Die Panik vor der Problemschule

Patrick Bauer im Gespräch mit Susanne Führer · 16.11.2011
Auf die Suche nach seinen Klassenkameraden hat sich Patrick Bauer gemacht. Da er in Berlin-Kreuzberg mit vielen Migrantenkindern zur Schule ging, sind die Lebenswege bunt verlaufen - und sehr unterschiedlich, je nach Elternhaus.
Susanne Führer: Wahrscheinlich hat ja jeder von uns schon mal an Mitschüler von früher gedacht und sich dann gefragt, Mensch, was mag wohl aus der Sabine geworden sein, was macht wohl Martin heute, was machen die alle? Manche recherchieren im Internet, andere machen sich persönlich auf die Suche und schreiben dann ein Buch darüber. Das hat der Redakteur der Zeitschrift "Neon", Patrick Bauer, getan. Sein Buch heißt "Die Parallelklasse: Ahmed, ich und die anderen – Die Lüge von der Chancengleichheit". Tag, Herr Bauer, schön, dass Sie da sind.

Patrick Bauer: Guten Tag!

Führer: Der Titel des Buches deutet ja schon an, dass Ihre ehemalige Grundschulklasse in Berlin-Kreuzberg, um die geht es nämlich, dass das zumindest aus heutiger Sicht eine besondere Schulklasse war, denn die war sozial vollkommen gemischt. Wer war denn da so in Ihrer Klasse?

Bauer: Da waren die Kinder, die in der Gegend wohnten, in der die Grundschule stand damals in Berlin-Kreuzberg, das heißt, Kinder aus ganz unterschiedlichen Elternhäusern, Kinder von türkischen Einwanderern, Kinder von deutschen Eltern, die eher sozial schwächer gestellt waren, Kinder von Akademikereltern, so wie ich.

Führer: Und 20 Jahre nach der Einschulung haben Sie sich dann auf die Suche nach Ihren ehemaligen Mitschülern gemacht und mal geguckt, was machen die so heute. Und, kann man das Ergebnis irgendwie zusammenfassen?

Bauer: Ja, es zeigt sich, was ich auch schon erwartet hatte, dass natürlich nach der sechsten Klasse eine große Trennung stattfand. Also wir waren wirklich eine Klasse, die sich gut verstand, in der diese sozialen und kulturellen Unterschiede keine Rolle spielten. Nach dem Übergang in die weiterführenden Schulen hat sich das getrennt, also jemand wie mein Freund Ahmet damals, der kam dann nicht aufs Gymnasium. Und ich habe festgestellt jetzt bei meiner Recherche, dass man sagen kann, dass eigentlich die meisten Kinder, die aus nichtdeutschen Elternhäusern stammten, Probleme hatten, nicht nur schon in der Grundschule, was mir damals nicht auffiel, sondern auch dann im weiterführenden Schulleben.

Also sie kamen eigentlich nirgendwo dort an, wo die deutschen Kinder aus besser gestellten Familien ankamen. Das heißt, was mein Fazit war: Es ist nicht nur eine Frage der Herkunftsländer der Eltern – da gibt es natürlich spezifische Probleme, die eine Rolle spielen, ich denke da an die Identitätskrisen, die eigentlich alle verspürt haben, mit denen ich gesprochen habe –, es geht vor allem aber auch um eine soziale Herkunft, das heißt, auch deutsche Schüler, deren Eltern wenig Bildung und wenig Geld zu Hause anzubieten hatten, hatten es schwer im weiteren Leben.

Führer: Also das ist eigentlich das Entscheidendere? Also jetzt, weil die Parallelklasse, da denkt man ja, okay, es geht jetzt also Anspielung auf die Parallelgesellschaft, schon klar, Sarrazin und so weiter, aber es geht gar nicht so sehr um die nationale, sondern um die soziale Herkunft?

Bauer: Vor allem geht es um die soziale Herkunft. Es hat sich einfach erschreckenderweise für mich gezeigt, dass der soziale Aufstieg in Deutschland, das zeigen ja auch diverse Studien, schwieriger ist als in den meisten anderen westeuropäischen Ländern. Es hat sich aber auch gezeigt, dass natürlich Kinder von Gastarbeitern, wie man sie damals genannt hat, es noch mal doppelt schwer haben. Erstens sind ihre Eltern klassische Arbeiterhaushalte, zweitens verspüren sie natürlich auch so eine Zerrissenheit zwischen der Türkei und Deutschland, obwohl sie alle eigentlich in Deutschland geboren wurden.

Obwohl sie einen deutschen Pass besitzen heute, haben sie eigentlich von ihren Eltern nicht nur das Arbeiterleben geerbt, sondern eben auch diese Identitätskrise, von der ich gerade gesprochen habe. Also ich war da ganz überrascht: Selbst türkischstämmige Kinder, die quasi später auf die Uni kamen – ich denke da an jemanden, der heute als Architekt arbeitet –, selbst der sagt: Ich werde wahrscheinlich in die Türkei gehen, um dort zu arbeiten, denn in Deutschland bin ich in den Architekturbüros immer der Türke. Das Traurige ist: In der Türkei wird er der Deutsche sein. Er steht quasi zwischen zwei Kulturen. Das heißt, man muss sagen, die soziale Herkunft, die so wichtig ist, ist bei diesen Menschen noch mal verstärkt worden durch diese kulturelle ethnische Herkunft, die es ihnen doppelt schwergemacht hat.

Führer: Und der Ausweg, den dann ja viele wählen, ist, dass sie sagen, ich bin nicht Türke, ich bin nicht Deutscher – ich bin Kreuzberger.

Bauer: Genau, und das ist für mich auch so ein Hinweis darauf, wo man die Probleme anpacken kann: Die Leute suchen ja nach einer Identität und sie suchen auch nach einer Beteiligung und sie suchen nach einer Heimat.

Führer: Sie schreiben in Ihrem Buch, Herr Bauer, dass es heute so eine Schulklasse wie Ihre damals wohl nicht mehr gäbe, also einfach gar nicht mehr gibt. Sie haben ja auch Ihre ehemalige Schule besucht, und das fand ich ja so einen erschütternden Befund, weil auf der einen Seite die Schule sozusagen einen Abstieg durchgemacht hat in dem Sinne, dass da sehr, sehr viele Kinder, wie heißt das, ndH-Kinder, nicht deutscher Herkunftssprache sind, aber gleichzeitig das Umfeld um die Schule ist total aufgeblüht.

Bauer: Das war eigentlich das Verwunderndste für mich an dieser ganzen Recherche, dass Kreuzberg im Vergleich zu der Situation vor 20 Jahren ein sehr lebenswerter Bezirk geworden ist, ein sehr teurer Bezirk auch, ein Bezirk, in den deutsche Mittelschichtseltern, junge Menschen ziehen, gleichzeitig ist diese Schule eben so abgestürzt, kann man schon sagen, also mittlerweile über 70 Prozent dieser ndH-Kinder – was ja erst mal kein Problem ist, aber was natürlich gewisse Probleme mit sich bringt. Das liegt vor allem daran… der Soziologe Heinz Bude hat das dieses Jahr in einem Buch die "Bildungspanik" genannt, das heißt, besser gestellte deutsche Eltern wollen nicht, dass ihre Kinder, obgleich sie in einem multikulturellen Bezirk wie Kreuzberg aufwachsen, an der Schule mit multikulturellen Klassen konfrontiert sind.

Das heißt, man hat in Kreuzberg jetzt so vier, fünf Grundschulen, an denen der Anteil deutscher Kinder sehr hoch ist, an die die Eltern verzweifelt versuchen, zu kommen, gleichzeitig hat man Schulen wie die meinige, die natürlich darunter leiden, weil die Lehrer dort ziemlich frustriert sind, weil die Gelder dann dort auch knapp sind und weil man eben nicht nur mit diesen ndH-Kindern arbeiten muss, die oft aus Familien kommen, in denen eben schlechter, wenig deutsch gesprochen wird, sondern eben auch mit deutschen Kindern zu tun haben, die aus sozial schwachen Haushalten stammen, das heißt, man so richtige Abgehängten-Schulen gebildet.

Führer: Deutschlandradio Kultur, ich spreche mit dem Journalisten Patrick Bauer, er hat das Buch "Die Parallelklasse" geschrieben. Herr Bauer, eigentlich ist das ja ein erschütternder Befund, weil man daran sieht, also so in dieser Nussschale Berlin-Kreuzberg, dass die sozial Schwächeren hier bei uns sozusagen doppelt in die Zange genommen werden: Einmal lässt man sie allein in der Schule, unter sich, sodass wenig Gelegenheit besteht, von anderen zu lernen, die es vielleicht ein bisschen leichter haben, und sie werden auch noch aus ihrem angestammten Viertel im Grunde genommen vertrieben, denn dieses vornehme Wort Gentrifizierung bezeichnet ja genau das, die Mieten werden für die Menschen, die da bisher gewohnt haben, irgendwann unbezahlbar.

Bauer: Absolut, und das sorgt dann auch dafür, dass ich viele getroffen habe von damals, die noch zu Hause oder wieder zu Hause wohnen, weil, da haben wir gerade drüber gesprochen: Sie sind überzeugte Kreuzberger, sie wollen in Kreuzberg bleiben, können sich aber keine eigene Wohnung leisten, weil sie entweder sehr wenig verdienen oder gar keinen Job haben. Das sorgt natürlich auch wieder dafür, dass diese Menschen sich nicht emanzipieren, dass sie weiter in dieser Rolle bei ihren Eltern verhaftet bleiben und gar keinen großen Zugang zu dieser Gesellschaft vor der Haustür finden.

Führer: Sie beschreiben eine Szene, die ich besonders erschütternd fand: Ein Freund in München – da geht es darum, dass das Kind eingeschult werden soll und die Schule rückt einfach nicht raus mit der Zahl, wie viele ausländischstämmige Kinder denn in der Klasse sind, und dann gehen er und seine Frau los und zählen auf den Fotos die Zahl der ausländisch aussehenden Kinder. Da wird einem wirklich ja ganz anders. Und trotzdem hält sich dieser Freund für einen sehr liberalen, toleranten Menschen, der sagt, ich habe nichts gegen Ausländer.

Bauer: Das hat mich auch erschüttert. Also da hat sich bei den Menschen im Kopf eingebrannt dieses Bild von Problemschulen, die Problemschulen sind, weil dort zu viele Kinder von vermeintlichen Ausländern zur Schule gehen. Und natürlich sagt das überhaupt nichts aus, wenn jemand türkisch aussieht oder arabisch oder eine dunkle Hautfarbe hat, wie gut der in der Schule ist. Und wie ich gerade auch schon gesagt habe: Alle dieser Kinder aus meiner Grundschulklasse haben einen deutschen Pass, das heißt, sie sind Deutsche, wir behandeln sie aber nach wie vor, als wären sie Gastarbeiter.

Führer: Ja. Aber dieser Freund ist ja sozusagen nur eine Szene dafür, was Sie gerade beschrieben haben: Die Menschen ziehen nach Kreuzberg, die finden das schön, dieses multikulturelle Flair, aber bitte nicht in der Schule. Und da bin ich drauf gekommen: Wie kann es denn angehen, dass die toleranteste, aufgeklärteste Generation, die es in Deutschland je gegeben hat, in der Praxis so eine Politik der Apartheid betreibt? Anders kann man es ja nicht nennen, oder?

Bauer: Absolut, und das ist ja auch eine Entsolidarisierung. Ich glaube, es liegt daran, dass jeder Einzelne mehr als vor 20 Jahren Angst hat, abzusteigen. Also das ist ja die vielbeschriebene Angst der Mittelschicht vor dem Absturz. Und gegen wen tritt man dann? Gegen die, die unter einem sind, und nicht gegen die, die über einem sind. Also man könnte sich ja auch dafür engagieren, dass alle Schulen – alle staatlichen Schulen, nicht die Privatschulen, auf die man jetzt schon seine Kinder schickt –, dass die so gut ausgestattet und von der Politik so gefördert werden, dass dort jeder sein Kind hinschicken will. Und ich mache jetzt auch gerade diesen Kreuzbergern, die ihre Kinder dort nicht zur Schule schicken wollen, wo alle ihre Kinder zur Schule schicken, zum Vorwurf, denn man kann ja nicht sagen, einerseits mag ich diesen Bezirk, weil ich um die Ecke beim türkischen Gemüsehändler mein Obst und Gemüse kaufen kann, gleichzeitig möchte ich nicht, dass seine Kinder mit meinen Kindern spielen. Das ist eine Schizophrenie, die ich nicht gelten lassen kann.

Führer: Ja, aber wie konnte es so weit kommen? Die Frage stellen Sie ja auch.

Bauer: Ich glaube, es kam so weit erst mal durch dieses Klima der Angst, was in der Gesellschaft herrscht, zweitens durch eine Schul- und eine Integrationspolitik, die auch gleichzeitig diesen ndH-Kindern, wie sie heute heißen, nie das Gefühl gegeben hat, dazuzugehören. Das heißt, man hat schon von Anfang an eine Trennung herbeigeführt durch die Politik und auch durch die kleinen Handlungen an Schulen, also ich erinnere mich da beispielsweise an eine Klassenliste, die ich wiedergefunden habe aus unserer Schulzeit, da stand dann plötzlich noch hinter der Telefonnummer jedes einzelnen Schülers ein Kasten "Nationalität", und da stand dann türkisch, libanesisch, jugoslawisch, obwohl wie gesagt alle Kinder deutsch waren.

Das heißt, man hat von Anfang an auch die frühkindliche Förderung verpasst, man hat auch von Anfang an verpasst, diesen Schülern das Gefühl zu geben, dazuzugehören, und man hat eben auch den deutschen Eltern immer mal wieder diesen Hinweis gegeben, dass es ein Problem sei, wenn viele Kinder, die im Elternhaus nicht deutsch sprechen, an eine Schule gehen. Und man hat nie darauf hingewiesen, dass es ja auch eine Bereicherung ist – und ich habe es als eine Bereicherung empfunden damals.

Führer: Aber was ist die Lösung? Sie sind ja jetzt auch junger Vater. Sie wohnen jetzt in Berlin-Neukölln, sozusagen das Kreuzberg von morgen, und Sie würden Ihren Sohn wahrscheinlich auch nicht in eine Klasse geben, wo 80 Prozent ndH-Kinder sind.

Bauer: Ja, also ich bin da immer vorsichtig, weil die Lösungen, die mir einfallen und die ich auch beobachten kann in meinem Umfeld, sind private, kleine Lösungen. Also man kann beispielsweise, das machen viele Eltern in Neukölln, was ja mittlerweile auch ein lebenswerter Bezirk ist, dass sie mit Freunden zusammen so 10, 15 Kinder in einer Klasse einschulen und dann damit schon mal gewährleisten, dass die Mischung in dieser Klasse stimmt, also dass dann eben 15 andere Schüler da hinkommen, die aus anderen Elternhäusern stammen. Das kann man machen, aber das klingt ja so, als würde man die Politik aus der Verantwortung lösen. Ich würde sagen: Schauen wir in Bundesländer wie Rheinland-Pfalz und sind wir strenger dabei, wer sein Kind wohin auf die Schule schicken muss. Also wenn man in einer Straße wohnt, dann schickt man sein Kind gefälligst auch auf die nächstbeste Grundschule, und damit hätte man in Kreuzberg jedenfalls gewährleistet, dass die Mischung an jeder Schule stimmt, denn die Mischung im Bezirk stimmt ja eigentlich noch, wenn die Gentrifizierung nicht weiterschreitet.

Führer: Patrick Bauer, der Autor des Buches "Die Parallelklasse", es ist bei Luchterhand erschienen. Ich danke Ihnen für den Besuch im Studio, Herr Bauer!

Bauer: Vielen Dank!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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