Die Spaltung des Solidarnosc-Lagers

Von Helga Hirsch · 09.12.2010
Am 9. Dezember 1990 wurde Gewerkschaftsführer Lech Walesa überlegen mit fast drei Viertel aller abgegebenen Stimmen zum ersten frei gewählten Staatspräsidenten Polens nach dem Krieg gewählt.
Gemeinsam hatten sie das kommunistische System gestürzt, gemeinsam 1989 die Parlamentswahlen gewonnen und Tadeusz Mazowiecki zum ersten unabhängigen Ministerpräsidenten im gesamten sowjetischen Herrschaftsbereich gekürt. Danach spaltete sich das Solidarność-Lager.

Radikale Mitglieder um den Gewerkschaftsführer Lech Wałęsa wollten den Umbau in Staat und Wirtschaft beschleunigen. Und sie wollten verschiedene politische Parteien anstelle der einheitlichen Solidarność-Bewegung.

Der Streit spitzte sich immer mehr zu auf die Personalfrage: Mazowiecki oder Wałęsa? Dazu der polnische Historiker Andrzej Paczkowski:

"Eine höchst wichtige Rolle bei der immer lauter werdenden Kritik an Mazowiecki spielte die Tatsache, dass Lech Walesa kein politisches Amt erhalten hatte. Angesichts seines Charismas, seiner Stellung in der Welt, seiner Popularität im Land und seines Ehrgeizes war die einzige würdige Funktion für den Friedensnobelpreisträger das Amt des Präsidenten. Doch dieses war besetzt."

Von General Wojciech Jaruzelski, dem Repräsentanten des alten Systems in der neuen Demokratie. Im April 1990 meldete Wałęsa selbst seine Kandidatur für das Amt an, drei Monate später gab er Jaruzelski unmissverständlich zu verstehen, seine Zeit sei abgelaufen.

Die vorgezogene Neuwahl des Präsidenten wurde für den 25. November 1990 festgelegt – nach einer Verfassungsänderung in einer Direktwahl durch das Volk. Als auch Tadeusz Mazowiecki seine Kandidatur bekannt gab, war die Spaltung des Solidarność-Lagers endgültig geworden.

"Journalist: "Sollten Sie zum Präsidenten gewählt werden: Ist dann ein Premier Mazowiecki denkbar?""

"Walesa: "Ich würde so sagen: Wäre ich Mazowiecki, wäre ich nicht angetreten.""

In Werbespots und auf Wahlveranstaltungen gebärdete sich Lech Wałęsa als Sheriff, mit der Axt in der Hand, auf der Jagd nach alten postkommunistischen Seilschaften. Er präsentierte sich als Führer einer vernachlässigten Arbeiterklasse, als einer, der gegen die Salons der Intellektuellen in Warschau zu Felde zog und dabei selbst antisemitische Anspielungen nicht scheute. Der besonnene, liberale, sachorientierte Mazowiecki protestierte – doch mit wenig Charisma.

Am Wahltag berichtete ein Korrespondent aus Warschau:

"Ernsthafte Aussichten auf den Sieg haben nur Arbeiterführer Lech Walesa und Premierminister Tadeusz Mazowiecki. Nach der jüngsten Meinungsumfrage, die Anfang der Woche durchgeführt wurde, liegt Lech Walesa mit 38 Prozent klar vorn in der Wählergunst, gefolgt von Mazowiecki mit 23 Prozent."

Mit rund 40 Prozent der Stimmen ging Walesa tatsächlich als Sieger aus der Wahl hervor, doch den zweiten Platz belegte zur Überraschung aller der emigrierte Geschäftsmann Stanislaw Tyminski aus Kanada, ein Millionär, der seinen Wahlkampf aus eigener Tasche finanziert hatte. Tadeusz Mazowiecki legte sein Amt als Ministerpräsident sofort nieder. Nun trat Tyminski, da kein Kandidat die absolute Mehrheit erreicht hatte, im zweiten Wahlgang am 9. Dezember gegen Wałęsa an.

Der Historiker Antoni Dudek:

"Tyminskis unglaublichen Erfolg verdankte er der Tatsache, dass ein Großteil der Wähler einen Kandidaten wollte, der sich grundlegend von allen anderen unterschied. Einen Kandidaten, der nicht in die bisherigen politischen Querelen verwickelt war, weder vor noch nach 1989, und der gleichzeitig Erfolg verkörperte, von dem so viele Polen träumten."

Das Solidarność-Lager war schockiert. Einschließlich der Anhänger von Mazowiecki mobilisierte es nun gegen "Mister Nobody", den Einzelgänger ohne Partei. Auf Tyminskis Wahlveranstaltungen spielten sich tumultartige Szenen ab – in Warschau kam es vor laufenden Kameras zum Handgemenge.

Doch am 9. Dezember 1990 wurde Lech Wałęsa überlegen mit fast drei Viertel aller abgegebenen Stimmen zum ersten frei gewählten Staatspräsidenten Polens nach dem Krieg gewählt. Was ein Grund für Freude und Stolz hätte sein können, hinterließ nach dem "Krieg an der Spitze" bei den meisten alten Kampfgefährten jedoch nur Bitterkeit und Bestürzung.
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