"Die politischen Repräsentanten müssen Stellung beziehen"

Wilhelm Heitmeyer im Gespräch mit Gabi Wuttke · 22.08.2013
Die Proteste gegen ein Asylbewerberheim in Berlin-Hellersdorf zeigten ein immer wiederkehrendes Muster der Diskriminierung ganzer Gruppen, sagt Wilhelm Heitmeyer. Das trete bildungsunabhängig auf und betreffe auch Behinderte oder Obdachlose. In der Asyldebatte befeuere die Politik diese Stimmung. Politiker müssten vor Ort sichtbar sein, nicht nur die Polizei.
Gabi Wuttke: Die Bundesrepublik Deutschland wollte aus der Geschichte gelernt haben, aber der Protest gegen ein neues Flüchtlingsheim in Berlin beweist mal wieder, auch von Krieg und Gewalt vertriebene Syrer und Afghanen werden bei uns nicht mit offenen Armen empfangen. Dafür sorgen seit Tagen Rechtsextremisten, Rechtspopulisten und – eine schweigende Mehrheit. Professor Wilhelm Heitmeyer ist Gründer des renommierten Konfliktforschungsinstituts in Bielefeld. Seine Studien über Rechtsextremismus in Deutschland und die Fremdenfeindlichkeit in der Mitte unserer Gesellschaft waren Pionierarbeit und sind heute wichtiger denn je. Einen schönen guten Morgen, Herr Heitmeyer!

Wilhelm Heitmeyer: Guten Morgen!

Wuttke: Warum passiert nicht, was der regierende Bürgermeister von Berlin als Selbstverständlichkeit hinstellt, dass nämlich nur ein paar Hundert, aber nicht etwa alle Demokraten vor dem Flüchtlingsheim zusammenstehen?

Heitmeyer: Eine Menge allein macht es nicht, sondern die Haltung, und da wissen wir ja, dass es Fremdenfeindlichkeit ohne Fremde gibt, wie es in der Geschichte Judenfeindlichkeit ohne Juden gab. Und insofern ist das nicht überraschend, aber man muss natürlich darauf reagieren, denn jede Gesellschaft muss immer wieder ihre geltenden Normen bestätigen, nämlich: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Nun sehen wir in Hellersdorf, dass die Würde antastbar ist, und da muss man sehr hellhörig werden.

Wuttke: Was hat Sie besonders hellhörig gemacht an diesem Fall?

Heitmeyer: Nun, mich überrascht das nicht. Das Grundmuster ist ja immer wieder gleich. Das sind Gruppengrenzen, die aufgebaut werden, "wir" auf der einen Seite und "die" auf der anderen Seite, und das ist das, was wir in unseren Forschungen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit nennen. Dass es gar nicht um den einzelnen Afghanen oder um den einzelnen Syrer geht, sondern die Gruppe als Ganzes wird dann in die Abwertung und in die Diskriminierung hineingezogen, und das ist eigentlich das große Problem.

Wuttke: Und welche Botschaft steckt in dem politischen Appell, wer sich mit den Flüchtlingen solidarisiert, der solle, Zitat, "das friedliche Zusammenleben mit den Anwohnern nicht erschweren"?

"Das trifft auch Behinderte, das trifft Obdachlose"
Heitmeyer: Ja, also, die politischen Signale an vielen Stellen befeuern natürlich diese Stimmung. Angefangen von der europäischen Politik – Festung Europa – bis hin zu den jeweiligen Äußerungen der Abschiebepraxis. Und das große Problem scheint mir oft zu sein, dass diese Haltung ja gar nicht bildungsabhängig ist. Ich meine, wenn man im Fernsehen das Schreien von Anwohnern sieht, dann denkt man ja, denken die eigentlich nach? Aber wir kennen das aus der Vergangenheit, und deshalb sprechen wir ja auch von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit.

Es trifft ja nicht nur die Asylbewerber, das trifft ja beispielsweise auch Behinderte, das trifft Obdachlose, wenn in besseren Wohngebieten solche Heime gebaut werden, dann ist da auch der Teufel los. Also, es ist eine generelle Frage, wie man mit Menschen umzugehen trachtet in einer Gesellschaft, die von sich selbst ja immer wieder behauptet, wir seien eine humane Gesellschaft, eine soziale Gesellschaft. Aber man weiß also, das ist alles sehr dünnes Eis.

Wuttke: Aber ist es nicht immer wieder erschütternd, auch gerade für Sie als Forscher, festzustellen, dass Flüchtlinge letztlich auf einer Stufe mit einem Windrad stehen, nämlich dann, wenn es heißt, gerne, aber nicht vor meiner Tür?

Heitmeyer: Ja. Dagegen helfen meines Erachtens nur öffentliche Debatten, und die politischen Repräsentanten müssen Stellung beziehen. Das heißt, in Hellersdorf der Bezirksbürgermeister, der ja auch gewählt ist, muss sichtbar sein, und nicht nur die Polizei. Die Polizei macht ja auch dann zum Teil Angst. Und von daher geht es auch darum, dass man den Asylbewerbern auch die Möglichkeit gibt, Anerkennung zu erwerben. Das ist ja ganz wichtig. Denn der Vorwurf lautet ja immer, die liegen uns auf der Tasche, und die sind uns sowieso fremd.

Fremdheit ist übrigens nicht das Problem. Fremdheit ist für alle Menschen in einer bestimmten Situation gewöhnungsbedürftig, aber es kommen ja soziale, kulturelle und zum Teil auch religiöse Dinge dazu. Also im Hintergrund schwappt dann auch der politische Islam, und wenn dann ein Bürgermeister wie in Schwäbisch-Gmünd den Asylbewerbern die Chance gibt, sich öffentlich als Individuen zu präsentieren, und nicht nur, dass sie wahrgenommen werden als Gruppe, die vor dem Asylbewerberheim zusammenstehen, weil sie nicht arbeiten dürfen. Sie dürfen sich nicht bewegen. Das ist ja ein Teil des großen Problems, und dieses Problem hat diese Gesellschaft bei Weitem nicht gelöst.

Wuttke: Befördert denn dann Ihrer Meinung nach die Politik in Deutschland, in Europa, speziell die Asylpolitik die Vorurteile und Ressentiments gegen Menschen aus fremden Ländern?

Flüchtlinge kommen in Berlin-Hellersdorf an.
Am 19. August 2013 kamen die ersten Flüchtlinge unter Polizeischutz im Aslybewerberheim in Berlin-Hellersdorf an.© picture alliance / dpa Foto: Florian Schuh
"Diese fehlende Empathie, das ist schon ein enormes Problem"
Heitmeyer: Ja, an vielen Stellen ist dies so. Was in Italien auf der Insel Lampedusa sich abspielt, hat mit europäischer Tradition und Humanismus ja nichts mehr zu tun, und der Papst hat das ja auch noch mal verdienstvollerweise deutlich gemacht. Aber es hat sich an manchen Stellen auch etwas verändert, etwa im Vergleich zu Rostock-Lichtenhagen 1992. Das war damals eine gezielte Verwahrlosung der Umgebung dieses Asylbewerberheimes durch Behörden.

Ich glaube, das kommt so heute nicht mehr vor. Teilweise sind diese Menschen, die dort schreiend vor ihren Häusern standen und mit Drohungen gearbeitet haben oder versuchten Drohungen – das sind ja versuchte Machtdemonstrationen, denn ein Teil dieser Menschen sind ja auch nicht gesellschaftlich integriert, das heißt, sie haben auch Anerkennungsdefizite. Und wenn ich selbst nicht anerkannt werde, dann erkenne ich auch andere nicht an. Wenn dann auch noch soziale Differenzen, kulturelle und religiöse Differenzen hinzukommen. Also die Situation ist nicht einfach, aber sie muss natürlich bearbeitet werden. Und nicht nur allein durch eine Polizeihundertschaft.

Wuttke: Aber auch bildungsnahe Schichten haben ja ganz offensichtlich, obwohl es kein Thema gibt, über das in den letzten Jahren so viel berichtet wurde wie über den Arabischen Frühling und die Folgen, die Entwicklung, die es genommen hat, weshalb ja zum Beispiel jetzt auch die Syrer hier in Deutschland sind – dass es so wenig Empathie gibt!

Heitmeyer: Ja. Wenn in besseren Wohngebieten Heime für Behinderte, für Obdachlose gebaut werden, dann gibt es, natürlich in feinerem Stil sozusagen, aber mit ähnlichem Effekt, diese fehlende Empathie, sich in die Situation – Empathie heißt ja, sich in die Situation von anderen hineinzuversetzen – das alles ist schon ein enormes Problem. Ich fürchte, es wird auch noch schlimmer, weil die Anonymität des Internets uns in den nächsten Jahren wahrscheinlich noch mehr Schwierigkeiten bereiten wird, weil da neue Strategien der Mobilisierung getan werden, die man kaum beherrschen kann.

Wuttke: Sagt der Gewaltforscher Professor Wilhelm Heitmeyer im Interview der Ortszeit von Deutschlandradio Kultur. Herr Heitmeyer, besten Dank!

Heitmeyer: Bitte sehr!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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