Die positiven Seiten der Unvernunft

21.09.2010
Der Verhaltensökonom Dan Ariely untersucht in seinem Buch "Fühlen nützt nicht, hilft aber" individuelles Verhalten bei der Arbeit und zwischenmenschliche Beziehungen. Eines ist nach der Lektüre klar: Das einzig Berechenbare ist die menschliche Unberechenbarkeit.
Besitzerstolz, Kooperationsbereitschaft, blindes Vertrauen. All diese Gefühle sind uns bekannt, obwohl es sie eigentlich gar nicht geben dürfte. Zumindest nicht, wenn der Mensch das rationale Wesen wäre, als das ihn die klassischen Wirtschaftswissenschaften gerne beschreiben – ein Homo oeconomicus, der nur Entscheidungen trifft, die größtmöglichen persönlichen Nutzen versprechen.

Schon in seinem ersten Buch hat der Verhaltensökonom Dan Ariely mit seinen ebenso einfachen wie brillanten Experimenten bewiesen, dass Menschen wesentlich irrationaler urteilen und handeln, als sie es sich selbst eingestehen würden. In seinem neuen Buch "Fühlen nützt nichts, hilft aber" widmet sich Ariely verstärkt den positiven Seiten unserer Unvernunft.

Dafür untersucht er zwei große Bereiche – das Feld der Arbeit und das Feld der zwischenmenschlichen Beziehungen. Mit großer sprachlicher Leichtigkeit und Klarheit geht er der Frage nach, ob hohe Boni tatsächlich die Motivation erhöhen oder was ein Unternehmen tun muss, damit Mitarbeiter ihre Tätigkeit als sinnvoll empfinden. Er untersucht den "Ikea-Effekt", der dafür sorgt, dass Menschen sich in ihre eigenen Schöpfungen verlieben und das "Not invented here"-Syndrom, das dafür sorgt, eigene Ideen fremden vorzuziehen, auch wenn die anderen besser sind.

Das Besondere an Arielys Buch sind nicht nur die verblüffenden Erkenntnisse über das Ausmaß unserer Irrationalität, sondern die Art und Weise, mit der er seine persönliche Geschichte mit seinen Einsichten als Wissenschaftler verknüpft. Ariely erlitt im Alter von 18 Jahren schwerste Verbrennungen, 70 Prozent seiner Hautoberfläche waren zerstört. Im zweiten Teil des Buches, in dem er sich den zwischenmenschlichen Beziehungen widmet, dient seine eigene Geschichte oft als berührendes Beispiel. Warum behält jemand seinen verkrüppelten Arm, obwohl es viel vernünftiger wäre, eine Prothese zu tragen? Wie sind Attraktivität und Chancen auf dem Partnermarkt verbunden, und wie verhalten sich die "ästhetisch Benachteiligten"? Warum sind Online-Partnerbörsen so beliebt und zugleich so wenig erfolgreich?

Doch nicht nur die privaten, auch die politischen Folgen der menschlichen Irrationalität werden von Ariely untersucht. Er stellt beispielsweise fest, dass Menschen zwar von Einzelschicksalen bewegt werden, einem Übermaß an fremdem Leid aber relativ gleichgültig gegenüberstehen. Da werden Tausende für ein kleines Mädchen gespendet, das eine neue Lunge braucht, aber die Opfer einer Flutkatastrophe ignoriert, weil sie sowohl weit entfernt als auch gesichtslos sind.

Das ist Arielys wichtigstes Anliegen: Durch die Anerkennung unserer unvernünftigen Natur können wir unsere Unvollkommenheiten in Stärken verwandeln und sowohl privat als auch politisch bessere Entscheidungen treffen. Zugleich ist sein Buch ein hinreißendes Plädoyer für wissenschaftliches Denken und die Würde des Experiments und eines der seltenen Bücher, die den Leser sowohl klüger als auch nachsichtiger zurücklassen. Denn eines ist nach der Lektüre klar: Das einzig Berechenbare ist die menschliche Unberechenbarkeit.

Kurzbio: Dan Ariely wurde 1968 in Israel geboren. Als er 18 Jahre alt war, explodierte neben ihm eine Leuchtrakete und Ariely lag drei Jahre einbandagiert im Krankenhaus. Dort erwachte sein Interesse an der menschlichen Natur. Wieder genesen studierte er Psychologie und Betriebswirtschaft. Seit 1998 ist er Professor für Verhaltensökonomik am renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT). Er leitet dort u.a. die Forschungsgruppe eRationality. Zugleich lehrt er an der Sloan School of Management. 2009 erschien bei uns sein erstes Buch "Denken hilft zwar, nützt aber nichts. Warum wir immer wieder unvernünftige Entscheidungen treffen." Darin zeichnet er den Menschen als wesentlich irrationaler, als in den gängigen ökonomischen Theorien angenommen wird. In seinem zweiten Buch
"Fühlen nützt nicht, hilft aber. Warum wir uns immer wieder unvernünftig verhalten" legt er den Schwerpunkt auf die positiven Seiten unserer Irrationalität. Dan Ariely lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in Cambridge.

Besprochen von Ariadne von Schirach

Dan Ariely, Fühlen nützt nicht, hilft aber. Warum wir uns immer wieder unvernünftig verhalten, Droemer Verlag, Hardcover, München 2010, 368 Seiten, 19,99 Euro