Die Rolle der Kirche im Sozialismus

Vom Michael Hollenbach · 28.11.2009
Ohne die evangelischen Kirche wäre es vermutlich nicht zur friedlichen Revolution im Herbst 1989 gekommen – oder sie wäre zumindest ganz anders verlaufen. Dass die Kirchen aber zum "Basislager der Oppositionsgruppen" werden konnten, hängt mit ihrer Rolle in der DDR zusammen.
Die Formel "Kirche im Sozialismus" entstand auf der Bundessynode der DDR-Kirchen 1971 in Eisenach. Damals erklärte Albrecht Schönherr, der Vorsitzende des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR:

"Wir wollen Kirche nicht neben, nicht gegen, sondern Kirche im Sozialismus sein."

"Diese Formel Kirche im Sozialismus ist ja eine Abkürzung für eine sehr ausführliche Beschreibung der Kirche in der DDR."

Heino Falcke, später Propst in Erfurt, war Anfang der 70er-Jahre Direktor des Predigerseminars Gnadau.

"Wir müssen den Ort, an dem wir leben, mit unserem Zeugnis genau ins Auge fassen. Wir müssen in diese Gesellschaft hineingehen mit unserem Zeugnis und mit unserem Dienst, wir dürfen uns nicht abtrennen lassen in eine Nische neben dem Sozialismus, und wir dürfen uns auch nicht vom Sozialismus vorschreiben lassen, was Kirche an diesem Ort zu tun hat. Wir haben Kirche in dieser sozialistischen Gesellschaft zu sein."

Der heute 80-jährige Falcke gehörte zu den kritischen Christen, die sich in die Gesellschaft einmischen wollten und zugleich offen für mehr Freiheit und einen "verbesserlichen Sozialismus" eintraten. Die Formel "Kirche im Sozialismus" war problematisch:

"So wurde diese Kurzformel von der SED als Anpassungsformel der Kirche in der sozialistischen Gesellschaft missbraucht und diese Zweideutigkeit blieb dieser Kurzformel haften."

Rainer Eppelmann, seit 1974 Pfarrer in der Berliner Samaritergemeinde und später wegen seiner Jugendgottesdienste nicht nur der SED, sondern auch der Kirchenleitung oft ein Dorn im Auge, konnte sich mit dem Begriff "Kirche im Sozialismus" gar nicht anfreunden.

"Es hat leidenschaftliche Debatten gegeben, gerade unter der jüngeren Pfarrerschaft, die wie ich der Meinung waren, als der entstand: das geht nicht. Da sagen wir 'Ja' zu einer Gesellschaft, in der wir leben, und von der wir wissen, dass viele darunter leiden."

Für Manfred Stolpe als Leiter des Sekretariats des Kirchenbundes der DDR bedeutete der Begriff "Kirche im Sozialismus" eine Erleichterung seiner Arbeit im Kontakt zu staatlichen Stellen. Denn die Formel suggerierte eine Akzeptanz der gegebenen Verhältnisse.

"Was akzeptiert wurde, ist die Annahme der Situation: wir warten nicht ab, bis es besser wird, sondern wir stellen uns mitten hinein in die Verhältnisse, so wie die Menschen da auch mitten drin stehen müssen, um dem gerecht zu werden, was wir den Menschen schuldig sind und was wir als Auftrag der Kirche verstehen."

Kirche im Sozialismus – das bedeutete für die SED, dass sich die Kirche in der DDR offensichtlich mit den sozialistischen Verhältnissen arrangiert hatte. Die SED hoffte, mit Hilfe der Kirchen ihr Legitimitätsdefizit zu verringern.

"Dieser Prozess bestand seitens des Staates darin, dass er interessiert war, nach außen hin auch eine normale Beziehung zwischen Staat und Kirche demonstrieren zu können. Der DDR-Staat bemühte sich seit dem Mauerbau um internationale Anerkennung, das war außenpolitisch sein Hauptproblem. (…) und dabei war es hinderlich, wenn da ein Kirchenkampf im Lande tobte."

Dieser Kirchenkampf wurde spätestens am 6. März 1978 beendet, als der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker mit der Leitung der evangelischen Kirche, mit den Bischöfen Albrecht Schönherr und Werner Krusche sowie Manfred Stolpe, zusammentraf und eine Art Burgfrieden geschlossen wurde. Die SED kam einigen kirchlichen Forderungen zum Kirchenbau, zu religiösen Sendungen im Rundfunk, zu kirchlichen Kindergärten und Seelsorge in den Gefängnissen entgegen und respektierte eine gewisse Autonomie der Kirchen. Rückblickend sehen Heino Falcke und Manfred Stolpe in dem Burgfrieden von 1978 die Voraussetzung, dass sich in den 80er-Jahren die Opposition im kirchlichen Raum entwickeln konnte.

"Man darf auch nicht vergessen, dass diese Akzeptanz der Kirche als selbstständige Organisation ihr dann ja die Möglichkeit gab, in ihren Räumen zu entscheiden, was dort geschieht. Also die Öffnung der Kirchen für Oppositionsgruppen, also die Öffnung für Veranstaltungen, die sich nicht unbedingt aus dem Evangelium ergeben haben."

"Es ist der Kirche in der DDR gelungen, von solchen Einmischungen des Staates in die innerkirchlichen Angelegenheiten freizuhalten und so war die Respektierung der Kirche als Kirche im Sozialismus durch den Staat und die Selbstbehauptung der Kirche als staatsfreier Raum, beides zusammen war die Ermöglichung dafür, dass die Kirche sozusagen zum Basislager der oppositionellen Bewegungen wurde, wie es Werner Schulz so schön formuliert hatte."

Ehrhart Neubert, bis Anfang der 80er-Jahre Studentenpfarrer in Weimar und Mitglied der Ost-CDU und in den 90er-Jahren Mitarbeiter der Gauck-Behörde, sieht allerdings eher formale Zugeständnisse der SED an die Kirchen. Inhaltlich – vor allem bei der Militarisierung der Gesellschaft – habe die SED mit der Einführung des Wehrunterrichts in den Schulen seit 1978 den antikirchlichen Kurs eher noch verschärft.

"Vom Kindergarten bis zum Alter, vom dem Wummi, dem Teddybär mit dem Gewehr auf der Schulter, der in den Kindergärten propagiert wurde, bis zu den Kampfgruppen für die Älteren. Militärisch machte das überhaupt keinen Sinn, aber es war eben ein Disziplinierungselement und schränkte die Freiheit ein, und daran entzündete sich die Friedensbewegung."

Die oppositionellen Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen, auch die, die sich als nicht-christlich verstanden, konnten in den 80er-Jahren den Freiraum der Kirchen nutzen. Unter dem Dach der Kirchen konnten sie ihre Ideen und Aktionen entwickeln. Ehrhardt Neubert spricht von einem Synergieeffekt zwischen den evangelischen Kirchen und den Basisgruppen.

"Die Oppositionellen haben begriffen, dass sie nicht mit Strategien und Ideen, die weit außerhalb der Kirche lagen, das in die Kirche implantieren konnten, sondern es gab eine Verschmelzung von politischen Anliegen und geistlichen Dingen oder einer politischen Spiritualität, die entstand, etwa sichtbar in den Friedensgebeten, die die ganzen 80er-Jahre über existierten."

Neben den Basisgruppen und den kirchlichen Oppositionsgruppen suchte noch eine weitere Gruppe den Weg in die Kirchen, berichtet Rainer Eppelmann.

"Die Zahl der Ausreisewilligen ist ja immer größer geworden, die waren ja auch radikaler, auch in dem, was sie tun wollten, wozu sie bereit gewesen sind, als wir. Wir wollten ja diese DDR verändern, wir hatten ja als Vorstellung, in dieser Gesellschaft zu bleiben, sie zu verändern, lebenswerter, bunter, erfolgreicher, demokratischer zu machen, und deswegen, weil wir das so anstrebten, haben wir bei all dem, was wir getan haben oder was wir uns trauten, das auch immer bedacht: Wir wollen hier bleiben."

Diejenigen, die unbedingt weg wollten, waren dagegen bereit, ein größeres Risiko einzugehen. Wer wegen seines Protestes verhaftet wurde, konnte darauf hoffen, von der Bundesrepublik frei gekauft zu werden.

"In den Verdacht durften wir nicht kommen, dass wir uns für DDR-Verhältnisse ungewohnt couragiert engagieren, weil wir in den Westen wollen. Und deshalb haben wir – bei uns in der Samaritergemeinde zumindest – zur Bedingung gemacht, ihr dürft mitkommen, ihr dürft auch reden, (…) aber das, was letztlich beschlossen wird, das entscheiden die, die hier bleiben wollen, und nicht die, die rauswollen."

Neubert: "Das eigentliche innerkirchliche Wunder fand erst im September 89 statt, als sich die Mehrheit der Kirchenleitung in einem sehr scharfen Brief an Honecker über die Zustände beschwerte, und forderte, dass die Bevölkerung und auch die Oppositionellen ernst genommen werden sollten."

In dem Brief forderte die Kirchenleitung den SED-Chef auf, mit einer offenen Diskussion, statt mit Belehrungen oder Drohungen zu reagieren. Es sollten "erkennbare Veränderungen wirksam, eine realistische Berichterstattung gestattet und Reisemöglichkeiten eröffnet werden".

"14 Tage später war in Eisenach die Bundessynode für die gesamte DDR, und auf dieser Bundessynode wurde ein Papier verabschiedet, bei der sich die Mehrheit hinter die Opposition stellte. (…) Es wurde dazu aufgerufen, die Feierlichkeiten am 7. Oktober, also 40 Jahre DDR, zu boykottieren. Und das war das Ende dieser lavierenden Kirchenpolitik der Kirche im Sozialismus."

Dass die evangelische Kirche zum "Basislager der oppositionellen Bewegungen" geworden war, wird man allerdings relativieren müssen. Nicht alle Bischöfe, Pröpste und Pfarrer hatten das Kreuz, sich der SED oder der Stasi entgegen zu stellen.

Eppelmann: "Kirche ist ja auch nicht überall so gewesen, man wird ja auch nicht von der evangelischen Kirche in der DDR sprechen können. Wenn man sich anschaut, wie viele Kirchen sind wirklich geöffnet worden für offene Jugendarbeit oder einen Friedens- oder Ökologiekreis, vor allem als der Druck auf die Kirche immer größer wurde: Hört damit auf, wir schauen uns das nicht mehr lange an. Wir sind ja auch innerhalb der Kirche eine Minderheit gewesen."

Neubert: "Es gab einzelne, die haben noch versucht zu reparieren, was zu reparieren ist. Also der Vorreiter, der mit beiden Hacken auf den Bremsen stand, war Manfred Stolpe, der hat noch bis in den November hinein mit der staatlichen Seite paktiert."

Manfred Stolpe verteidigt bis heute seinen vorsichtigen Kurs der Anpassung.

"Als die Gefahr vorhanden war, dass die Staatsmacht in einem letzten Aufbäumen hart durchgreift, Menschen inhaftiert, kirchliche Veranstaltungen entscheidend behindert, (..) da war die Linie bei einigen, auch bei mir, dass man es nicht auf die Spitze treiben sollte, dass man nicht unnötige Provokationen starten sollte, und vor allem (…) auch mit darauf zu achten hatte, dass es in der Gesellschaft keine Zuspitzungen geben sollte wie wir sie erlebt hatten 1953, wie wir sie erlebt hatten 1963, immer mit dem traurigen Ausgang, wenn es Anlass gibt zum Zuschlagen für die Staatsmacht, dann ziehen diejenigen, die etwas verändern wollen, die Freiheit wollen, den Kürzeren."

Doch im Herbst 89 zog die Staatsmacht den Kürzeren. Hundertausende zogen durch die Straßen von Leipzig, Dresden, Berlin, Erfurt oder Rostock.

Falcke: "Wenn man es als Christ miterlebt und beurteilt hat, dann war in dieser Selbstbefreiung des Volkes, sah man da eine theologische Dimension: Wo Menschen frei werden, ist Gott mit drin. Das ist meine theologische Überzeugung. Die Bibel ist ein einziges Dokument von Befreiungsbewegungen, Befreiungen einzelner und Befreiung eines Volkes, (…) und die evangelische Kirche hat – inspiriert durch die ökumenische Bewegung, also die weltweite Bewegung, ja auch inhaltliche christliche Impulse in diese Selbstbefreiung des Volkes hineingegeben."

Neubert: "1:10:00: es gab ja noch eine weitere wichtige Funktion, das war diese politische Spiritualität: die Friedensgebete, die ja auch von den Atheisten angenommen worden sind, (…) die Bedeutung dieser Friedensgebete, auch für die atheisierte Bevölkerung, die keine Verbindung mehr hatte, die eigentlich die Sprache nicht mehr verstand, die die Symbole nur noch so halbwegs identifizieren konnte, war: die Kirchen waren ja immer (…) eine Enklave in dem geschlossenen DDR-Raum, dass die sich jetzt zur Alternative auswuchs und einen vollständig anderen Kontext bot, (…) und dann werden da Gebete vorgelesen von Martin Luther King, von Dietrich Bonhoeffer und vielen anderen. Das heißt, man nimmt Anteil an einer weltweiten Spiritualität, die für Freiheit und Recht eintritt, ob das nun in Amerika ist oder in der Dritten Welt oder im Nazi-Staat, also plötzlich schrumpft die miese DDR mit ihren Einschränkungen zusammen, man ist plötzlich in einem weltweiten Kontext und da macht es nichts, dass man nichts versteht."

Falcke: "Es ist schon eine bewegende Sache, dass das Innerste des christlichen Glaubens, das Gebet nämlich, und das politische Engagement sich da so miteinander verbanden."

"Also Dona nobis pacem, wer weiß denn das schon als normaler Atheist, was das heißt, oder so ein sperriges Lutherlied: Verleih uns Frieden gnädiglich, die wissen ja nicht mal, was Gnade ist, die kennen Gnade ja nur noch aus einem schlechten Film, aber sie merken: hier hat die DDR nichts zu sagen. Die DDR ist viel zu klein, zu mies, zu verlogen, das stimmt nichts mehr, hier sitze ich richtig. (…) Diese Funktion hatte die Kirche."

"Die Gewaltfreiheit dieser Revolution ist sicher nicht allein Frucht kirchlicher Arbeit, (…) aber immerhin war doch die Friedensarbeit der Kirchen wirksam, auch in den Demonstrationen."

Innerhalb weniger Wochen wurde die Macht der SED hinweggefegt, die DDR wurde zur Geschichte. Ehrhardt Neubert prägte dafür den Begriff "protestantische Revolution". Rainer Eppelmann sagt dazu:

"Eine Zeitlang habe ich dem fast zugestimmt, weil ich dachte: Die Friedens-, die Ökologie-, die Menschenrechtsgruppen, die es in der DDR gegeben hat seit 1983, sind ausnahmslos Gruppen gewesen, die sich in Räumen der evangelischen Kirche getroffen haben, anders wäre das überhaupt nicht möglich gewesen. (…) Das ging nur, weil nach der Veranstaltungsverordnung der DDR beide großen Kirchen das Recht hatten, gottesdienstliche Veranstaltungen nicht anmelden zu müssen."

Und auch in der Übergangsphase waren die meisten Moderatoren der Runden Tische und einige Minister der letzten DDR-Regierung Kirchenleute:

"Warum? Die Kirchen – sicher die evangelische mehr als die katholische – sind die einzigen Spielwiesen für Demokratie gewesen, da gab es die einzigen freien Wahlen in der DDR, da gab es im Normalfall die freie Rede, das konnte man da auch ein bisschen probieren."

Dennoch mag Rainer Eppelmann nicht von einer "protestantischen Revolution" sprechen.

"Letztlich den Durchbruch, den hätten wir paar Hundert allein nicht geschafft, daraus musste eine Kraft werden, die das ganze Volk oder wesentliche Teile ergreift, und dann ist es weit über unseren kirchlichen Raum hinausgegangen, da musste es auf die Straße gehen. (…) und in dem Augenblick war es auch nicht mehr eine kirchliche Veranstaltung."

Dennoch: ohne das schützende Dach der evangelischen Kirchen, ohne mutige Protestanten hätte es die friedliche Revolution so wohl nicht gegeben, weiß auch der letzte DDR-Verteidigungsminister Rainer Eppelmann:

"Da sind uns Menschen ungeheuer dankbar gewesen, wir haben ihnen in einer Zeit ihres Lebens erheblich helfen können, aber die sind deshalb nicht alle zu uns gekommen."

Falcke: "Das hatten wir nie erwartet, dass das eine missionarische Veranstaltung sein würde. Die Leute identifizierten sich mit der Kirche in dieser Situation, in dieser Fragestellung, wie verändern wir diese Gesellschaft, aber eine untergründige Wirkung ist doch geblieben."

Rainer Eppelmann erzählt, Besucher aus dem Westen würden ihn zuweilen fragen, warum denn nach 89 die Menschen nicht wieder in die Kirche eingetreten seien, die Jugendlichen sich nicht in Scharen hätten konfirmieren lassen.

"Dann sage ich: warum sollen die denn zur Konfirmation oder zur Firmung gehen, schon ihre Eltern haben nie eine Kirche von innen gesehen. Da müssten wir viel mehr einladend, berauschend einladend sein, dass die sagen: Die machen alle so einen glücklichen, zufriedenen, so einen fröhlichen Eindruck, das imponiert mir so, was die da machen. Da will ich unbedingt mit dabei sein, und das haben wir noch nicht gepackt. Am Ende der DDR war es ungeheuer einfach, für Christen und Nicht-Christen alternativ einladend zu sein. Da gab es nichts Anderes. Aber heute gibt es eine Wahnsinnspalette, wo sich der einzelne engagieren kann, und da ist für viele Menschen Kirche nur einer unter vielen."