Die schlaflose Gesellschaft

Warum wir keine Ruhe mehr finden

Schlaflos - das Photo zeigt zwei erleuchtete Fenster bei Nacht.
Schlaflos - erleuchtete Fenster bei Nacht © dpa
Von Ulrike Köppchen · 02.02.2015
Fast die Hälfte der Deutschen leidet unter Schlafstörungen. Die Ursache liegt in einer Gesellschaft, die rund um die Uhr Kommunikation und Konsum verlangt. Doch Forscher wissen, wie sich der Schlaf retten lässt.
Hannah Ahlheim: "Es gibt Schlafforscher, zum Beispiel Alexander Borbely aus der Schweiz, der sagt, man kann jetzt schon Menschen drei bis vier Tage wach halten am Stück und funktionsfähig wach halten, wenn einem egal ist, wie es ihnen danach geht."
Peter Spork: "Amseln kommen nachts überhaupt nicht mehr zur Ruhe in unseren Großstädten, und das hat vor allem mit dieser Lichtverschmutzung, mit dem ganzen Licht von Leuchtreklamen, von Straßenlaternen und so weiter zu tun."
Susanne Schuster: "Ich hab das als Ausrede empfunden, wenn man sagte: in dieser Gesellschaft ist ja kein Wunder, dass man da nicht schlafen kann, ich hatte immer das Gefühl, wenn man das psychische Rüstzeug hat, dann kommt man mit dieser Gesellschaft ganz gut klar. Nur haben das viele Leute nicht. Viele Kinder schlafen ja schlecht und nachts wandern sie durchs Haus und gehen zu ihren Eltern und machen die wach, und so ein Kind war ich auch. Mit dem Unterschied, dass es bei den normalen Kindern sich irgendwann mal so ein bisschen einpendelt, und das hat es bei mir eigentlich nie getan. Ich hatte immer Nächte, in denen ich gar nicht erst einschlafen konnte oder aber nachts um vier wach wurde. Wenn man älter wird, weckt man natürlich nicht mehr die Mama auf, aber dann liegt man da so ein bisschen verzweifelt in seinem Bett rum, und das hab ich in sehr unangenehmer Erinnerung."
Susanne Schuster, 45 Jahre alt und Sozialwissenschaftlerin. Seit ihrer Kindheit hat sie mit schweren Schlafproblemen zu kämpfen.
"Eigentlich bin ich immer ganz wohlgemut ins Bett gegangen, weil ich war ja hundemüde und dachte, also heute schläfst du auf jeden Fall, weil du bist ja so müde. Und dann liegt man da eine Weile und denkt, na ja, wird schon noch, wird schon noch. Und dann guckt man ab und zu mal auf die Uhr und dann ist es schon wieder eins. Und dann ist es halb zwei. Und dann ist es zwei. Meistens stehe ich dann noch mal auf oder lese noch mal was oder so, damit ich mich nicht verrückt mache - oder habe es früher gemacht - und leg mich dann wieder hin. Und dann ist es halb drei und dann fing ich an, Panik zu bekommen."
Jeder Zweite leidet gelegentlich unter Schlafstörungen
Schlafstörungen sind regelrecht zur Volkskrankheit geworden. Fast jeder Zweite hat Umfragen zufolge zumindest gelegentlich Probleme mit dem Ein- oder Durchschlafen. Besonders betroffen sind Frauen und ältere Menschen.
"Die Hälfte unserer Patienten kommt mit solchen Schlaflosigkeitsproblemen, die andere Hälfte über das Schnarchen, die Atemstillstände oder das Zucken der Beine, aber etwa die Hälfte der Patienten kommt mit Problemen der Schlaflosigkeit."
Thomas Penzel, wissenschaftlicher Leiter des Schlafmedizinischen Zentrums der Berliner Charité.
"Wenn also jemand zu uns kommt und sagt, er kann nicht schlafen, dann sagen wir zuerst, er soll ein Schlaftagebuch führen, und in dem Schlaftagebuch versuchen wir herauszufinden, ob das Problem des Einschlafens nur einmal oder zweimal pro Woche oder selten im Monat stattfindet. Und dann schicken wir ihn nach Hause und sagen, das ist normal."
Trotz aller Klagen über Schlafprobleme und der vielen Hilfe suchenden Patienten glaubt Thomas Penzel aber nicht, dass die Menschen heute schlechter schlafen als früher:
"Es haben sicherlich einige Schlafstörungen zugenommen, durch die ganzen Erkrankungen unserer westlichen Gesellschaft, Übergewicht und anderes. Aber im Wesentlichen, denke ich, haben viele Schlafstörungen gar nicht zugenommen. Also besonders die Schlafstörungen des Durchschlafens haben nicht zugenommen, sondern sind ein Phänomen der erhöhten Aufmerksamkeit."
Dass viele Menschen heutzutage so sensibel auf Ein- oder Durchschlafschwierigkeiten reagieren, zeigt vor allem, wie sich die Erwartungen an Schlaf verändert haben: Für viele ist er keine Zeit zum Genießen. Sondern er soll vor allem eins sein: effizient.
"Wenn man da sieht, was aus anderen Kulturen berichtet wird, sieht man, dass es oft normal war, dass man zu Bett ging, noch geredet hat und vielleicht noch Zeit vor dem Einschlafen verbracht hat und das nicht als Einschlafstörung oder Insomnie klassifiziert hat. Wir denken, wir gehen ins Bett, knipsen das Licht aus und schlafen sofort ein. Das muss nicht immer so sein."
Peter Spork: "Die aktuellsten Zahlen sprechen davon, dass wir an Werktagen sieben Stunden und eine Minute schlafen jede Nacht, im Durchschnitt. Und das ist definitiv zu wenig, man geht davon aus – auch das ist schwer zu schätzen, schwer auch in Studien zu ermitteln – dass das durchschnittliche Schlafbedürfnis von Menschen um die acht Stunde liegt, in dem Bereich siebeneinhalb, acht, achteinhalb Stunden. Das heißt, wenn werktags der Durchschnitt der Bevölkerung sieben Stunden schläft, dann ist das im Schnitt eigentlich eine Stunde zu wenig, und das deckt sich auch ziemlich gut mit der Beobachtung, dass wir so ungefähr eine Stunde weniger schlafen jede Nacht als vor 30, 40 Jahren."

Eine junge Beschäftigte schläft am Arbeitsplatz ein.
Ein Zehn-Minuten-Nap zur Tageszeit - in Japan ist das ganz normal.© dpa / picture alliance / Rene Fluger
Der Neurobiologe und Wissenschaftsjournalist Peter Spork, Autor zahlreicher Bücher zum Thema Schlaf. Das Problem mit dem Schlaf betrifft nicht nur die Schlafgestörten, auch der Rest schläft zu wenig. Wir sind eine chronisch unausgeschlafene Gesellschaft, sagt Spork.
"Was die Nachtschlafdauer angeht, sind wir noch im Mittelfeld. Die Amerikaner und die Japaner schlafen noch deutlich weniger nachts. Aber zumindest die Japaner haben dafür eine Art Nickerchenkultur entwickelt, die schlafen ganz viel tagsüber immer mal so für Zehn-Minuten-Naps, teilweise so drei-, vier-, fünfmal am Tag. Und dort gilt auch jemand als ganz besonders fleißig, der tagsüber immer mal ein Nickerchen macht, während bei uns das ja immer noch als Zeichen von Faulheit gilt."
Fleißige Japaner halten ein kurzes Nickerchen
Schlafen ist hierzulande einfach nicht sexy – im Gegenteil: Mit wenig Schlaf auszukommen, wird oft als Beweis für besondere Leistungsfähigkeit angesehen.
"Generell ist es so, dass die Leistungsträger in unserer Gesellschaft, die Topmanager, die Politiker und auch sonst Vorbilder aller Art sehr gerne nach wie vor behaupten, sie würden sehr wenig schlafen. Also da kursieren Zahlen von vier Stunden meistens, manchmal fünf Stunden, und es kann überhaupt nicht sein, dass es tatsächlich so viele Menschen in unserer Gesellschaft gibt, die mit so wenig Schlaf auskommen. Alles unter fünf Stunden ist sowieso eigentlich pathologisch, muss man so hart sagen, fünf Stunden – so viel Schlaf, das reichen vielleicht zwei Prozent der Bevölkerung. Und wenn sie jetzt all die vielen wichtigen Menschen in unserem Land sehen, die behaupten, sie können maximal fünf Stunden schlafen, dann ist völlig klar, dass da was falsch läuft."
Zumal wir gar nicht bemerken, wie chronischer Schlafmangel unser Gehirn beeinträchtigt:
"Wir haben das Gefühl, wir können wunderbar mit dem wenigen Schlaf auskommen, auch das hat die Wissenschaft längst gezeigt, aber die Wissenschaft hat auch gezeigt, das Gehirn arbeitet permanent, von Tag zu Tag immer schlechter, wenn wir jede Nacht zu wenig schlafen."
Zitat: "Ende März 1845 borgte ich mir eine Axt und wanderte hinab in den Wald zum Waldenteich, in dessen unmittelbare Nähe ich mein Haus bauen wollte. Ich fällte zunächst einige hohe, pfeilartige noch junge Weißtannen, um Bauholz zu gewinnen. Anzufangen, ohne zu borgen, ist schwer. Und doch ist dies vielleicht noch der anständigste Weg, da man hierdurch seinen Mitmenschen erlaubt, sich für das Unternehmen eines anderen zu interessieren."
Henry David Thoreau, amerikanischer Dichter, Schriftsteller und Philosoph – und, wie sein Biograf vermutet, ein Schlafgestörter, der an Narkolepsie litt, an häufigen Schlafattacken während des Tages und Durchschlafproblemen in der Nacht. Im Sommer 1845 zieht er sich für zwei Jahre in eine Blockhütte in den Wäldern von Massachusetts zurück. Die Erlebnisse dieser Zeit schildert er einige Jahre später in seinem Buch "Walden oder Leben in den Wäldern". Die Historikerin Hannah Ahlheim:
"Der Protagonist wohnt in einer Hütte, in einer einfachen mit drei Stühlen und auch einem Bett und lebt in der Natur. Und das ist natürlich eine Vorstellung von Ausbrechen, von Aussteigen. Aussteigen aus der Entwicklung, die stattfindet in der Gesellschaft, Industrialisierung. Bei Thoreau ist es die Eisenbahn, die steht für die neue Zeit, eine Zeit, die von Maschinen geprägt ist, also das stampfende - er nennt das, glaube ich, das Stahlross, was durch die Landschaft fliegt. Und dieses Stahlross bringt auch eine neue Vorstellung von Zeit mit sich. Also man hat plötzlich Fahrpläne, man muss Zeit abstimmen, all diese Entwicklungen, denen versucht der Protagonist in 'Walden' eben zu entfliehen."
Zitat: "Eine Eisenbahn um den ganzen Erdball zu bauen, die für jedermann zur Benutzung frei wäre, hieße die gesamte Oberfläche unseres Planeten planieren. Die Menschen ahnen dunkel, dass, wenn sie eifrig und lange genug Aktiengesellschaften und Schaufeln gebrauchen, schließlich jedermann in fast gar keiner Zeit und umsonst irgendwo hin fahren kann. Und wenn auch die Menge zum Bahnhof eilt, wenn auch der Schaffner 'Einsteigen' ruft, so wird doch, nachdem der Rauch sich verzogen hat und der Dampf verweht ist, sich zeigen, dass nur wenige fahren, die übrigen dagegen überfahren werden."
Thoreau lebt in einer Epoche rasanter Veränderungen. So sorgt zum Beispiel das neue Eisenbahnnetz nicht nur dafür, dass Entfernungen rascher überbrückt werden können als bisher. Es führt auch ein rigides Zeitregiment ein.
Hannah Ahlheim: "Die Eisenbahn erfordert eine neue Zeitordnung, eine genauere Zeittaktung und fällt eben deswegen auch in die Zeit, in der zum Beispiel die sogenannte Normalzeit eingeführt wird, in der überall auf der Welt Uhren aufgestellt werden, die Zeit vereinheitlichen und aber auch Zeit erst auf eine andere Art und Weise in den Alltag von Menschen bringen. Das heißt, diese alte Vorstellung, man steht eben dann auf, wenn der Hahn kräht und geht dann mit den Hühnern wieder schlafen, funktioniert in dem Moment nicht mehr, in dem man eine Uhr hat, die einem sagen könnte, Arbeitsbeginn ist um acht und sobald es 22 Uhr ist, solltet ihr ins Bett gehen."
Geweckt von der Fabriksirene
Statt der Hähne wecken jetzt Fabriksirenen die Menschen und rufen sie zur Arbeit. Der Schlaf wird eingepasst in wirtschaftliche und gesellschaftliche Vorgaben. Dieser Entwicklung entzieht sich Thoreau, der den Errungenschaften der Moderne sehr kritisch gegenübersteht. Manches von dem, was er Mitte des 19. Jahrhunderts schrieb, klingt sehr vertraut.
Zitat: "Wir haben es sehr eilig, eine telegrafische Verbindung zwischen Maine und Texas einzurichten. Aber Maine und Texas haben sich eventuell gar nichts Wichtiges mitzuteilen. Kaum hat ein Mensch ein halbstündiges Mittagsschläfchen gehalten, da hebt er schon beim Erwachen den Kopf hoch und fragt: 'Was gibt’s Neues?' Als ob die übrige Menschheit inzwischen für ihn 'auf Posten' gestanden hätte! Andre lassen sich zweifellos aus keinem anderen Grunde jede halbe Stunde wecken."
Hannah Ahlheim: "Es gibt immer wieder Phasen, in denen diese Debatten um den Schlaf aufbrechen in der Geschichte und es sind eben Phasen, in denen sich ökonomisch was ändert, sozial was ändert und in denen sich vielleicht auch Weltvorstellungen verändern. Und genau in diesen Zeiten, würde ich sagen, brechen Debatten um Schlaf auf, eben weil es so was Existenzielles ist und weil der Mensch im Schlaf so verletzlich ist. Also nie ist man so angreifbar, sowohl für die eigene Psyche, es kommen Träume hoch, Ängste, Aggressionen, Wünsche, als auch von außen einfach, man ist wehrlos und ich würde denken, dass sich eben an dieser Situation manifestiert oder dass diese Angst aufbricht, weil sich Dinge verändern, die man vielleicht auch schwer einschätzen kann."
Auch heute beschäftigen wir uns geradezu zwanghaft mit dem Schlaf. Die Angst vor Schlafstörungen und "schlechtem Schlaf" ist allgegenwärtig und hat eine boomende Schlafindustrie hervorgebracht, die uns mithilfe von teuren Matratzen, Kopfkissen, speziellen Weckern und sogenannten Sleep-Apps, die angeblich den perfekten Zeitpunkt fürs Aufwachen bestimmen, zum guten Schlaf verhelfen will. Hinzu kommt eine wahre Flut von Schlafratgebern, Fernsehsendungen, Sonderbeilagen in Zeitungen und Zeitschriften, die uns das richtige Schlafen lehren wollen. Unter der Masse an Schlafbüchern sticht jedoch eines hervor - denn es enthält keinen einen einzigen Schlaftipp.
"Ich rede über den Schlaf unter anderem als Beispiel für eine mögliche Schranke für eine erbarmungslose Ökonomisierung des sozialen Raums."
Jonathan Crary, Professor für Moderne Kunst und Theorie an der New Yorker Columbia Universität, in einem Interview mit dem amerikanischen Sender Bookcase TV. Es geht um ein Buch, das Crary vor kurzem veröffentlicht hat: "24/7. Schlaflos im Spätkapitalismus." Darin vertritt er die These, dass der Schlaf gewissermaßen die letzte Bastion gegen einen gefräßigen Kapitalismus ist, der den Menschen am liebsten rund um die Uhr in seine Verwertungsmaschinerie einspannen will. 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche soll der Mensch kaufen, konsumieren, arbeiten. Aber wer schläft, konsumiert nicht und produziert auch keinen Mehrwert.
Hannah Ahlheim: "Es gibt interessanterweise schon Mitte des 19. Jahrhunderts den Begriff, dass der Schlaf die Maximalschranke des Arbeitstages ist, die natürliche Maximalschranke des Arbeitstages. Das ist von Karl Marx, der eben sagt, der industrielle Arbeitstag lässt sich wunderbar einteilen in acht Stunden Arbeit, acht Stunden Schlaf, acht Stunden Freizeit, was damals noch eine Forderung für weniger Arbeit ist, also gegen einen längeren Arbeitstag. Aber jeder Mensch muss schlafen, und eine Vorstellung von Dauer-Verwertbarkeit trifft genau immer auf diese Grenze."
Die Historikerin Hannah Ahlheim. Dem Kulturtheoretiker Crary geht es allerdings weniger um Wirtschaftsfragen im engeren Sinne als um die Auswirkungen der 24-Stunden-Gesellschaft auf unsere Lebenswelt:
"Ich zitiere in dem Buch unter anderem den Google-Chef Eric Schmidt aus einer Rede, die er Ende der 90er-Jahre gehalten hat. Darin sagt er: Im 21. Jahrhundert werden diejenigen Unternehmen globalen Erfolg haben, die die größtmögliche Menge an 'eyeballs' kontrollieren. Foucault und andere haben darüber geschrieben, wie im 19. und 20. Jahrhundert Institutionen Kontrolle über Zeit und Alltagspraxis ausübten. Das geschah normalerweise während der Zeit, die man in diesen Institutionen verbrachte, ob es nun die Armee war, das Gefängnis oder die Bürokratie. Aber es gab immer noch diese Zwischenräume."
Solche Freiräume finde man heute leider nicht mehr, meint Jonathan Crary:
"Man sieht Menschen in der U-Bahn, man sieht Menschen auf den Bus warten, all das war einmal tote Zeit oder Ausfallzeit, und das meine ich nicht verächtlich, denn in einigen dieser Leerräume steckte echtes soziales Potenzial."
Crary geht es um den "Wahn einer Zeit ohne Warten", in der jede Minute genutzt werden muss. Rund um die Uhr sind wir online, verfügbar und erreichbar. Bei vielen geht morgens der erste Griff zum Smartphone, nachschauen, was es Neues gibt, und manche stehen nachts auf, um E-Mails oder ihren Facebook-Account zu checken. Längst haben wir die Nacht zum Tag gemacht, denn irgendwo ist in einer globalisierten Welt schließlich immer Tag.
In einer globalisierten Welt ist immer Tag
Hannah Ahlheim: "Das ist der Grundtenor von fast allen Studien, die erschienen sind in den USA, also die Kritik am schnellen Kapitalismus, am Spätkapitalismus, am 'fast capitalism': Die Wahrnehmung, die diese Bücher alle teilen, ist, dass sich seit dem Ende des 20. Jahrhunderts noch mal extrem viel geändert hat, vor allem durchs Internet, durch die Globalisierung, die natürlich auch wieder neue Zeitmuster oder Zeitzwänge mit sich bringt. Und deswegen teilen die, glaube ich, auch alle eine gewisse Angst davor, dass jetzt noch mal auf neue Art und Weise Schlaf bedroht wird."
Bei uns werde Schlaf bisher viel zu selten politisch gedacht, meint Hannah Ahlheim, die derzeit an einer Habilitation zur Geschichte der Schlafforschung arbeitet. In den USA dagegen hat sich längst eine sozial- und kulturwissenschaftliche Schlafforschung entwickelt, die das, was die naturwissenschaftliche Schlafforschung macht, kritisch begleitet und reflektiert:
"Es geht immer um diese Grenze. Es geht um die Frage, kann man nicht vielleicht doch ohne Schlaf auskommen? Die Fantasie wird immer wieder formuliert, es gibt zum Beispiel in den 20er-Jahren Wissenschaftler, die fragen: Können wir nicht schneller schlafen, und zwar genau mit dem Begriff schneller schlafen. Das ist ihr Ziel, das ist das Interesse, was sie haben."
Die Geschichte des Schlafs lässt sich auch als Rationalisierungsgeschichte erzählen, in der das Individuum und sein Schlaf immer besser eingepasst wurden in die gesellschaftlichen Anforderungen. So deutet zum Beispiel einiges darauf hin, dass die Menschen vor der Industrialisierung in mehreren Etappen am Tag geschlafen haben, wann es eben passte. Offenbar waren sie auch einen Teil der Nacht wach, hat ein amerikanischer Schlafhistoriker rekonstruiert:
"Das war eine Form von Dämmerzustand oder Zwischenleben oder Zwischenzeit, die die Leute erlebt haben, etwas was man im Dunkeln tut in einem relativ kleinen Radius, man geht nicht raus und geht zur Arbeit, sondern man unterhält sich eben, bleibt vielleicht auch im Bett liegen, ist aber in so einem halbwachen Zustand und seine These ist, dadurch, dass wir uns angewöhnt haben, in einer Phase zu schlafen, diese Dämmerzustände verloren gehen. Also das Träumen, das der Seele Nachspüren, den Gedanken nachspüren, dass Zeit dafür verloren geht."
Im Zeitalter der Aufklärung waren solche unproduktiven, irrationalen Zustände allerdings nicht länger akzeptabel.
"Das Joch des Schlafs, was man abwerfen möchte. Es ist die grundlegende Idee der Aufklärung: Seid wach, seid wach, kontrolliert das was ihr tut, ihr seid verantwortlich für das, was ihr tut. Und da ist natürlich der Schlaf ein Störenfried."
Seit der Aufklärung war "maßvolles" Schlafen angesagt und die Gesundheitsratgeber jener Zeit verbreiteten die Weisheit, zu viel Schlaf mache "dumm, träge und ungesund". Der modernen Schlafforschung, die im 19. Jahrhundert aufkam, ging es darum, den Schlaf so zu modellieren und zu regulieren, dass er mit den Anforderungen des Arbeitslebens im Einklang steht. Im Zuge dessen wurde dann auch der achtstündige Nachtschlaf zur Norm erklärt. Aber damit gab sich die Schlafforschung nicht zufrieden, sondern viele Anstrengungen wurden und werden auch immer noch unternommen, um herauszufinden, ob es nicht doch mit weniger oder sogar ganz ohne Schlaf geht. Thomas Penzel von der Berliner Charité:
"Wir kennen aus dem Schlaflabor, aus der Messung, die verschiedenen Komponenten des Schlafes: Wir haben Leichtschlaf und Tiefschlaf und Traumschlaf und wir wissen, dass der Traumschlaf ganz wichtig fürs Gedächtnis ist, wir wissen, dass der Tiefschlaf ganz wichtig für den Körper ist. Der Leichtschlaf nimmt aber etwa 50 Prozent der Zeit ein und wir wissen nicht genau, wofür diese Komponente des Schlafes gut ist, außer dass sie dazwischen stattfindet. Die Hoffnung war, diesen Leichtschlaf als Luxusschlaf zu bezeichnen und zu sparen. Und dadurch vielleicht die Schlafzeit auf die Hälfte zu reduzieren. Das geht aber nicht."
Inzwischen kursieren diverse Modelle, wie man Netto-Schlafenszeit einsparen kann, indem man den Schlaf auf mehrere kleine Portionen verteilt. Zum Beispiel das Modell "Uberman", benannt nach Nietzsches "Übermensch". Dabei schläft man lediglich zwei Stunden am Tag, in Form von 20-minütigen Nickerchen alle vier Stunden. Breitenwirksam ist bisher keines dieser Modelle geworden und die Erfahrungsberichte in den einschlägigen Internetforen spornen auch nicht gerade zur Nachahmung an. Wer weniger Zeit aufs Schlafen verwenden will, setzt insofern in der Regel eher auf chemische Lösungen.
Hannah Ahlheim: "Es wird auch immer wieder beschrieben diese Fantasie, ob das nicht vielleicht auch eine perfekte Welt wäre, in der wir das steuern können: Wir nehmen eine Pille dann, wenn wir schlafen müssen. Und wenn das mittags am Tag ist, weil unsere Arbeit das verlangt, dann machen wir das eben einfach am Tag. Und wir wachen dann auf und nehmen dann die Pille, wenn wir fit sein müssen für die Arbeit oder vielleicht auch für die Freizeit oder für den Konsum oder für die Familie. Also diese Vorstellung von einem steuerbaren Schlaf-Wach-Rhythmus durch Medikamente, die ist, glaube ich, schon da. Eine der großen Schlafkrankheiten ist die Verschiebung des Biorhythmus, die beispielsweise durch Schichtarbeit entsteht. Die wird inzwischen auch behandelt durch Medikamente, weil man versucht, das aufzuheben, einzupassen in den Rhythmus, den die Gesellschaft eben von einem fordert."
Zahlreiche Pillen und Tabletten liegen auf einem Tisch und auf einem Löffel.
In manchen Fällen helfen nur noch Medikamente.© dpa / Daniel Reinhardt
Auch Susanne Schuster hat ihre schwere Schlafstörung nach mehreren Therapien schließlich mit Medikamenten in den Griff gekriegt:
"Als ich angefangen habe, Tabletten zu nehmen, hat sich eine große Ruhe eingestellt, nicht nur wegen der Tabletten, sondern weil Meditation, autogenes Training, Schlafhygiene, was man ja als erstes vom Arzt erzählt kriegt, also abends nicht mehr dies machen und nicht mehr das machen und nur noch das trinken und kein Alkohol und kein das nicht und das nicht - und wenn du dann nicht schlafen kannst, bist du irgendwie selber schuld. Weil du hast nicht genug meditiert, du hast deine Schlafhygiene eventuell vernachlässigt - das ist ein Disziplinierungsprogramm in sich selbst, und das nicht mehr zu haben, also nicht mehr so ich muss noch mehr meditieren, damit ich irgendwann schlafen kann, ich muss dies machen und das machen und jenes machen, dass das irgendwann weg war, das war so eine Erleichterung."
Inzwischen scheint es manchen zu dämmern, dass einiges schief läuft in der Art, wie wir mit dem Schlaf umgehen und es mehren sich Stimmen, die Veränderungen fordern. Auch der Neurobiologe und Wissenschaftsjournalist Peter Spork hat sich mit seinem Buch "Wake up! Aufbruch eine ausgeschlafene Gesellschaft" in die Debatte eingeschaltet.
"Ich hab diesmal gedacht, jetzt muss dir der Wissenschaftsjournalismus ein bisschen politischer werden, ich muss versuchen, auch politische Forderungen, gesellschaftspolitische Änderungen vorzuschlagen. Wenn die Wissenschaft so eindeutige Erkenntnisse hat und jede neue Studie diese Erkenntnisse noch belegt, dann muss die Gesellschaft begreifen, dass es so weit ist, politische Veränderungen anzustoßen."
Arbeiten nach dem eigenen Biorhythmus
Einen Acht-Punkte-Plan zur Rettung des Schlafs hat Peter Spork aufgestellt: So soll zum Beispiel die Sommerzeit wieder abgeschafft werden, die Schule später beginnen, Nacht- und Schichtarbeit drastisch reduziert und überhaupt die Arbeitszeit flexibilisiert werden, sodass möglichst jeder nach seinem Biorhythmus arbeiten kann.
"Individuell würde er davon profitieren, weil es ihm einfach besser gehen würde. Und man muss so was natürlich gegenüber Arbeitgebern in der Gesellschaft durchsetzen und da ist es durchaus auch wichtig zu sehen, dass es die Gesundheitskosten, also die Ausgaben im Gesundheitssystem vermutlich senken würde. Also es hätte gesellschaftliche Vorteile und es würde für Unternehmen nützlich sein, weil die Arbeiter kreativer wären, leistungsfähiger wären, seltener krank werden würden. Das heißt, es profitieren ja letztlich alle drei Sachen davon, und man kann natürlich sagen, es ist eine Optimierungsstrategie, man kann aber auch einfach sagen, wenn es alle drei großen Bereiche der Gesellschaft positiv entwickelt, dann ist es einfach eine sinnvolle Maßnahme."
Die Gesellschaft müsse endlich begreifen, was für ein Segen der Schlaf sei. Und dass sich Menschen nun einmal hinsichtlich ihres Schlaftyps und Biorhythmus unterscheiden, sagt Peter Spork. Während die einen als "Eulen" morgens nur schwer aus dem Bett kommen, dafür aber abends topfit sind und auch gut um diese Zeit noch arbeiten könnten, sind die "Lerchen" am liebsten schon in aller Herrgottsfrühe im Büro. Also: Weg mit den Weckern und mehr im Rhythmus der inneren Uhr leben. Auf der anderen Seite aber auch: Die Zeit vernünftiger gestalten und weniger Schlaf der Freizeit opfern.
"Wir müssten lernen, vielleicht ist weniger Freizeit manchmal mehr und nicht so sehr auf die tatsächliche absolute Zeit, die wir verbringen, achten, sondern darauf, was wir qualitativ in der Zeit leisten. Wenn wir also morgens versuchen, länger auszuschlafen, keinen Wecker zu stellen, die Arbeitszeiten individualisieren, sodass die Menschen später zur Arbeit gehen können, die später wach werden. Gleichzeitig auch abends mal darauf achten, wenn wir müde werden, zu Bett zu gehen, dann schlafen wir insgesamt mehr und dann haben wir vielleicht weniger Zeit für Freizeit, aber diese Zeit, die wir dann haben, die werden wir viel, viel besser nutzen. Wir werden sie viel mehr genießen können. Das finde ich, wäre ein Versuch wert."
Die Historikerin Hannah Ahlheim sagt, wir sollten uns darüber hinaus fragen, was wir uns eigentlich damit antun, dass wir Schlafen wie einen Leistungssport betreiben: schneller, tiefer, besser.
"Ich würde sagen, erstmal bewusst machen, was eigentlich dadurch passiert, dass wir unseren Schlaf immer mehr instrumentalisieren. Das ist ein hartes Wort, aber immer mehr zur Verfügung stellen der Idee, dass wir fit sein müssen, dass wir arbeiten müssen. Also Schlafen nicht mehr als Auszeit, die man sich nimmt oder als etwas Schönes oder Eigenes, wo man träumen kann, wo man Freiräume erleben kann, sondern Schlafen als Regenerationszeit. Möglicherweise kann man ja Umdenken einfach auch in Gang setzen, indem man sagt: Denkt einfach mal drüber nach, wie ihr schlaft, warum ihr schlaft und wer eigentlich euch sagt, wie ihr schlafen sollt."
Denn noch existiert auch die andere Vorstellung vom Schlaf: die romantische und utopische und auch die widerständige. Denn wer ver-schläft, verweigert sich den Anforderungen der Gesellschaft.
"Also diese Fantasie, dass man im Schlaf rausgeht aus der Welt, was anderes erleben kann, sich auch gegen stemmt gegen die Vernunft, die ist, würde ich sagen, immer präsent. Die läuft mit. Die wird zwar mit unterschiedlichen Bildern, unterschiedlichen Fantasien gefüllt, aber diese Fantasie vom Rausgehen, vom Gegen-Schlafen, vom Dämmern, vom Träumen, vom Tagschlafen ist schon auch immer da. Also in der Literatur merkt man das, in der Kunst, es gibt auf unterschiedliche Art und Weise immer die Faszination für den Schlaf und für diesen Kontrollverlust, den man im Schlaf erlebt."
Schließlich wissen wir auch im 21. Jahrhundert immer noch nicht genau, warum wir überhaupt schlafen müssen. Und so lange das so ist, lässt sich Schlaf vermutlich auch nicht vollständig perfektionieren und kontrollieren, sondern er bleibt auch in der 24-Stunden-Gesellschaft die Zeit, die dem Einzelnen ganz allein gehört - der nicht verwertbare Rest.
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