Die Sprache der 68er

Als mündige Bürger sich emanzipierten

Am 29. März 1968 protestierten rund 500 Menschen in Kiel gegen den Krieg in Vietnam. Zu der Demonstration hatte die "Kampagne für Demokratie und Abrüstung" aufgerufen.
"Kieler Bürger schließt euch an, für den Frieden in Vietnam" - 1968 demonstrieren Bürger in Kiel für Demokratie und Abrüstung. © dpa
Von Jens Rosbach · 14.03.2018
Begriffe der 68er-Bewegung wie direkte Demokratie, mündiger Bürger oder der Gang durch die Institutionen prägen unser Bewusstsein bis heute. Aktuell haben vor allem das konservative und rechte Spektrum die 68er-Begriffe für sich entdeckt.
Als vor 50 Jahren die junge Generation für eine bessere Gesellschaft auf die Straße ging, prägte sie einen Begriff, der bis heute in aller Munde ist: den "mündigen Bürger". Gemeint seien damit die aufgeklärten Bürger," die sich einmischen, die kritisieren, die auch ihre eigene Meinung haben", sagt Heidrun Kämper vom Mannheimer Institut für deutsche Sprache. "Und: Die sich eben durch die Presse auch nicht manipulieren lassen – Manipulation durch die Springer-Presse. Das ist ein ganz wesentliches Thema in den späten 60er-Jahren."

Die Germanistin hat jahrelang das Vokabular der 68er analysiert. Nach ihrer Untersuchung schwebte der Studentenbewegung ein antiautoritärer, ein "autonomer" Bürger vor. Das Autonomie-Konzept ging unter anderem auf den Soziologen Theodor W. Adorno zurück, einen der führenden Köpfe der "Frankfurter Schule", die Einfluss auf die Theorie-Debatten in der Studentenrevolte hatten.
"Die einzig wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz wäre Autonomie, wenn ich den Kantischen Ausdruck verwenden darf: die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen", bezog Adorno sich in seiner Vorlesung "Erziehung nach Auschwitz" auf den Philosophen Immanuel Kant.

68er-Begriffe im allgemeinen Sprachgebrauch

Der "mündige Bürger" ging bald schon in den politischen Sprachalltag über. Selbst bei der Debatte um die Gurtanschnallpflicht wurde er erwähnt, 1982, von einem Richter.
"Man versucht doch auf alle mögliche Weise, an den mündigen Bürger zu appellieren. Zum Beispiel hat man es auch abgelehnt, die Höchstgeschwindigkeit auf den Autobahnen, die es ja in fast allen Ländern gibt, festzusetzen, weil man auf den mündigen Bürger vertraut."
Der "mündige Bürger" erzielt heute mehr als 300.000 Google-Treffer. Wer diesen Begriff verwendet, hat zumeist auch andere 68er-Schlüsselbegriffe im Kopf - wie "Basisdemokratie" oder "direkte Demokratie".
Alle vier Jahre mit einem Stimmzettel, repräsentativ jemanden in einen Bundestag zu wählen, "in einen schwerfälligen Apparat", das sei der Protestbewegung nicht genug an Demokratie gewesen, sagt Kämper. "Und deswegen die Idee der direkten Demokratie."

"Mehr Demokratie wagen"

"Wir wollen mehr Demokratie wagen!" – Mit dieser Formulierung griff Bundeskanzler Willy Brandt in seiner Regierungserklärung 1969 die Idee von der Straße auf, dass das Volk unmittelbar mitbestimmen sollte. "Wir werden unsere Arbeitsweise öffnen und dem kritischen Bedürfnis nach Information Genüge tun", verkündete Brandt.

"Direkte Demokratie" – Googletreffer: mehr als eine halbe Million – wird heute gern bei Volksabstimmungen benutzt. Inzwischen warnt aber die grüne Politikerin Claudia Roth: "Direkte Demokratie – das kann auch mal schief gehen!"

Rechtspopulisten nutzen 68er-Begriffe

Inzwischen liebäugelt man mehr und mehr im konservativen und rechten Spektrum mit einer direkten Demokratie. "Ich bin schon der Meinung, dass wir uns auch der veränderten Zeit anpassen müssen", sagte CSU-Politiker Michael Glos. "Das heißt, dass wir zu mehr Elementen direkter Demokratie kommen müssen." Die Rechtspopulisten gehen noch weiter. Sie wenden den Begriff so, dass er im starken Gegensatz zur 68er-Ideenwelt steht. Alice Weidel, inzwischen AfD-Fraktionschefin im Bundestag, verkündete gleich nach der Bundestagswahl: "Wir werden Resolutionen verabschieden – zu den Themen Asyl-Integration, dann Euro und Währung. Was war das Dritte? – Direkte Demokratie, unser Kernthema!"
Ein weiterer Begriff: "Establishment". Das Institut für deutsche Sprache beobachtet, dass die AfD versucht, auch dieses 68er-Wort zu besetzen.
"Was damit ausgedrückt wird: Das Establishment kümmert sich eben nicht ums Volk. Damit sind ja zum Beispiel die sogenannten Altparteien gemeint, die überhaupt nicht mehr wissen, was das Volk möchte, und die auch zum Establishment gehören", sagt die Sprachwissenschaftlerin Heidrun Kämper. "Und da ist der Rechtspopulismus ja angetreten zu sagen: Wir stellen wieder eine Beziehung zum Volk her."

Alte Worte, neues Bewusstsein

Mündiger Bürger, direkte Demokratie, außerdem "der Gang durch die Institutionen". Nach den Analysen von Heidrun Kämper hat die Studentenrevolte nicht nur neue Begriffe kreiert, sondern auch die Bedeutung einzelner Wörter erweitert.
Im veränderten Gebrauch eines Wortes spiegele sich ein verändertes Bewusstsein wider. Ein Beispiel sei das, was wir heute mit dem Wort "Gewalt" verbinden.
"Die Sensibilisierung dafür, dass Gewalt eben nicht nur physische Gewalt ist, sondern auch seelische Gewalt sein kann, psychische Gewalt, die man nicht sieht. Gewalt in der Sprache ist ja heute ein ganz großes Thema – alles das, was an Hassbotschaften formuliert wird – dieses Bewusstsein haben wir in hohem Maße."
Als 1989 das Volk der DDR auf die Straße ging, tauchten plötzlich zentrale Begriffe der westdeutschen Studentenbewegung wieder auf. Trotz jahrzehntelanger SED-Indoktrination: Die Sprache der Emanzipation war selbst durch die Mauer gedrungen.
"Die DDR als autoritärer Staat, der Repressionen austeilt. Dagegen setzt die Bürgerrechtsbewegung Autonomie und Selbstbestimmung. Und dann eben auch Formen der direkten Demokratie: Es soll Parteien geben, es soll Wahlen geben, es soll Möglichkeiten der Teilhabe geben. Das waren so die Forderungen. Und die stehen ohne Frage mit der 68er-Bewegung in Verbindung."
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