Die Sehnsucht nach ungeteilter Aufmerksamkeit

Von Julia Friedrichs · 09.09.2012
Die Psychologin Sherry Turkle hat mit Jugendlichen über das Mediennutzungsverhalten ihrer Eltern gesprochen und herausgefunden, wie viel junge Menschen darunter leiden, oft nur die zweite Geige zu spielen.
Beginnen wir mit Audrey, Lon und Nick, drei Teenagern aus den USA. Wenn Audreys Mutter das Mädchen von der Schule oder vom Sport abholt, ist es immer dasselbe: Audrey kommt erschöpft auf den Geländewagen zugelaufen. Ihre Mutter schaut meist nicht einmal auf. Sie liest Mails und SMS. Audrey sagt:

"Das Smartphone drängt sich zwischen uns, aber es ist hoffnungslos. Sie wird nicht damit aufhören. Dann sitze ich im Auto und warte schweigend, bis sie fertig ist."

Lon ist 18. Seit er denken kann, nimmt sein Vater Laptop und Blackberry mit in den Urlaub. Vor kurzem zwang der Vater alle, das Familienwochenende auf dem Land abzubrechen, weil es in dem entlegenen Hotel kein Internet gab. Und Nick, 17, weiß, dass er den Kampf gegen die SMS, die seine Eltern permanent beim Abendessen versenden, nicht gewinnen wird.

"Ich habe mich daran gewöhnt. Mein Vater sagt, es sei besser, als wenn er deshalb ins Büro fahren müsste."

Audrey, Lon, Nick sind drei von hunderten Zeugen. Die Psychologin Sherry Turkle, Professorin am berühmten Massachusetts Institute of Technology, dem MIT, hat sie und viele, viele andere über Jahrzehnte befragt. Diese Gespräche sind das feste Fundament, auf dem sie ihr Buch errichtet hat: "Verloren unter 100 Freunden. Wie wir in der digitalen Welt seelisch verkümmern". Turkle schreibt:

"Es ist gang und gäbe, Kinder zwischen acht und 18 von der Frustration reden zu hören, die sie befällt, wenn sie die Aufmerksamkeit ihrer schwer beschäftigten Eltern zu erlangen versuchen. Eltern sagen, sie schämten sich für dieses Verhalten, finden dann aber schnell Erklärungen oder Rechtfertigungen. Sie beklagen sich darüber, dass ihre Arbeitgeber von ihnen erwarten, ständig online zu sein, aber dann geben sie zu, dass ihre Begeisterung für ihre Kommunikationsgeräte weit über alle beruflichen Erwartungen hinausgeht."

Turkle arbeitet seit 30 Jahren als Psychologin und Professorin am MIT. Sie sah, wie die Computer und Roboter, die ihre Kollegen entwickelten, immer leistungsfähiger, immer klüger, immer menschenähnlicher wurden. Erst staunte sie, war angetan, manchmal begeistert, schließlich aber begann sie zu zweifeln. Fragen zu stellen:

"Wie verändert der Computer uns als Menschen? Meine Kollegen widersprachen mir oft und beharrten darauf, dass ein Computer doch "nur ein Werkzeug" sei. Ich aber war mir sicher, dass das Wörtchen "nur" trügerisch war. Winston Churchill hat gesagt: "Wir bauen unsere Häuser und dann formen sie uns." Wir erschaffen unsere Technologien, und dann formen sie uns. Deshalb müssen wir uns bei jeder neuen Technologie die Frage stellen: Dient sie unseren menschlichen Zielen?"

Und so zog Turkle los. Sie ging in die Highschool, wo ihr Schüler wie Audrey, Lon und Nick von ihrer Sehnsucht erzählten: nach ungeteilter Aufmerksamkeit, nach einem echten Brief, einem richtigen Telefonat. Nicht nur unter Jugendlichen ein seltener Luxus, wie Turkle herausfand:

"Teenager telefonieren nicht mehr gern. Und, was vielleicht noch mehr überrascht, Erwachsene auch nicht. Sie schützen Überlastung und Zeitmangel vor; immer erreichbar, die Zeit durch Multitasking völlig ausgefüllt, vermeiden sie die direkte sprachliche Kommunikation, die über einen kleinen Personenkreis hinausgeht, weil sie ihre ganze Aufmerksamkeit verlangt."

Sherry Turkles Buch teilt sich in zwei gleichwertige Kapitel. Während sich der eine Teil über unser Leben im Netz sofort erschließt, weil Turkle darin bekannten Alltag analysiert, wirkt der zweite Teil im ersten Moment fern und fremd. Hier erzählt Turkle von ihren Interviews mit Menschen, die ein inniges Verhältnis zu Robotern haben. Da ist der schwer kranke Tucker, der den Roboterhund AIBO liebt, weil der repariert werden kann und nie sterben wird. Da ist der einsame Andy im Altenheim, der ein Roboter-Baby pflegt und umsorgt und es schließlich Edith nennt. So hieß seine Exfrau. Und da ist Miriam, die sich mit ihrem Sohn zerstritten hat und die erst wieder lächelt, seit sie die kleine Roboter-Robbe Paro auf dem Schoß hat.

Vor allem die Einsamen und Enttäuschten seien bereit, sich auf derart tiefe Beziehungen mit Robotern einzulassen, schreibt Turkle. Viel intensiver als zu Puppen, denn Roboter wirken auch auf Erwachsene "irgendwie lebendig". Manche würden die künstlichen sogar den echten Gefährten vorziehen. Mit diesem Gedanken gelingt es Sherry Turkle, ihre beiden Buchteile schlüssig zu einer Gesamtthese zusammenzubinden.

"Es ist wichtig, sich klarzumachen, dass wir Roboter aufwerten, indem wir sie als lebendig genug für uns betrachten. Wenn wir uns hingegen im Netz gerade noch lebendig genug fühlen, um als Beschleunigungsmaschinen für E-Mails und Kurznachrichten zu fungieren, werten wir uns selbst ab. Das ist eine beängstigende Spiegelung. Die Technologie ist verführerisch, wenn das, was sie anbietet auf unsere menschlichen Schwachstellen trifft. Und wie wir wissen, haben wir viele Schwachstellen. Wir sind einsam, aber wir fürchten uns vor Nähe. Computergestützte Verbindungen und soziale Roboter suggerieren uns, unter Freunden zu sein, ohne die Anforderungen einer Freundschaft erfüllen zu müssen."

Turkles Thesen klingen zu Beginn banal: Technologie verändert uns. Das Netz verändert uns. Na klar, denkt man, längst bekannt, tausendfach diskutiert. Aber durch die zahlreichen Interviews, die genaue Kenntnis der Forschung und auch durch ihre Nähe zu den Nerds am MIT gelingt es Turkle, ihre Behauptungen mit sehr viel Leben zu füllen. Ihr Buch ist genau und klug, es macht traurig und wütend, manchmal scheint es zu skeptisch. Aber technikfeindlich ist Turkle nie. Sie fragt lediglich: Was ist wirklich wichtig?

"Als ich vor kurzem einen Gedenkgottesdienst für eine enge Freundin besuchte, stand im Programmheft, das an alle Gäste verteilt wurde, wer die Reden halten und wer welche Musik spielen würde. Viele der Anwesenden um mich herum benutzten das Programm, um ihre Handys zu verbergen, mit denen sie während des Gottesdienstes Kurznachrichten verschicken. Später sprach ich mit einigen engen Freunden über meine Beobachtungen. Die meisten zuckten nur mit den Schultern. Einer fragte: Und, was willst Du dagegen tun?"

Turkle schrieb ein Buch. "Verloren unter 100 Freunden" - das sind 500 bedruckte Seiten. Das bedeutet netto zwei Tage offline. Keine SMS. Keine Postings. Keine Instant Messages. Für viele von uns ist das ein hoher Preis. Aber es lohnt sich, ihn zu zahlen und Turkles Buch zu lesen.

Sherry Turkle: Verloren unter 100 Freunden
Riemann Verlag
ISBN: 978-3570501382
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