Die Rettung der Utopie

25.06.2010
Nach 1989 waren politische Utopien out, schon gar nicht wollte man die Idee des Kommunismus noch einmal diskutieren. Der französische Philosoph Alain Badiou beschäftigt sich nach wie vor mit den Grundsatzfragen nach dem Politischen.
Utopien sind out. So hieß es, fast einmütig, nach 1989: Verordnete Glücksprogramme, ideologische Zwangsjacken seien das – man habe ja gesehen, wohin das führe. Nur Wenige bewahrten sich Durchblick und Unbestechlichkeit inmitten der plötzlich modischen Ideen vom angeblichen "Ende der Geschichte" und vom Ende der Klassengesellschaft, der Idee von den Segnungen des (fast) ungezügelten Marktes und dessen Grundlage: der Demokratie des ebenso (fast) freien Wettbewerbs. Nur Wenige stellten noch Grundsatzfragen über die liebsten Mythen und Ideologien im ach so ideologiefreien Westen.

Unter dem skurrilen Titel "Ist Politik denkbar?" hielt der französische Philosoph Alain Badiou schon Mitte der 80er-Jahre zwei Vorträge, denen die eben erschienene deutsche Ausgabe den noch skurrileren Untertitel "morale provisoire", provisorische Moral, anfügt.

Beide Titel sind Programm. Für die überall im Westen herrschende Politikverdrossenheit sucht Badiou Gründe. Er findet sie in der Schrumpfung der Politik auf die "Logik der bloßen Zuteilung, der Verwaltung der gesellschaftlichen Mengenlehre". Kaum Inhalte, und schon gar keine Diskussion über Alternativen zum Bestehenden: Was nicht integrierbar sei, als Mengen und Quoten ein- und zuteilbar, das sei aus dem politischen Diskurs verschwunden.

Bürokratie, Ordnungspolitik, Institutionen, routinierte Abläufe: Dies mache die Politik heute aus. In diese Erstarrung müssten andere Erfahrungen einen Keil schlagen, um zu zeigen, dass die Möglichkeiten einer guten Gesellschaft sich nicht im Status quo erschöpfen.

Badiou nennt solche subversive Aufmischung ein "Ereignis" – sein Schlüsselbegriff für alles Sperrige, das immer wieder zum Neudenken verführe. Sein Hauptwerk "Das Sein und das Ereignis" (1988) hat er diesem Begriff gewidmet. Der jetzt auf Deutsch neu erschienene Band ist eine Vorform davon.

Die zentrale These lautet: Die Minderheit, das Marginale, das Unstimmige, die Lücken im Diskurs, eben das Problempotenzial – all dies verweist auf die schütteren und willkürlichen Grundlagen unserer ideellen und politischen Systeme, unserer kultureller Selbstverständlichkeiten.

Nur: Wo gären Grundsatzalternativen, wo werden sie noch ausgebrütet? Sie wären die Sphäre des eigentlich "Politischen" – im Gegensatz zur bloßen Politik. Vier Bereiche macht Badiou dafür aus: Kunst, Liebe, Wissenschaft und Politik.

Die Kunst ist gleichsam die Geburtshelferin des unverwirklichten, aber konkret vorhandenen Potenzials, das sie im Wortsinn vorstellt. In der Liebe ist es das Begehren, das sich einem Leben des bloßen Routinevollzugs verweigert. In den Wissenschaften sind es die großen Revolutionen, die den Wandel ganzer Wirklichkeitsbilder und Denkformen auslösen. Und der Politik müsste es um Emanzipation gehen von unverstandenen Voraussetzungen und vom blinden Vollzug unverstandener Vorgaben – sozusagen um die permanente Revolution im Medium der Meinungs- und Willensbildung. So war das Politische einmal gedacht. Heute klingt das fast wie eine Utopie. Alain Badiou will sie retten.

Besprochen von Eike Gebhardt

Alain Badiou: Ist Politik denkbar?
Herausgegeben und übersetzt von Frank Ruda und Jan Völker
Merve Verlag, Berlin 2010
168 Seiten, 15 Euro