Die Runderneuerung Ungarns

Rezensiert von Ursula Rütten · 05.05.2013
365 neue Gesetze gibt es in Ungarn seit der Regierungsübernahme von Viktor Orbán im Jahr 2010. Andreas Koob, Holger Marcks und Magdalena Marsovszky analysieren, wie aus ungarischem Nationalismus im Laufe der Zeit eine autoritäre Krisenbewältigung wurde.
Schamanengesang und religiöse Liturgien zum Auftakt einer Großveranstaltung im März letztes Jahr: zum gemeinsamen Gebet für das Magyarentum. In Veröce, etwa 60 Kilometer nördlich von Budapest. Ortsschilder in der altungarischen Runenschrift. Großungarische und mythologische Symbole im Alltagsgebrauch von Györ bis Debrecen. Neue Standbilder des antisemitischen Reichsverwesers und Hitler-Paktierers Miklós Horthy landesweit.

Kein bettelnder Mensch in Budapests Straßen in diesem langen harten Winter. Niemand durchwühlt mehr Müllcontainer nach dem ohnehin wenig verwertbaren Abfall oder sammelt Altholz zum Heizen, zum Überleben. Weil diese Selbsthilfe streng bestraft wird.

365 neue Gesetze seit der Regierungsübernahme von Viktor Orbán im Jahr 2010. Die Runderneuerung Ungarns beginnt längst auch sichtbar zu greifen.

So plastisch schreiben dies Andreas Koob, Holger Marcks und Magdalena Marsovszky nicht. Dafür analysieren sie, wie aus ungarischem Nationalismus im Laufe der Zeit eine autoritäre Krisenbewältigung wurde.

"Es geht in diesem Buch darum, Kontinuitäten nachzuspüren: von der Ideologie bis in die konkreten Praxen."

Und dabei beschreiben die Autoren die ungarische Gegenwart schärfer, als sie landläufig und kurzsichtig im Mainstream der Europäischen Union oder Deutschlands wahrgenommen werde:

"Es gäbe 'tausend Namen' für das unter Orbán entstehende System, erklärte bereits 2010 der Dichter Ákos Szilágyi: 'Gelenkte Demokratie, souveräne Demokratie, illiberale Demokratie, Tyrannei der Mehrheit'. Sie liefen jedoch alle auf das gleiche hinaus, nämlich auf eine autoritäre Herrschaftsform."

Was jedoch keinen Erkenntnisgewinn bringe.

"Man hört auch 'Diktatur', 'Viktatur'. Ausgeblendet wird aber, was in der Tiefe des gesellschaftlichen Raums stattfindet, etwa die Prozesse sozialer Ausgrenzung oder die Neugestaltung sozialer und wirtschaftlicher Beziehungen. Fidesz lässt lange traditionelle Leitlinien völkischer Politik durchscheinen. Heute ist Ungarn geprägt von sowohl völkischer als auch autoritärer Dynamik."

Andreas Koob: "Mit Pfeil, Kreuz und Krone"
Andreas Koob: "Mit Pfeil, Kreuz und Krone"© Unrast-Verlag
Ein Ungarn, das seine europäischen Nachbarn irritiert
Wenn aber das Land nicht von einer Viktatur beherrscht wird, vom machtbewussten Ministerpräsidenten, gestützt auf eine starke nationalchauvinistische Parteienkoalition und bedrängt durch eine schlagkräftige, rechtsextreme Opposition, wer formt dann dieses Ungarn, das seine europäischen Nachbarn so irritiert?

Magdalena Marsovszky: "In Ungarn wird niemand manipuliert. Das, was heute in Ungarn ist, das wollte man absichtlich. Das ist kein Rechtsruck gewesen, sondern ein langsamer Rechtsschub. Diese ganze Bewegung war von unten sehr wohl gewollt, und an einem Punkt kann man nicht vorbei, dass die Regierung mit absoluter Mehrheit gewählt wurde."

Die Kulturwissenschaftlerin Magdalena Marsovszky und ihre Co-Autoren belegen, wie völkisches, antisemitisches, nationalchauvinistisches Denken den Alltag bestimmt, was vor allem im Hass auf die starke Minderheit der Roma zum Vorschein käme, der nirgendwo anders derart mehrheitsfähig sei.

Magdalena Marsovszky: "Schon jetzt sind über 300.000 vor allem Roma aus dem sozialen Netz herausgefallen, weil sie keine Anstellung bekommen. Und das ist, bei den Schikanen, die vor allem die Roma erleben müssen, das ist Rassismus. Und dieser Rassismus hat sich konstituiert, er steht jetzt zum Beispiel in der Verfassung."

Rund zweieinhalbtausend Menschen demonstrierten am Ostersamstag vor der Fidesz-Zentrale nahe dem Heldenplatz in Budapest. Diesmal unbehelligt. Anlass: 25 Jahre seit Gründung dieser Partei:

""Orbán Viktor, hau ab!" "Er soll zurücktreten!" "Die Verfassung ist kein Spielzeug" "Wir sind zusammen, wir sind viele!","

skandierte die Menge.

Alte, Junge, Familien, wie ein Querschnitt durch die Bürgerschaft von Budapest. Pessimistisch hingegen muss das Fazit von Andreas Koob, Holger Marcks und Magdalena Marsovszky stimmen:

"Die ungarische Bevölkerung konnte und kann noch immer nichts mit dem individuellen Angebot der Demokratie anfangen und wählte lieber die vermeintliche 'Nestwärme', den Weg zum kollektiven Zwang.

Während sich die neue Verfassung nicht zur 'Würde des Menschen' und stattdessen zum Glauben an die Nation bekennt, steht in der Präambel des neuen Mediengesetztes explizit, dass neben den Minderheiten auch die 'Mehrheit' zu schützen sei.

In einem Land, in dem es nicht um das Individuum, sondern ausschließlich um eine ganz bestimmte kulturelle Gemeinschaft geht, wird mit solch einer Auffassung erreicht, dass die Minderheit zugunsten der Mehrheit weichen soll."


Andreas Koob, Holger Marcks und Magdalena Marsovszky: Mit Pfeil, Kreuz und Krone. Nationalismus und autoritäre Krisenbewältigung in Ungarn
Unrast-Verlag, Münster 2013
208 Seiten, 14,00 Euro
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