"Die Situation ist nicht hoffnungslos"

Moderation: Eberhard Schade · 12.01.2013
Das Erdbeben habe noch immer "einen Platz tief in uns", sagt die haitianische Schriftstellerin Kettly Mars. Es werde immer klarer, dass die Haitianer selbst aktiv werden müssen. Trotz internationaler Hilfe sind immer noch fast 350.000 Menschen obdachlos oder leben in notdürftig errichteten Zelten.
Deutschlandradio Kultur: Madame Mars, vor drei Jahren schrieben Sie in Ihrem Artikel, dass das Erdbeben für Haiti auch eine Chance darstellt. Heute wird das Land spöttisch "Republik der NGOs" genannt. Die Weltbank nannte es "Friedhof der Hilfsprojekte". Madame Mars, ist diese Chance vertan?

Kettly Mars: Ich denke nicht, dass die Chance vertan ist. Unmittelbar nach dem Beben gab es dieses Gefühl von Gemeinschaft, das uns zusammenhielt, uns davor bewahrte unseren Verstand zu verlieren. Diese Tage und Wochen haben wohl noch immer einen Platz tief in uns. Ich glaube, dass das, was ich damals fühlte, nicht falsch oder vorgetäuscht war, ich habe etwas sehr Starkes gefühlt, dass durchaus vorhanden war.

Aber leider haben die Umstände dafür gesorgt, dass die Dinge sich geändert haben, die Interessen sich in verschiedene Gruppen aufgespalten haben und die Dynamik verschwand. Aber ich glaube nicht, dass das, was wir erlebt, was wir durchgemacht und was wir daraus gelernt haben wertlos war. Es hat durchaus Bedeutung - es zeigt das Potenzial von etwas sehr Wichtigem und Hilfreichem, das wirklich greifbar wurde, wenn auch nur kurz. Unsere Situation ist nicht hoffnungslos. Wir können sie ändern, aber wir dürfen nicht vergessen, dass wir es selbst tun müssen. Die Führung muss von Haitianern selber kommen. Wir müssen unsere internen Differenzen ignorieren und uns auf Haiti als Ganzes konzentrieren, als ein Land, dass es zu retten gilt.

Ich denke, das ist möglich. Und paradoxerweise nähern wir uns dem immer mehr an. Aber wir müssen viel leiden, um das zu begreifen, weil wir, sobald wir den Boden erreicht haben, merken werden, dass wir ganz alleine dastehen. Das sieht man schon jetzt, die NGOs, internationale Organisationen, die "Friends of Haiti", alle stehen uns bei, aber nichts wird besser.

Deutschlandradio Kultur: Vor allem nicht für die rund 350.000 Menschen, die nach wie vor in Zelten leben. In einem dieser Camps spielt Ihr jüngster Roman ...

Kettly Mars: In der Geschichte geht es um einen Mann, er ist Mitte 50, Ingenieur, Architekt und Schriftsteller. Als Autor war er vor ein paar Jahren sehr erfolgreich, erlebt jetzt aber eine Durststrecke. Er ist sehr aktiv am Wiederaufbau beteiligt. Er hat einen Vertrag, eine Stadt, für Menschen mit niedrigem Einkommen, für Arme, wieder aufzubauen. Anfangs ist er voller Enthusiasmus dabei, wird aber langsam mutlos, weil nichts so funktioniert wie gedacht. Es kommt zu einer drastischen Wende, nach der er sich in einem Netz von Kinderprostitution wiederfindet, er geht ins Camp um dort sehr junge Mädchen zu treffen.

Das Buch handelt von der Hölle, durch die dieser Mann geht. Er weiß, dass er falsch handelt, dass er diese Menschen und ihre Verzweiflung nicht ausnutzen sollte. Er möchte, dass sich die Dinge ändern, selbst etwas bewegen, aber gleichzeitig nutzt er auf üble Weise Menschen aus und macht letztlich genau das Gleiche, was er an anderen immer kritisiert. Für mich ist das eine Art und Weise die haitianische Gesellschaft als Ganzes zu zeigen. Unser guter Wille, unsere guten Absichten, unsere Enttäuschung, wenn wir sehen, wie schwierig alles ist oder wir nicht wissen, wo wir anfangen sollen, wenn wir einen Schritt vorwärts und zwei zurück gehen.

Dieser Mann steht als Metapher für diese Gesellschaft. Schließlich trifft er auf die Liebe in Form einer Frau aus Asien, aus einem weit entfernten Land. Sie gibt ihm die Kraft an sich selbst zu glauben, endlich das Buch über das Camp in Angriff zu nehmen, das er schreiben wollte - seine Wiedergutmachung. Darum habe ich das Buch in dieser Umgebung spielen lassen, um zu zeigen, was wir derzeit durchmachen. Dabei möchte ich die Tür einen Spalt offen lassen - die Hoffnung ist noch nicht am Ende: Wenn wir an unserer Phantasie und Kreativität festhalten, können wir auch etwas ändern.

Deutschlandradio Kultur: Waren Sie in den Zeltlagern und haben mit den Menschen dort gesprochen?

Mars, KettlyKettly Mars: Oh ja, nach dem Erdbeben gab es gleich hinter meinem Haus ein Camp auf einem Fußballplatz. Die Leute blieben ungefähr ein Jahr dort. Ich bin oft hingegangen und habe mit ihnen geredet. Nicht nur, weil sie mir nahe waren - ihnen zu helfen war auch eine Art Selbstschutz. Ich hatte ja ganz plötzlich 3000 Leute hinter meinem Zaun wohnen. Mein Mann und ich mussten also Hilfe finden, Dinge, die die Leute zum Überleben brauchten, Lebensmittel, Hygieneartikel etc. Das war eine ziemlich intensive Erfahrung. Es ging alles gut, sie hatten zugestimmt, den Platz, der uns gehört, nach einem Jahr wieder zu räumen und daran haben sie sich auch gehalten. Nahezu jeder hat diese Camps gesehen, sie waren einfach vor deiner Nase, auf jedem öffentlichen Platz, überall.

Deutschlandradio Kultur: Ein Leben zwischen Müll und überlaufenden Toiletten. Hatten Sie den Eindruck, dass sich die Menschen dort aufgegeben haben?

Kettly Mars: Ich würde nicht sagen, dass sie aufgegeben haben. Sie leben dort, sie rackern sich ab. Sie leben auf diesen Feldern ohne Wasser, ohne Strom und finden Wege zu überleben, sich und ihre Familien zu ernähren. Jeden Tag von Neuem - das ist kaum vorstellbar. Sie geben nicht auf, sie mühen sich ab um zu überleben. Leider scheinen aber die großen Camps immer mehr zu richtigen Slums zu werden. Der Wiederaufbau, all die Energie, das Geld, das ausgegeben wird, geht in ganz verschiedene Richtungen, jeder macht etwas anderes, es fehlt der gemeinsame Rahmen. Vor ein paar Tagen war ich im Plateau Central, dort sah ich das Bauprojekt "Minicity" mit ungefähr Tausend Häusern, das seit vielen Monaten unvollendet brach liegt. Da kann man es den Leuten wirklich nicht vorwerfen, dass sie noch in Zelten auf der Straße wohnen. Hier zeigen sich die Widersprüche im Wiederaufbau.

Deutschlandradio Kultur: Ich habe hier, in Pétionville, dem Vorort von Port-au-Prince, einen jungen Mann getroffen, der mit seiner Familie anderthalb Jahre in so einem Zeltlager gelebt hat. Dann bekam er Geld von einer Hilfsorganisation, damit er den Platz mit seiner Familie verlässt. Er zog in ein Haus. Die Miete dort ist so hoch, dass er wahrscheinlich bald wieder in einem Zelt landen wird ...

Kettly Mars: Das ist nur einer von 100.000 Fällen. Die Lebenssituation der Menschen ist sehr, sehr schlecht. Man sagt, dass Haitianer sehr ruhige, gute Leute sind, vor allem angesichts dieser extrem harten Lebensbedingungen. Auch ich als Haitianerin, die ich mein ganzes Leben hier verbracht habe, frage mich manchmal "Wie machen sie das bloß? Wie kommt es, dass sie nicht auf die Straße gehen und ausrasten?" Es hat ein paar Explosionen gegeben, aber immer recht zahm, meistens erfolgten diese Proteste auch auf Initiative von Politikern, die die Leute auf die Straße riefen. Die Leute selber sind ziemlich passiv. Das mag positive Aspekte haben, aber eben auch negative.

Deutschlandradio Kultur: Madame Mars, der Wiederaufbau kann nur gelingen, wenn auch politische Missstände angepackt werden. Dies ist eigentlich nur mit einer starken Regierung möglich. Was halten Sie von Ihrem derzeitigen Präsidenten, dem Ex-Sänger Michel Martelly?

Kettly Mars: Er mag gute Absichten haben, aber er hat nicht die Fähigkeiten. Aus dem Show-Business erwächst kein Präsident. Ich kann auch nicht Präsidentin werden, nur weil ich Autorin bin, das gilt ebenso für einen Sänger. Sie leben in Deutschland, Sie wissen wie es funktioniert: Politik lernt man in der Schule, auf der Universität, Schritt für Schritt sammelt man Erfahrungen, man lernt bis man sagen kann, dass man für die Politik bereit ist. Und damit meine ich für die Politik allgemein, noch lange nicht für die Präsidentschaft eines Landes wie Haiti. Seine Wahl spiegelt vielmehr die Verzweiflung der Menschen, die für ihn abgestimmt haben. Egal, wie gering die Wahlbeteiligung war, sie haben ihn gewählt. Sie haben ihn gewählt, weil sie schon so oft enttäuscht worden sind von Leuten die eigentlich hätten wissen müssen, wie es läuft, die Erfahrung hatten, die aus der bürgerlichen Gesellschaft kamen. Und nun sagen sie, na gut, dann versuchen wir es jetzt eben mal mit irgendeinem dahergelaufenen Motherfucker, vielleicht tut der ja was für uns.

Deutschlandradio Kultur: Ist das nicht exakt die Lücke, in die eine starke Zivilgesellschaft springen müsste?

Kettly Mars: Ja, das sehe ich auch so. Und genau das ist das Problem. Weil wir die Politik über eine so lange Zeit mit Blut und Mord und allem Schlechten in Zusammenhang brachten, haben wir das Feld denjenigen überlassen, denen das entweder egal war, oder die einfach nicht kompetent waren. Wir sagen oft, dass die bürgerliche Gesellschaft zum Tragen kommen sollte, weil wir eben nichts mit der Politik zu tun haben wollen. Natürlich muss nicht jeder in die Politik gehen, aber die Situation schreit nach mehr Engagement seitens der Zivilgesellschaft. Es ist wichtig, dass man die Leute, die das Land führen, überwacht, ihnen sagt, wenn etwas nicht stimmt, wenn sie aufpassen müssen, sagt, was nicht akzeptabel ist und Vorschläge macht. Das ist es, was wir in Haiti jetzt unbedingt brauchen - eine starke Bürgerkoalition, die sich auf die Zukunft vorbereitet.

Dabei geht es nicht um das nächste Jahr, oder die nächsten zehn Jahre, sondern um eine Generation von Menschen - aber man muss jetzt anfangen. Ich denke, das hat schon begonnen, es gibt bereits kleinere Gruppen von Leuten, die sich immer bewusster darüber werden, was auf dem Spiel steht, die verstehen, dass sie selber mit Hand anlegen müssen, wenn etwas funktionieren soll. Das bemerkt man auch in der haitianischen Diaspora - mehr als 70 Prozent der Haitianer mit Universitäts-Abschluss befinden sich außerhalb Haitis. Diese Leute stellen eine wichtige Kraft für uns dar. Wenn wir es schaffen, zusammen zu arbeiten, liegt das Problem bei uns, nicht bei Haiti oder der internationalen Gemeinschaft sondern bei uns selbst.

Deutschlandradio Kultur: ... und nach jeder neuen Katastrophe verlassen wieder Intellektuelle das Land, Haiti blutet förmlich aus. Warum bleiben Sie?

Kettly Mars: Nun ja, manche von uns bleiben hier. Wir stellen das nicht in Frage. Ich habe vier Brüder, wir waren fünf, einer ist leider gestorben, er war Minister unter der Preval-Regierung, kein Politiker sondern ein Technologe, ein Mathematiker mit einem Mastertitel in Finanzwesen. Er und ich haben beide entschieden zu bleiben, bzw. wir sind einfach geblieben, wir empfanden es nicht wirklich als Entscheidung. Wenn ich jetzt zurückblicke, würde ich sagen, ja, ich habe mich entschieden zu bleiben. Aber es war so selbstverständlich für mich, das zu tun, wie es für meine Brüder war nach Afrika oder in die USA zu gehen. Das ist in allen haitianischen Familien so - einige bleiben, andere gehen.

Deutschlandradio Kultur: Die letzten Jahre der Herrschaft des Armenpriesters Aristide waren besonders traumatisch für die Mitglieder der Mittel- und Oberschicht in Haiti. Damals formierte sich so etwas wie eine Zivilgesellschaft. Was ist aus dieser Bewegung geworden?

Kettly Mars: Auf diese Frage habe ich keine Antwort. Das war ein großer politischer Impuls, als all diese Organisationen zusammen kamen und den "Contrat Social", also einen Vertrag, beschlossen, der Regeln für alle gesellschaftlichen Bereiche festlegte. Das war ein interessanter historischer Moment, und wir erhofften uns mehr davon. Aber nach dem Ende von Aristides Regierung verlief das im Sande, keiner wusste, was genau geschah, was aus den Köpfen der Bewegung geworden war. Das war schon eine gewisse Enttäuschung für mich und viele andere. Es gab das Ziel, Aristide abzusetzen und uns wieder ans Werk zu machen.

Das war eine sehr intensive, schwierige Zeit, einige Monate voller Demonstrationen, Steinewerfer, Aufrufe im Radio, sich an den Protesten zu beteiligen, fast täglich über viele Wochen. Und plötzlich hört man nichts mehr davon. Das ist auch eine Gelegenheit für uns, über uns selbst als Zivilgesellschaft nachzudenken. Mein Eindruck ist, dass innerhalb dieser Gruppe viele unterschiedliche Agenden und Interessen existierten, und wer sein eigenes Ziel erreicht hatte, hörte auf sich zu engagieren. Am Ende stehen wieder die jungen Leute, die Studenten, das Volk mit leeren Händen da.

Deutschlandradio Kultur: Madame Mars, machen wir einen Sprung zurück in die Duvalier-Diktatur, in die 60er-Jahre. Dort spielt Ihr letzter Roman mit dem Titel "Wilde Zeiten". Sie waren damals noch ein Kind. Wie ist es Ihnen gelungen, die Atmosphäre jener Zeit einzufangen?

Kettly Mars: Das Gefühl dieser Zeit trug ich dagegen schon immer in mir. Das ist eine sehr lebendige Erinnerung, ohne jede Worte. Schon als Kind wusste ich, "da passiert etwas" aber ich verstand nicht genau, was es war, denn es war die Zeit des Schweigens. Die Erwachsenen sprachen vor den Kindern nicht darüber, damit diese nicht vor den falschen Leuten davon erzählen konnten. Sie schützten uns immer, aber wir wussten schon instinktiv, dass wir über bestimmte Dinge nicht sprechen sollten. Wenn man zum Beispiel in der Schule seinen Freund nicht antrifft, weil seine Familie ermordet wurde, dann weiß man das zwar, aber man spricht nicht darüber.

Dieses Gefühl kann man nur schwer erklären. Als Jean-Claude Duvalier das Land verließ, war ich schon 28 und hatte bereits selber mein erstes Kind. Mein ganzes Leben wurde durch diese Zeit geprägt, förmlich davon durchtränkt. So war es auch nicht schwierig für mich, dieses Gefühl der stummen Unterdrückung, unter dem wir ja immer gelebt hatten, wiederzugeben.

Deutschlandradio Kultur: Um ihrem inhaftierten Mann zu helfen, lässt sich die Protagonistin in Ihrem Buch auf eine Affäre mit einem Staatssekretär ein - auf ein Arrangement mit der Macht. Irgendwann empfindet sie dabei sogar eine gewisse Befriedigung ...

Kettly Mars: Wenn man unter Bedingungen lebt, unter denen man nicht Herr des eigenen Willens ist, geht man gezwungenermaßen Kompromisse ein. Diejenigen, die gewaltsam rebellieren, werden umgebracht. Es geht also darum, sich mit dem Teufel auseinanderzusetzen, sich mit ihm anzufreunden, wenn man denn ein gutes Leben haben möchte. Und das suchen wir ja alle, wir wollen gut und ausreichend essen, unsere Kinder zur Schule schicken - das sind legitime Bedürfnisse. Es dauert also nicht lange, bis man sich auf diese Situation einstellt und Maßnahmen trifft, die das Überleben ermöglichen. Genau das wollte ich zeigen, wie man unter solchen Umständen überlebt. Wenn man nicht in der Haut dieser Person steckt, sollte man auch kein rasches ein Urteil über ihr Leben fällen.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben eben beschrieben, wie sie als Kind dieses Klima der Unterdrückung erlebt haben. War das Schreiben darüber auch ein Versuch, sich von diesem Trauma zu befreien?

Kettly Mars: In gewisser Weise schon. All das in Worte zu fassen, war eine Form, sich damit auseinanderzusetzen. Das ist auch heute noch ein sehr empfindliches Thema, besonders jetzt, wo Duvalier wieder in Haiti lebt. Manche Leute fanden es merkwürdig, dass ich dieses Buch geschrieben habe, da sie mich während der Diktatur für privilegiert hielten, wahrscheinlich weil mein Vater für die Regierung arbeitete, er war Bauingenieur, und weil keiner aus meiner Familie Opfer des Regimes war, keiner war im Gefängnis, niemand wurde gefoltert. Also dachten sie, ich sollte dazu schweigen - warum über etwas sprechen, dass mich ihrer Ansicht nach nicht betraf. Ich finde das ziemlich seltsam, selbst wenn mein Vater ein Macoute gewesen wäre, oder eine wichtige Person, die sehr schlimme Dinge getan hätte, würde ich mich berechtigt fühlen, darüber zu schreiben und zu sagen, was ich fühle. Gefühle, die sehr viele Leute wiedererkennen werden. Aber das ist immer noch ein sehr sensibles Thema in Haiti, auch heute.

Deutschlandradio Kultur: Mit dem Namen Duvalier lebt es sich offenbar wieder ganz ungeniert in Haiti. 18 Strafverfahren gegen den Ex-Diktator wurden abgeschmettert. "Baby Doc" ist zurück aus seinem Exil. Ist das nicht ein Schlag ins Gesicht der Opfer und ihrer Angehörigen?

Kettly Mars: Ja, für manche Leute ist das ein Schlag ins Gesicht. Aber sie sind heutzutage nur eine Minderheit innerhalb der Bevölkerung. Wir reden ja über die 50er- und 60er-Jahre, und diese Generation ist schon alt. Wir haben hier eine sehr junge Bevölkerung - 50 Prozent der Haitianer sind jünger als 25. Das ist eine neue Generation, die nie etwas mit Duvalier zu tun hatte, sie verstehen auch nicht, wenn man darüber spricht. Sie hören zwar zu, aber es weckt keinerlei Erinnerungen oder Assoziationen. Außerdem werden sie manipuliert - es gibt Leute, die ihnen erzählen, dass früher unter Duvalier das Leben besser gewesen sei. Man sei abends ausgegangen, man habe überall getanzt, alles war billiger.

Das ist schon ziemlich übel, wenn zum Beispiel gesagt wird, zu Zeiten Duvaliers habe ein Sack Reis 20 Dollar gekostet und heute kostet er 200, "wenn Duvalier da wäre, würde er auch heute nur 20 kosten" ... das ist die Art von Information, die man ihnen eintrichtert. Das führt dann dazu, dass Leute sagen, "früher war es besser, wenn es wieder so wird wie damals, geht es uns vielleicht besser". Manche Leute sagen tatsächlich, dass unser nächster Präsident vielleicht Jean-Claude Duvalier sein wird.

Deutschlandradio Kultur: Lassen Sie uns abschließend einen Blick in die Zukunft werfen. Sagen wir ins Jahr 2025. Wie wird es Haiti da gehen?

Kettly Mars: Wenn die Dezentralisierung stattfindet, die ländlichen Bereiche sich mitsamt der Landwirtschaft entwickeln und den Menschen wieder Arbeit geboten wird, so dass sie zurück können, an die Orte aus denen sie stammen, dann wird das Land funktionieren, dann geht es in die richtige Richtung. Und 2025, ja, da bin ich mir sicher, wird sich unsere Situation deutlich verbessert haben.

Aber es wird mir immer klarer, dass wir selbst aktiv werden müssen, wir müssen irgendwie helfen, denn es ist an uns, etwas für das Land zu tun, das wir unseren Kindern und Enkelkindern hinterlassen werden.

Deutschlandradio Kultur: Madame Mars, vielen Dank für das Gespräch!


Mehr Informationen zu Kettly Mars und ihrem Verlag bei dradio.de:

litradukt Literatureditionen Manuela Zeilinger
Die Reste der beim Erdbeben zerstörten Kathedrale von Port-au-Prince.
Die Reste der beim Erdbeben zerstörten Kathedrale von Port-au-Prince© Deutschlandradio - Eberhard Schade
Eine Dauerprovisorien? Eine Zeltstadt in Port-au-Prince.
Dauerprovisorium? Eine Zeltstadt in Port-au-Prince.© picture alliance / dpa / Orlando Barria
Mehr zum Thema