"Die Revolution hat in Tunesien immer noch sehr gute Chancen"

Amor Ben Hamida im Gspräch mit Klaus Pokatzky · 05.08.2011
Der in der Schweiz lebende tunesische Schriftsteller Amor Ben Hamida glaubt an eine gute Zukunft für sein Heimatland. Die jetzigen Verhältnisse seien im Rahmen des Erwartbaren. Es sei illusorisch zu glauben, die Hürden von Diktatur zu Demokratie in wenigen Monaten überwinden zu können.
Klaus Pokatzky: Was haben wir uns gefreut, als vor mehr als einem halben Jahr zur Jahreswende vor allem junge Menschen, also die Twitter- und Facebook-Generation in Tunesien massenhaft auf die Straße gegangen ist! Jasmin-Revolution haben wir westlichen Journalisten das gerne genannt, eine friedliche Revolte, benannt nach der Nationalblume Tunesiens. Eine Revolte, die einen arabischen Frühling keimen ließ. Journalisten können ganz schön poetisch sein.

Gar nicht poetisch sind die Massaker, die das syrische Regime in diesen Tagen gegen die eigene Bevölkerung verübt, und auch, was wir jetzt aus Tunesien hören, klingt nicht nach Blütenträumen. Die Jugend will weg aus dem Land, sie hat nicht genug Geduld und Zuversicht in die Zukunft, ihr fehlen die wirtschaftlichen Perspektiven.

Amor Ben Hamida begrüße ich nun am Telefon, den tunesischen Schriftsteller, der seit Kindesjahren in der Schweiz lebt. Guten Morgen, Herr Ben Hamida!

Amor Ben Hamida: Guten Tag und as-salamu aleikum!

Pokatzky: Ist die Jasmin-Revolution schon verdorrt, Herr Ben Hamida?

Ben Hamida: Nein, das glaube ich persönlich nicht. Ich halte sehr engen Kontakt zu Tunesien und es war zu erwarten, und wie Sie es eingangs gesagt haben, Journalisten können sehr poetisch sein, sie können aber teilweise sehr destruktiv sein. Ich lese Berichte hier in Europa vor allem, wonach Chaos noch herrscht und sehr viel Gewalt herrscht, wie wenn das nicht zu erwarten gewesen wäre. Ich glaube, die Revolution hat in Tunesien immer noch sehr gute Chancen, es sind Pläne da und man hält sich an diese Pläne, aber selbstverständlich gibt es Unerwartetes. Und weil wir damit keine Erfahrung haben, damit hätten wir eigentlich rechnen müssen.

Pokatzky: Also, wenn Korrespondenten jetzt berichten, vor allem die jungen Leute wollten weg, nichts als weg, egal wie, nur weg, dann halten Sie das wieder für journalistische Poesie?

Ben Hamida: Das Gegenteil von Poesie vielleicht ...

Pokatzky: ... Prosa ...

Ben Hamida: Genau! Ich denke, die Jungen hatten schon immer den Drang nach Europa, das ist nichts Neues. Jetzt hat sich ja die Lage verschärft im Vergleich zu vor einem Jahr, das muss man klar sagen, die Leute haben immer noch keine Jobs, sie warten immer noch auf Investitionen aus dem In- und Ausland, die Lage ist immer noch kompliziert, unsicher, wir haben keine definitive Regierung. Und somit ist dieses Gefühl nach "Ich will abhauen, ich will endlich arbeiten und Geld verdienen" nur verschärft worden.

Aber ich sage noch mal: Damit musste das Volk rechnen. Und viele Menschen verstehen das ja auch, es ist ja nicht eine Mehrheit, die da weg will, es sind viele junge Menschen, aber sehr viele Leute kennen das Problem, wussten von Anfang an, dass das nicht so einfach wird. Die Revolution war euphorisch, sie ging sehr schnell vor sich, aber jetzt kommt die Realität. Und mit der müssen auch die jungen Menschen in Tunesien zurechtkommen erst.

Pokatzky: War die Revolution auch in unserer westlichen Wahrnehmung zu euphorisch, haben wir uns selbst auch etwas belogen? Also, wir westlichen Medien vor allem haben ja auch diesen lyrischen Begriff der Jasmin-Revolution geprägt.

Ben Hamida: Es war vielleicht sehr überraschend, vielleicht, weil es die erste Revolution war, jetzt in dieser Phase. Die anderen, das wissen wir, die waren ja sehr hart. Schon Ägypten danach war länger, Libyen sowieso und Syrien ist eine Katastrophe. Aber trotzdem glaube ich, es war berechtigt, diese Euphorie auszudrücken und zu sagen, Tunesien kann es schaffen.

Anhand verschiedener Elemente, die sich abgezeichnet haben, zum Beispiel die Verfassung, die eingehalten wurde, das Militär, das nirgends die Bevölkerung angegriffen hat. Es waren gute Ansätze, jetzt aber kommt wirklich der Alltag und die Leute werden mürbe und müde von diesen Gesprächen und von diesen Ideen und wir wollen dies und wir wollen jenes in der Zukunft. Sie wollen viel, viel schneller das Hauptproblem lösen, nämlich: Jobs.

Im Grunde genommen könnte man heute ein paar Milliarden endlich investieren, in Tunesien würden sehr viele junge Leute das mit Europa vergessen. Sie wissen, dass sie hier eigentlich keine Chance und keine Zukunft haben, aber leider ist im Moment halt der Alltag sehr, sehr hart für sehr viele junge und auch weniger junge Leute.

Pokatzky: Weil ja wirtschaftlich, Herr Ben Hamida, wirtschaftlich ist es ja nicht nur nicht besser geworden, wirtschaftlich ist es ja schlechter geworden. Die Touristen bleiben ja aus. Im letzten Jahr sind es gut vier Millionen Europäer gewesen, die nach Tunesien gereist sind, jetzt kommen nur noch ein paar Hunderttausend. Es ist also eingebrochen.

Wie lange dauert es, bis eine neue Regierung das wieder auffangen kann, möglicherweise mit einem Wirtschaftsprogramm?

Ben Hamida: Ich glaube auch, dass neben dem Tourismus, der wegbleibt – und es ist tatsächlich drastisch, also 30, vielleicht 40 Prozent der letzten Jahre –, neben dem Tourismus haben wir das Libyen-Problem, das uns wirtschaftlich auch sehr große Sorgen macht. Ich höre und lese, dass beispielsweise Zucker, Lebensmittel, Milch, im Süden Tunesiens haben wir sogar schon Mangel an Benzin, weil sehr viel von Tunesien nach Libyen exportiert wird und die großen tunesischen Unternehmungen teilweise mit Streiks belegt wurden. Eine sehr schwierige Situation, die Wirtschaft leidet im Moment extrem.

Und gleichzeitig kommt die Investition von Europa noch nicht – verständlicherweise, weil man ja nicht weiß, mit wem man es zu tun hat. Wir haben wie gesagt immer noch einen Übergangspräsidenten, wir haben keine definitive Regierung, wir sind also irgendwo so im luftleeren Raum im Moment. Und das ist eine sehr schwierige Phase. Es dauert bestimmt noch ein Jahr, bis wir eine Regierung, ein Parlament, einen Präsidenten haben. Und erst dann wird man auch nach außen eine gewisse Sicherheit und Definitivität aufzeigen, so, dass die Investitionen kommen.

Pokatzky: Aber die Wahlen sollen am 23. Oktober stattfinden.

Ben Hamida: Was am 23. Oktober stattfindet – das ist sehr wichtig zu verstehen –, es wird eine Kommission gebildet, die die einzige Aufgabe hat, eine neue Verfassung – also, es ist ein Verfassungsrat – zu definieren. Unsere Verfassung heute ist zwar fortschrittlich gegenüber anderen arabischen Ländern hinsichtlich Frauenrechten, Schulpflicht und so weiter, aber sie beinhaltet fast nichts über Wahlrecht, Mehrparteiensystem. Die wird erst geschrieben eigentlich mithilfe von europäischen Experten übrigens auch, und danach erst wird – also, ich rechne damit, dass das nächsten Frühling wird –, wird über die Verfassung abgestimmt, dann wird ein Präsident und ein Parlament gewählt. Also, wir werden noch mindestens bis nächsten Sommer mit einer Übergangsregierung rechnen müssen.

Pokatzky: Sie, Herr Ben Hamida, haben im Januar, also vor mehr als einem halben Jahr, hier im "Radiofeuilleton" schon einmal uns die Situation in Tunesien erklärt. Damals noch sehr viel euphorischer, aber auch mit einem leisen Zweifel, was die politische Zukunft angeht. Weil Sie haben gesagt: Ich habe Bedenken, dass die Leute dann, wenn es dann doch zur Wahl kommt, dass sie gar nicht wirklich verstehen, wie sie sich verhalten sollen.

Das wären ja die ersten echten demokratischen Wahlen im Land, was könnten wir denn tun, um Ihnen bei diesen Wahlen zu helfen? Wäre es möglicherweise eine Unterstützung für Sie, wenn die Stiftungen der großen deutschen Parteien sich in Tunesien engagieren würden und dort vielleicht sozialdemokratisch orientierte, konservative, ökologisch orientierte Parteien entsprechend unterstützen würden?

Ben Hamida: Ich bin überzeugt, da laufen gewisse Kontakte in dieser Hinsicht. Und es wäre bestimmt sehr wichtig, jetzt das zu intensivieren. Denn Sie sehen an einem einfachen Beispiel: Es haben sich bis gestern 2,3 Millionen Menschen in Tunesien, Wahlberechtigte, eingeschrieben, das ist etwa 30, 35 Prozent der Wahlberechtigten, aber da war von Anfang an eine Art Missverständnis. Also, man wird im Oktober wählen dürfen, auch wenn man sich nicht einträgt in diese Listen.

Nur, die Demokratie und vor allem das Mehrparteiensystem, mehrere Gesichter mit mehreren Programmen anzuschauen, sich zu überlegen, was bringt mir dieser Mann, was bringt mir diese Partei, das sind wir in Tunesien einfach nicht gewohnt. Auch wenn man ja die Abstimmungen verschoben hat von Juli auf Oktober, es ist immer noch zu wenig Zeit, so wie ich spüre. Die Leute konnten sich noch nicht richtig damit befassen. Da ist eben ein schwieriger Alltag nebenbei und man sollte sich jetzt mit schwerwiegenden Aufgaben – Demokratie, mehrere Parteien, mehrere Gesichter, mehrere Programme – befassen, und das wird für die Leute fast zu viel.

Ich lese jetzt hier in den europäischen Medien mehrheitlich negative Schlagzeilen wie "Die Polizei geht gegen die Jugendlichen vor", aber man vergisst zu erwähnen, dass diese Jugendlichen eigentlich Straßensperren erstellen und den Leuten ihr Geld abknüpfen und zusammenschlagen. Also, man könnte eigentlich mit etwas mehr Analyse die großen Probleme Tunesiens beschreiben: Da ist eine Bevölkerung, eine gut ausgebildete, im Schnitt gut ausgebildete Bevölkerung mit sehr schwierigen wirtschaftlichen Problemen, weil die Strukturen nicht da sind, seit Jahren wurde das Land eigentlich ausgesaugt, und jetzt müssen die Investitionen von Europa, vom Westen her, aber auch vom Inland her kommen.

Aber ich glaube trotzdem immer noch an eine gute Zukunft, wenn man den Mut hat zu akzeptieren, es sind sehr viele Hürden da! Die kann man nicht überspringen und sagen, okay, wir hatten Diktatur im Januar, jetzt ist Juli, wieso haben wir nicht Demokratie! – Das ist illusorisch!

Pokatzky: Also, außer Investitionen und nach Möglichkeit, dass möglichst viele von uns ihren Urlaub wieder in Tunesien verbringen, glauben Sie, können wir nichts tun für Tunesien?

Ben Hamida: Doch, ich glaube schon durch die solidarische Haltung neben dem Tourismus und den Investitionen, etwas mehr Mut den Tunesiern jetzt auch von da aus machen. Also, wenn ich als Auslandstunesier oder auch als Tunesier jetzt im Land lesen würde, dass in Deutschland ein Bericht erschienen ist, wonach die Chancen für uns gut sind in der Zukunft, es ist etwas schwierig, harzig, aber das ist normal, das hat jede Revolution und so weiter. Dann macht das den Leuten mehr Mut, als wenn man sagt, ja, jetzt kommen die Islamisten und dann vielleicht kommt es auch noch zum Militär und so weiter. Ich habe alles hier, alle Spekulationen gesehen, und eine realistische, eher positive Haltung, die würde uns jetzt sehr, sehr helfen.

Pokatzky: Sie selber, Herr Ben Hamida, sind ja in der Schweiz aufgewachsen, leben jetzt in Zürich und arbeiten dort. Denken Sie denn daran, irgendetwas in Tunesien jetzt zu tun?

Ben Hamida: Ich denke nicht nur daran, ich habe es schon getan. Wie Sie wissen, habe ich schon neun Bücher geschrieben, unter anderem auch ein kleines Buch über die Revolution selber, und ich habe im Juni in Tunesien einen kleinen Verlag gegründet. Einerseits aus sicher solidarischen Grünen, aber auch aus wirtschaftlichen Gründen. Ich finde, dass man jetzt, wo die Zensur vor allem im literarischen Bereich fast weggefallen ist, kann ich dort meine Bücher, die ja sowieso nicht politisch sind, eigentlich sind es Romane, die ich schreibe, über bikulturelle Beziehungen, die kann ich in Tunesien publizieren, drucken, verlegen und verkaufen. Es gibt einen wirtschaftlichen Gewinn davon.

Natürlich ist das ein kleines Projekt, aber wenn das 10.000 Leute machen – wir haben eine Million Tunesier im Ausland –, wenn das 10.000 Leute machen, da bin ich überzeugt, dass das helfen würde. Und das ist immer wieder mein Appell seit Januar: Freunde, jetzt könnt ihr für euer Land etwas tun, jetzt kann man mit relativ guter Sicherheit investieren. Man muss nicht große Beträge in die Hand nehmen, ein, zwei Arbeitsplätze schaffen, hilft extrem.

Pokatzky: Da Sie am Anfang mich auf Arabisch ja begrüßt haben, möchte ich jetzt fragen: Was heißt "Viel Glück" auf Arabisch?

Ben Hamida: Mashallah mabouk! Mashallah mabrouk, das würde bedeuten: Viel Glück, gratuliere, und einem Ausdruck eigentlich, es soll gut gehen! Mashallah mabrouk!

Pokatzky: Also sage ich jetzt: Mashallah mabrouk!

Ben Hamida: Shukran!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema