufschlägt: handschriftlich im Faksimile der befreiende Hinweis des Autors an sich selbst, dass er sich keiner Selbstzensur unterwerfen muss. Twains geschickt gestreute Andeutungen auf die 100 Jahre Inkubationszeit haben die wildesten Erwartungen genährt. Seit seinem Tod 1910 lauerte seine Fangemeinde auf diese geheime Autobiografie. Wahrscheinlich wird sie enttäuscht sein: Als Skandalbuch knallt die Schrift von der anderen Seite des Grabes nicht so richtig. Von Enthüllungen und Entgleisungen keine Spur, allenfalls eine kleine Ungehörigkeit, die man 1910 nicht hätte veröffentlichen können:

"Paige und ich begegnen einander immer mit überschwänglicher Freude; dabei weiß er genau, dass ich, wenn ich seine Eier in eine Stahlklappe bekäme, ihm allen menschlichen Beistand versagen und zusehen würde, wie er zugrunde ginge."

Aber das ist dann auch schon das Schlimmste. Jener James Paige entwickelte eine Setzmaschine, in die Twain viel Geld investiert hatte. Das fatale Setzmaschinenmonstrum umfasste mehrere Tausend bewegliche Teile und zerlegte sich bei jedem Probelauf selbst. Twain fühlte sich betrogen.

Die Idee zur Autobiografie kam ihm im Gespräch mit einem Freund, der ihm nahe legte, dass man mit 40 Jahren über seine Taten schreiben müsse, weil ein Mann dann den Gipfelpunkt seines Lebens erreicht habe. Der Gedanke zündete.

"Ich beschloss, unverzüglich mit meiner Autobiografie zu beginnen. Aber meine Entschlossenheit schmolz dahin und schwand binnen einer Woche, und ich verwarf den Anfang. Seitdem habe ich ungefähr alle drei oder vier Jahre einen Neuanfang gemacht und noch jeden verworfen."

Twain verfasste seine Biografie, wie er auch seine Romane erfand. Er war kein konsequenter Schreiber. Er war ein Parallelarbeiter und so brauchte er für seine Romane gewöhnlich drei und sieben Jahre. Seine Autobiografie schrieb, diktierte, redigierte, kompilierte er jahrzehntelang.

"Je mehr ich darüber nachdenke, desto unmöglicher erscheint mir das Projekt. Möglich ist allein, über das zu schreiben, was sich mir im jeweiligen Moment aufdrängt."
Die zweibändige Edition, die jetzt im Aufbau-Verlag erschienen ist, legt die komplexe und komplizierte Entstehungsgeschichte dieser Autobiografie mit großer Akribie dar: Der erste Band enthält Twains Aufzeichnungen, der zweite Band Erläuterungen, die Wissenschaftler der Stanford Universität zusammengestellt haben.

Erstaunlicherweise sind diese Erklärungen kaum weniger spannend als die Originaltexte, weil der Leser nun erst viele Hintergründe und Anspielungen versteht und für ihn noch eine weitere Ebene der Texte aufgeschlüsselt wird. Gewöhnlich schrieb Twain mit der Hand, aber dann begeisterte er sich dafür, seine Texte zu diktieren, zum Beispiel in Florenz, wo er mit seiner Familie einige Monate lebte. Dort mietete Twain eine Kutsche mit Pferden und selbst solche alltäglichen Erlebnisse gingen ungefiltert in die Stoffsammlung seiner Autobiografie.

"Die Pferde sind schwach und haben Einwände gegen den Landauer; ab und zu bleiben sie stehen, drehen sich um und mustern ihn erstaunt und misstrauisch."

Da ist Twain der Humorist, der wütend ist, weil er die schlappen Pferde und den schweren Wagen viel zu teuer bezahlt hat. In anderen Fragmenten begegnet uns der schneidende Gesellschaftskritiker. Auf den Philippinen waren 1906 amerikanische Invasionstruppen in ein Gefecht verwickelt worden. Ihre Verluste betrugen 15 Tote und 32 Verwundete. Twain ätzte:

"Der Feind zählte 600 Personen – einschließlich Frauen und Kindern -, und wir vernichteten ihn vollständig und ließen nicht einmal ein Baby am Leben, das nach seiner toten Mutter hätte schreien können. Das ist der weitaus größte Sieg, den die christlichen Soldaten der Vereinigten Staaten je errungen haben."

Die Leser müssen sich nach der Lektüre der geheimen Autobiografie nicht an einen neuen Twain gewöhnen. Es ist der Twain, den sie kennen und lieben: witzig, sarkastisch, humorvoll, fordernd moralisch. Dass er von den Menschen nichts hielt, wussten sie schon:

"Wir verfügen über keinerlei nennenswerte Beweise, dass der Mensch Moral hat. Er selbst ist dafür der einzige Zeuge. Personen, die ihn nicht kennen, schätzen sein Zeugnis."

Twain hatte sich die 100-Jahre-Frist ausbedungen, weil er ungeschminkt und schonungslos schreiben wollte, auch über sich. Aber genau das ging nicht:

"Man kann seine private Seele nicht offen legen und sie betrachten. Man schämt sich zu sehr. Es ist zu widerwärtig."

Die Geheime Autobiografie ist trotzdem ein intimes Buch. Die Leser erleben, wie der Autor seine Gedanken formt in einem Stadium, wo er noch ganz allein ist mit seinen Ideen und Wörtern und noch nicht daran denkt, wie er sie umarbeitet, damit er sie in die Welt entlassen kann.

Besprochen von Paul Stänner

Mark Twain: Meine geheime Autobiografie
Übersetzt von Hans-Christian Oeser
der Anhangband von Andreas Mahler
Aufbau Verlag, Berlin 2012
1129 Seiten, 49,90 EUR