Die Schichten von Berlin

Von Jochen Stöckmann · 18.01.2009
In den "Berliner Lektionen" sucht und untersucht Claude Lanzmann die historischen Tiefenschichten Berlins seit der Nachkriegszeit. Seinen Ruhm verdankt der 83-jährige Regisseur und Philosoph, selbst ein französischer Jude, seinem Film "Shoah" aus dem Jahr 1985. In dem über neun Stunden dauernden Opus Magnum liefern Gespräche mit Betroffenen, Zeugen und Tätern Beweise gegen das angebliche Nichtwissen von Vielen.
"1964 fand in Düsseldorf der Prozess gegen Franz Stangl, den Kommandanten des Vernichtungslagers Treblinka statt. Auf dem kurzen Weg zur Anklagebank blieb er stehen, schaute die Zeugen an: Blick und Haltung drückten nichts anderes aus als Hochmut, ja kalte Verachtung. In diesen wenigen Sekunden habe ich einen direkteren Blick in den schrecklichen Abgrund des Holocausts werfen können als es mir über alle Lektüre möglich gewesen wäre."

Mit seiner eigenen Erinnerung charakterisierte Manfred Lahnstein, Vorsitzender der ZEIT-Stiftung, die Arbeit von Claude Lanzmann, dem Redner der "Berliner Lektion".

Als Filmemacher hat es Claude Lanzmann verstanden, mit seiner Interviewcollage "Shoah" das Publikum volle neun Stunden lang dem verstörenden Blick der überlebenden Zeugen in die Abgründe des Menschheitsverbrechens auszusetzen - allein durch Bild und O-Ton, ohne vorformulierte Erklärungsmuster.

Nun aber, im Berliner Renaissance-Theater, las der französische Publizist vom Blatt, versuchte sich als Zeuge in eigener Sache: Als junger "lecteur", versehen mit einem Lehrauftrag des Französischen Kulturinstituts, arbeitete der ehemalige Résistance-Kämpfer bereits 1948 an der Berliner Freien Universität.

Seither hat Lanzmann all die einzelnen historischen "Schichten" gesehen: das Berlin der Alliierten und die Hauptstadt der DDR, die von der Blockade gelähmte Stadt ebenso wie das "Schaufenster des Westens" und dann die Entwicklungen nach dem Fall der Mauer. Daher sein etwas hochtrabender Vortragstitel "Berlin 1948 bis 2008. Geologie und Genealogie einer Hauptstadt".

Tatsächlich hebt Lanzmann, Studienkollege des Philosophen Gilles Deleuze und in Tübingen aufmerksamer Leser der Schriften von Leibniz und Hegel, kaum einmal ab in die luftigen Höhen der Theorie. Stattdessen reiht er eine Anekdote an die andere: Wie er in Tübingen mit dem später so erfolgreichen Schriftsteller Michel Tournier studiert. Wie er dort 1947 in einem elitären Club reiten lernt bei einem ehemaligen Offizier der Wehrmacht, der seine Befehle natürlich immer noch "herausbellt". Wie er dann mit einer Hedi von Neurath über die ausgedehnten Besitzungen der adligen Familie streift und mitten zwischen Feldern und Äckern ein ehemaliges KZ entdeckt. Dadurch angestoßen schaut Lanzmann auch in Berlin bereits 1948 sofort auf die Topografie des Terrors:

"Les édifices de la terreur nazie, le Reichssicherheitsamt, Auswärtiges Amt, la Gestapo."

Seine Studenten entpuppen sich als neue, gegen die Nazi-Väter opponierende Generation. Auf ihr Verlangen hin organisiert Lanzmann ein Antisemitismus-Seminar - obwohl er selbst kaum Kenntnisse hat über jüdisches Leben oder Religion. Die Essays seines Freundes Jean-Paul Sartre "Zur Judenfrage" dienen als theoretische Grundlage, ansonsten gleicht die Vorlesung eher einer vorsichtig tastenden Erkundung des Themas - alle lernen voneinander.

Später wird Lanzmann seinen Berliner Lieblingsstudenten Heinz Elfeld in Paris wiedertreffen. Die Stadt an der Seine hat den ehemaligen Soldaten der Waffen-SS in einen fröhlichen jungen Mann verwandelt - der nun denn auch eine jüdische Kommilitonin heiraten wird.

Viele solcher Szenen versteht Lanzmann mit Lust am Detail auszumalen. Als Regisseur hätte er diese "wahren Begebenheiten" vermutlich aus dem Drehbuch gestrichen. Überdies bedient sich Lanzmann in seiner "Berliner Lektion" eines literarischen Taschenspielertricks, der zuletzt seinem Kontrahenten Jonathan Littell bei dessen skandalumwitterten Holocaust-Roman zu Bestseller-Erfolgen verhalf: In die französische Rede sind deutsche Schlag- und Reizworte eingestreut. Der deutsche Chauffeur des Volkswagens, den die französische Militärverwaltung dem 23-jährigen Lehrbeauftragten zur Verfügung stellt, trägt nicht nur ein Hitlerbärtchen:

"Le chauffeur est tout le temps en garde-à-vous, claquait militairement les talons et disait: Zu Befehl, Herr Lanzmann!"

Mit klackenden Absätzen immer zu Diensten, das erinnert doch sehr an Billy Wilders Filmsatire "Eins, zwei, drei". Und wenn Claude Lanzmann bereits bei seiner ersten Landung mit einer "Fliegenden Festung" in Tempelhof daran denkt, dass auf diesem Berliner Rollfeld auch Hitler 1934 nach den Morden des sogenannten "Röhm-Putsches" zurückkehrte, dann dürfte sich Lektüre und eigenes Erinnern vermengt haben. Ebenso wie bei dem geschichtsträchtigen Gang zur Wannsee-Villa, wo die sogenannte Endlösung, der Massenmord an den Juden, beschlossen worden war.

"Les protocols de la conférence de la Wannsee stipulaient clairement 'Von Westen nach Osten durchkämmen!'"

Allerdings gibt Claude Lanzmann auch unumwunden zu, dass erst sein Freund Marc Sagnol ihn gelehrt hat, Orte zu lesen, ihre Spuren zu entschlüsseln: Etwa die Geschichte des Mordes an Rosa Luxemburg, nicht weit von dem sehr viel später erbauten, eine ganz andere Epoche symbolisierenden Bauhaus-Archiv:

"Je vais decouvert le Bauhaus-Archiv. Je vais toujours au bord de Landwehrkanal, où Rosa Luxemburg a été jetté. Der Rosa Luxemburg reichen wir die Hand. Im Januar um Mitternacht, ein Spartakist steht auf der Wacht. Er steht mit Stolz, er steht mit Recht, et cetera."

Diese Parolen, das betont Lanzmann, bewegen ihn heute noch. Und dieses Faible für linke Mythen sieht man ihm bereitwillig nach, weil eine seiner Berliner Geschichten Schwarz auf Weiß dokumentiert ist: In der Ost-"Berliner Zeitung", die 1949 als einzige Redaktion bereit war, Lanzmanns Bericht über die skandalöse Zensur und schließlich das Verbot seines Antisemitismus-Seminars an der angeblich "Freien" Universität im Westen abzudrucken.

Mit dieser Lehrveranstaltung nämlich hatte sich der junge Franzose nach Meinung der westlichen Besatzungsmächte "in die Politik eingemischt". Und das war - wir erinnern uns an Billy Wilder - "streng verboten".